Kapitel 4

Dumbledore tauchte am nächsten Tag im Grimmauld Platz Nummer 12 auf. Sie setzten sich in die Bibliothek – das schien wohl allgemein der passendste Ort im Haus für Gespräche zu sein.

Snape saß steif in einem der Sessel. Er schaute Dumbledore erwartungsvoll an, nervös und angespannt zugleich.

Dieser strich sich nachdenklich durch seinen Bart. „Zuerst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, was Ihnen hier widerfahren ist, Mr. Snape. Ich habe von dem Irrwicht gehört und bin froh, dass es Ihnen scheinbar gut geht. Sie mit dieser Kreatur einzusperren war absolut nicht beabsichtigt und ich hoffe, dass Sie mir dies glauben. Ich bin nicht wie Voldemort-", er ignorierte Snapes Zusammenzucken, „- Angst und Schmerz bereiten mir keine Freude."

Snape sagte nichts, war allerdings mittlerweile tatsächlich geneigt zu glauben, dass die Anwesenheit des Irrwichts weder vom Orden geplant, noch ein Streich von Black gewesen war.

Dumbledore fuhr fort. „Ich muss zugeben, dass Ihre Anwesenheit mich vor ein Dilemma stellt. Ich bin Ihnen unglaublich dankbar, dass Sie James gerettet haben und würde nichts lieber tun, als Sie als freien Mann hier gehen zu lassen, doch das geht aus offensichtlichen Gründen nicht. Sie kennen mittlerweile die Identität einiger Ordensmitglieder und auch den Standort unserer Basis. Ich könnte Sie obliviaten, doch ohne haltbare Informationen über uns hätten Sie nichts in der Hand, um Voldemort zu beschwichtigen und wären innerhalb weniger Stunden tot. Sie könnten höchstens das Land verlassen. Das ist Option Eins. Option Zwei wäre, dass Sie sich uns anschließen. Wir können Sie hier schützen und zusammen gegen Voldemort vorgehen."

Snape schnaubte abfällig. Dumbledore lächelte freudlos. „Ich dachte mir schon, dass Option Zwei Ihnen nicht zusagen wird. Weshalb wir bei Option Drei wären. Der einzige Ausweg, der mir noch für Sie einfällt. Eine Lösung, bei der Sie sowohl sicher vor Voldemort wären, als auch – soweit es geht – ein freier Mensch und nicht in der Gefangenschaft des Ordens." Snape lehnte sich gespannt nach vorne. Er hatte sich selbst das Gehirn zermartert, doch war er sich sicher gewesen, dass solch eine Lösung nicht existierte. „Was ist Option Drei? Spucken Sie es aus, Dumbledore."

Dumbledores Augen funkelten und Snape wusste, dass es nicht an der Spiegelung des flackernden Kaminfeuers lag. „Wissen Sie, Professor Slughorn jammert schon seit Jahren, dass er langsam zu alt wird für den Trubel in Hogwarts. Er möchte sich zur Ruhe setzen und seine Rente genießen. Leider habe ich noch keine geeignete Person gefunden, die seine Stelle einnehmen könnte. Es ist so schwer heutzutage gute Zaubertrankbrauer zu finden."

Snape fiel die Kinnlade nach unten. „Sie wollen mich nach Hogwarts holen?! Als Lehrer?!" Nicht einmal Potters Namen hätte er in diesem Moment verächtlicher ausgesprochen als das letzte Wort. „Haben Sie den Verstand verloren?"

Dumbledore lehnte sich entspannt zurück. „Mitnichten, Mister Snape. Ich denke sogar, dass dies eine der besten Ideen ist, die mir in letzter Zeit gekommen ist."

„Dann müssen die anderen Ideen wirklich haarsträubend schlecht gewesen sein", meinte Snape angewidert. „Sie wollen einen Todesser auf Ihre geliebten Schüler loslassen? Sie denken, ich wäre geeignet, um mich in einen Klassenraum zu stellen? Ich habe nicht einmal meine Ausbildung abgeschlossen!"

Dumbledore winkte ab. „Nur Ihre Spezialisierung nicht. Die drei Jahre Grundausbildung haben Sie mit Auszeichnung bestanden." Snape fragte sich, woher der alte Mann das wusste. „Und das Wissen davon reicht vollkommen, um die Schüler auf ihre UTZs vorzubereiten."

„Meine Qualifikation mal bei Seite genommen- ich wiederhole mich nur ungern, aber Sie wollen einen Todesser nach Hogwarts holen!?"

Snape war fassungslos. Absolut und vollständig fassungslos.

Dumbledore blickte ihn über seine Halbmondbrille hinweg an. „Ich würde sagen, Ihre Kündigung bei Voldemort wurde automatisch eingereicht, als sie seine rechte Hand ausgeschaltet und James aus dessen Händen befreit haben. Das macht Sie also eher zum Ex-Todesser. Natürlich –„ und jetzt wurde sein Ton schneidender „- werde ich darauf aufpassen, dass Sie die Schüler mit der gebührenden Sorgfalt behandeln, egal wie ihr Blutstatus auch aussieht. Und auch Voldemorts-Propaganda sollte nicht Thema Ihres Unterrichts sein…Dennoch." Snape fühlte sich von DUmbledores Blick förmlich seziert. „Ich möchte Ihnen eine Chance geben. Ich halte Sie nicht für einen bösen Menschen, Mister Snape. Ihre Taten haben bewiesen, dass in Ihnen sehr viel Gutes steckt. Ich denke nur, dass Ihnen einmal zu oft die Wahl, sich für das Gute zu entscheiden, genommen worden ist. Dafür sollten Sie nicht das Land verlassen müssen oder unter Voldemorts rachsüchtigen Händen sterben. In Hogwarts werden Sie in guten Händen sein. Solange ich Schulleiter bin, wird Voldemort dort niemals an Sie herankommen. Und ich denke auch, dass das Schloss Ihnen gut tun wird. Die ganze Sache wäre für uns beide von Vorteil: Ich bekomme einen neuen, kompetenten Zaubertranklehrer und Sie ein für den Moment sicheres, produktives und einigermaßen unabhängiges Leben. Wer weiß, vielleicht blühen Sie unter der Lehrertätigkeit ja regelrecht auf."

Wer es glaubt, wird selig, du alter Narr.

Snape ließ sich das Szenario durch den Kopf gehen. Doch es gelang ihm nicht so recht. Bei Merlins haarigen Eiern – er und Lehrer! Eine absolut haarsträubende Idee. Aber was für eine Wahl hast du?, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Nun ja, keine. Er hatte absolut keine andere Option. Das Land verlassen würde er auf keinen Fall. Er wollte nicht sein Leben lang in Paranoia leben, jeden Stein umdrehen müssen aus Angst, ein Anhänger des Dunklen Lords könnte darunter lauern. Und hier im Grimmauld Platz in Gefangenschaft leben. Wie lange würde er durchhalten, bevor er versuchen würde, sich in der Badewanne zu ertränken?

Er hatte sowieso nichts anderes, zu dem er zurückkehren konnte. Sein Haus war abgebrannt, seine Ausbildung würde er bei einem von Voldemorts treuesten Anhängern nie und nimmer fertig machen können. Die Welt außerhalb von Dumbledores Kontrolle bedeutete für ihn Gefahr.

Hogwarts war das einzige, was ihm noch blieb.

Absolut kochend vor Wut stand er auf und fing an, unruhig auf und ab zu tigern. Doch so sehr er auch versuchte einen Haken zu finden oder eine andere Lösung…nichts. Er hatte nichts mehr.

„Sei verflucht, Dumbledore!", rief er und konnte sich gerade so zurückhalten, seine Haare zu raufen. „Du weiß, ich habe keine andere Wahl!"

Dumbledore sah viel zu belustigt aus für seinen Geschmack. „Also deine Antwort ist-"

„Zwing mich nicht, es auszusprechen! Spätestens nach der ersten Woche, in der die Schüler dir jammernd die Ohren über mich vollheulen, wirst du dein Angebot noch bereuen!"

„Ich freue mich schon darauf!", meinte Dumbledore und hielt ihm erwartungsvoll die ausgestreckte Hand hin. Snape sah darauf, als wäre sie ein totes Insekt, bevor er langsam die eigene hob und Dumbledore und er sich die Hände schüttelten. „Dann ist es entschieden", sagte Dumbledore zufrieden. „Nun, Severus – ich hoffe es ist in Ordnung, wenn ich dich Severus nenne, immerhin sind wir bald Kollegen – ich würde sagen, dann solltest du dich ans Koffer packen machen. Ich komme morgen wieder und hole dich ab. Jetzt muss ich erst einmal nach Hogwarts und meinem derzeitigen Zaubertrankprofessor die gute Neuigkeit mitteilen. Er wird sich sicherlich darauf freuen, dich einzuarbeiten. Ich habe ein wirklich gutes Gefühl bei der ganzen Sache."

„Lustig, ich habe das Gefühl, dass deine vielen Jahre dich langsam einholen und du in einem Altersheim besser aufgehoben wärst."

„Rührend, dass du dich so um mich sorgst. Wir sehen uns morgen, Severus."

Und damit war die Sache beschlossen.

….

„…und in ein paar Wochen wirst du das mit links machen. Du wirst schon sehen." Snape hatte schon vor einigen Minuten aufgehört, Slughorns ewigem Gebrabbel zu lauschen.

Wieder unter den Fittichen seines alten Hauslehrers sein zu müssen, war etwas…unangenehm. Gelinde gesagt.

Er merkte auch an den Blicken des Professors, dass dieser nicht so recht wusste, wie er Snape einordnen sollte. Dumbledore hatte ihn wohl nicht in die Geschehnisse eingeweiht – ein Mitglied des Ordens war er auf keinen Fall. Dafür war er zu feige. Legte sich zu ungern mit wichtigen Leuten an. Aber Slughorn war sichtlich erfreut darüber, ein baldiges Datum für seinen Ruhestand in Sicht zu haben. Hatte Snape strahlend begrüßt und ihm direkt versichert, dass er es gar nicht abwarten könne, Snape alles zu zeigen, was er wissen musste. Am nächsten Tag sollte Snape sich das erste Mal mit in den Unterricht setzen – als „Assistent", wobei er sich bei diesem Begriff zusammenreißen musste, um Slughorn seinerseits nicht viel kreativere Bezeichnungen an den Kopf zu werfen. Assistent, pah. Aus Erfahrung wusste er, dass Slughorn ein zweitklassiger Brauer war und so schwer konnte es ja nicht sein, den kleinen Nervensägen ein bisschen was über Zaubertränke beizubringen.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Snape tauchte aus seinen Gedanken auf und sah, dass sie vor den Toren der Großen Halle angekommen waren. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er stehen geblieben war. Man konnte den Lärm der Schüler hören. Geklirre von Geschirr. Geschnatter. Gelächter. Gejammer. Er ballte seine leicht schwitzigen Hände zu Fäusten. Das einzige Zeichen von Nervosität, das er sich erlaubte.

Slughorn sah ihn mit einem wissenden Blick an. „Das erste Mal da oben am großen Tisch ist immer gewöhnungsbedürftig. Aber keine Sorge, nach einer Weile blendest du die Schüler einfach aus."

Eine Woche war vergangen, seit Dumbledore ihn mit nach Hogwarts gebracht hatte und bis jetzt war ihm das Essen in der Großen Halle noch erspart geblieben. Heute jedoch war die Schonfrist abgelaufen. Dumbledore hatte ihn aufgesucht und ihn „gebeten" zum ersten Mal sein Abendessen mit den anderen Lehrern einzunehmen.

Genervt schüttelte er Slughorns Hand ab und zwang sich, weiterzulaufen. Auf keinen Fall würde er sich die Blöße geben, wie ein eingeschüchterter Erstklässler an Slughorns Seite zum ersten Mal vor die Schüler zu treten.

Schon nach den ersten Schritten spürte er die Blicke auf sich wie unangenehme Stiche auf seiner Haut. Sie brannten in seinem Nacken und blieben an ihm kleben. Am liebsten würde er sich wieder umdrehen und sich in seinem Zimmer verkriechen. Zu viel Aufmerksamkeit hatte ihm noch nie behagt.

Hoch erhobenen Hauptes und mit möglichst ausdrucksloser Mine zwang er sich, an den Schülern vorbeizugehen und trat an den Lehrertisch. Dumbledore begrüßte ihn mit diesem verdammten Funkeln in den Augen und deutete ihm an, sich auf den freien Stuhl neben ihn zu setzen, den er scheinbar extra freigehalten hatte. Slughorn musste sich mit einem Platz am Tischende zufriedengeben, Merlin sei Dank.

Dumbledore schlug mit seinem Stab vorsichtig dreimal gegen sein Trinkglas. Das Geräusch hallte unnatürlich laut durch die Halle. Der Lärm ebbte langsam ab und die Schüler wandten sich dem Schulleiter zu, der aufstand und die Arme ausstreckte.

„Ich habe erfreuliche Neuigkeiten, auf Grund derer ich leider kurz das Abendessen unterbrechen muss", sagte Dumbledore. „Nach einiger Suche ist es mir gelungen, einen talentierten Zaubertrankbrauer zu finden, sodass ich Professor Slughorn endlich guten Gewissens in seinen wohlverdienten Ruhestand schicken kann. Ich bin sicher, dass wir alle Professor Slughorn schmerzlich vermissen werden. Doch die Slytherins werden nicht ohne Hauslehrer bleiben. Diesen Posten sowie den des Zaubertrankprofessors wird ab nächstem Monat Professor Snape füllen. Heißt ihn bitte herzlich mit mir willkommen!"

Und Snape spürte hunderte Augenpaare auf sich ruhen.

Dumbledore fing an zu klatschen und nach einigen Sekunden, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit, stieg erst der Rest des Lehrkörpers und dann die Schülerschaft ein.

Snape fragte sich, ob der alte Mann tatsächlich von ihm erwartete eine Rede zu halten, überlegte kurz, entschied dann aber, dass man ihm schon mit einem der Unverzeihlichen drohen müsste, bis er so etwas tatsächlich tun würde, stand auf, neigte kurz den Kopf und setzte sich dann wieder. Das musste reichen.

Tat es scheinbar tatsächlich, denn Dumbledore gab sich damit zufrieden und nach kurzer Zeit war der Applaus abgeebbt und die Schüler fuhren mit dem Abendessen fort. Das Getuschel wurde allerdings ganz eindeutig lauter.

Aus dem Augenwinkel versuchte er, die Stimmung am Tisch der Slytherins einzuschätzen. Dass er durch Slughorns Abgang auch die Hauslehrer-Tätigkeit übernehmen musste, hatten sowohl Dumbledore als auch er nicht bedacht, als Dumbledore ihm in Grimmauld-Platz von seinem Plan erzählt hatte. Wieso bei Salazars Kammer gab es nur einen einzigen Slytherin in der Lehrerschaft?! Einige von ihnen nahmen die Information gut auf. Normal. Neugierde war in den Blicken, die sie in seine Richtung warfen. Doch wie erwartet gab es auch einige unzufriedene, wenn nicht sogar wütende Gesichter. Natürlich von den Schülern, die Todesserverbindungen hatten. Tabetha McNair, Amycus und Alecto Carrow, Bernhard Rockwood,… Sie hatten aus dem Inneren Kreis von seinem Fall erfahren. Nun, damit musste er irgendwie fertig werden. Niemand hatte gesagt, ein Leben als Verräter würde einfach werden.

Slughorns Geschwätz musste er wenigstens beim Essen nicht ertragen, doch neben sich spürte er McGonagalls kalte Präsenz. Sie war ihm gegenüber höflich, doch natürlich – natürlich! – missbilligte sie es, dass Dumbledore einen Todesser nach Hogwarts geholt hatte. Dumbledore hatte ihn dem Lehrkörper schon vor einigen Tagen bei einem Besprechungstermin vorgestellt. Bereits da hatte sie mit ihren Blicken imaginäre Messer auf Snape geworfen. Hatte die Lippen zusammengepresst und ihn aus zusammengekniffenen Augen angestarrt, als wäre er eines der Tiere, die sie in ihrem Unterricht so gerne in Trinkgläser verwandelte. Es war auch unglaublich befremdlich, jetzt als Kollege neben ihr zu sitzen und nicht als dieser unbeholfene Schüler, der so viel Wut in sich trug und nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Er hatte bemerkt, dass sie ihm bewusst nicht angeboten hatte, ihren Vornamen zu benutzen, im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern. Natürlich war der Statusunterschied zu den anderen Lehrern auch sehr seltsam, doch bei McGonagall schien es ihm bedeutsamer zu sein. Sie war so eine starke Persönlichkeit. Er hatte immer noch das Bedürfnis, sich unter ihrem stechenden Blick klein zu machen, bekam das Gefühl, sie würde ihm gleich Nachsitzen dafür geben, dass er sich wieder in einen Kampf mit den Rumtreibern hatte verwickeln lassen.

Das restliche Mahl über versuchte er, möglichst gelassen zu wirken, doch alles, was er aß, lag ihm schwer wie ein Stein im Magen. Es fühlte sich äschern in seinem Mund an. Hätte man ihn danach gefragt, was genau er gegessen hatte, er hätte es nicht beantworten können.

Am nächsten Morgen stand er früh auf. Wie immer. Schlaf – entspannter, erholsamer Schlaf – war sowieso eine Rarität in letzter Zeit. Deswegen saß er auch bald mit einer Tasse schwarzen, ungesüßten Tees an seinem Schreibtisch und schaute sich die UTZ-Zaubertrankprüfungen der letzten Jahre an, als jemand an seiner Tür klopfte.

Bereits jetzt schon genervt stand er auf, um nachzusehen, wer ihn störte.

„Severus!", begrüßte ihn Professor Sinistra. „Guten Morgen. Ich komme leider mit schlechten Neuigkeiten. Wir müssen dich schon etwas eher als geplant ins kalte Wasser werfen. Albus schickt mich, um dir zu sagen, dass Horace die Nacht im Krankenflügel verbracht hat. Pixiefieber. Furchtbare Angelegenheit. Wird wohl einige Tage außer Gefecht gesetzt sein. Er fragt ob du diese Woche schon alleine den Unterricht übernehmen kannst."

Snape stellte sich vor, wie er Sinistra wieder die Tür vor der Nase zuknallte. „Natürlich.", hörte er sich stattdessen wie aus einiger Entfernung sagen. Pixifieber. Pixiefieber. Perfektes Timing, Slughorn. Vielen Dank dafür.

Noch leicht unter Schock stehend, nahm er den Stundenplan von Sinistra entgegen und ließ seine Augen darüber wandern. Sechs Stunden Zaubertränke, einmal Hufflepuff Ravenclaw viertes Lehrjahr, Hufflepuff Ravenclaw erstes Lehrjahr und Gryffindor Slytherin zweites Lehrjahr. Gut, vielleicht waren die anfänglichen großen Töne von ihm doch etwas…übermütig gewesen. Die Aussicht, sich ohne Slughorn vor die kleinen Monster stellen zu müssen, behagte ihm nicht, doch ihm blieb wohl nichts anderes übrig.

Er bekam nur halb mit, wie Sinistra sich wieder verabschiedete. Gedanklich ging er schon einmal die Tränke durch, die Slughorn gerade mit den entsprechenden Klassen behandelte. Sein sich verknotender Magen ließ keinen Gedanken an Frühstück zu, weshalb er sich schon sehr früh im Zaubertrankklassenraum wiederfand. Als die Schüler den Raum betraten, wurde der Knoten enger. Schnatternd kamen sie herein gewuselt und sofort wurden ihm neugierige Blicke entgegengeworfen. Hinter seinen Schläfen fing ein stetiges Pochen an.

Er schaute auf die Uhr und räusperte sich.

Der Geräuschpegel senkte sich ein bisschen, allerdings nicht viel.

Genervt schwenkte er seinen Zauberstab und jegliche Laute wurden im Keim erstickt.

„Da ich nun Ihre Aufmerksamkeit habe", er ließ einen dunklen Blick über den Raum gleiten, „können wir mit der Stunde anfangen. Professor Slughorn ist leider plötzlich erkrankt, weshalb ich seinen Unterricht etwas eher als geplant übernehmen muss. Der Schulleiter hat mich gestern ja bereits vorgestellt. Ich möchte Sie vorwarnen." Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Ich selbst war bereits Schüler unter Professor Slughorn und weiß wie…nachsichtig er sein kann. Seien Sie versichert, dass Sie diese Nachsichtigkeit bei mir nicht finden werden. Sinnloses Zauberstabgefuchtel ist bei mir fehl am Platz. Das Brauen von Tränken verlangt nach mehr Finesse, Achtsamkeit und Geduld, als Sie es von anderen Unterrichtsfächern gewohnt sein werden und ich bin mir sicher, dass Sie in meinem Unterricht diese Tugenden schon bald verinnerlicht haben werden – zumindest solange es Ihr Ziel ist, diesen Kurs zu bestehen."

Die Schüler sahen eingeschüchtert aus. Gut. Er hatte keine Lust sich mit aufmüpfigen Schülern herumzuschlagen und seine Rede sollte eine Präventivmaßnahme sein. Langsam ließ er den Blick über jeden einzelnen Schüler gleiten. Verharrte kurz auf ihnen, bis sie anfingen unruhig zu werden, in ihrem Sitz umher zu rutschen und nervös zum Banknachbarn zu schauen. Erst dann ging er zum nächsten über.

„Heute steht ein Euphorie-Elixier auf dem Plan", erklärte er schließlich und ließ mit einem Schlenker seines Stabes das Rezept auf der Tafel erscheinen. „Sie haben 60 Minuten Zeit. Dann werden wir sehen, ob Sie einen passablen Trank produzieren können."

Stühle kratzten über den Boden, als alle sich aufmachten, die Zutaten zu besorgen. Als die Rauchschwaden anfingen, sich über den Köpfen zu verteilen und eine neblige Wand bildeten, ließ seine Anspannung etwas nach. Tränke. Er liebte Tränke. Er lebte für Tränke. Damit konnte er umgehen. Bedächtig lief er die Reihen entlang und schaute zu, wie die kleinen Quälgeister die Zutaten komplett in die Mangel nahmen und sich scheinbar Mühe gaben, ihre Tränke so falsch wie möglich zusammenzubrauen – bei Merlin, er hatte mehr Arbeit vor sich, als er gedacht hatte.

Ein Geruch. Der falsche.

Rasch eilte er zu einem Mädchen, das kurz davor war, Nieswurz in ihren Trank zu werfen. Ihr Name…verflucht, was war ihr Name!? Er konnte gerade so ihr Handgelenk packen, bevor die Pflanze in den Tiefen ihres hellbraunen – der Trank sollte in dieser Phase grün sein! – Gebräus versank.

„Verraten Sie mir bitte, warum Sie vorhaben uns alle mit toxischen Gasen zu vergiften, Miss…?" Die Schülerin schaute ihn mit großen Augen an. Er ließ ihr Handgelenk los und entnahm ihr das Nieswurz.

„Beliam, Sir."

„Miss Beliam, können Sie mir sagen, was Sie da tun?"

„Ich, also, ich…"

„Haben Sie die Fähigkeit zu Sprechen genauso verloren wie anscheinend Ihre Lesefertigkeit? Was steht an der Tafel?"

Sie kniff die Augen zusammen und schaute auf das Rezept. „Nieswurz. Da steht Nieswurz…oder?" Hilfesuchend wandte sie sich an ihre Banknachbarin, der es offenbar ganz und gar nicht behagte, jetzt ebenfalls im Fokus von Snapes Zorn zu stehen.

Snape schnaubte abfällig. „Fünf Punkte von Huffplepuff. Bisswurz, Miss Beliam. Da steht Bisswurz. Setzen Sie sich weiter nach vorne, wenn Sie das Rezept nicht ordentlich lesen können und lassen Sie sich bei Merlins Bart die Augen untersuchen."

Der Rest der Stunde wurde stetig schlimmer. Wollten die Schüler sich gegenseitig umbringen oder warum fanden sie immer neue Wege das Rezept zu verstümmeln?

Am Ende der Stunde hatte sich das Pochen hinter seinen Schläfen in ein permanentes Stechen verwandelt.

Die Erstklässler danach waren eine Komplettkatastrophe. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals als so kleines, unbeholfenes Wesen in diesem Klassenzimmer gesessen hatte. Diese weit aufgerissenen Augen, die alles mit so viel Staunen anstarrten… Man konnte ihnen absolut jede Emotion ansehen. Erbärmlich.

Als das Zeichen für das Ende der letzten Stunde ertönte, ließ er sich erleichtert in seinem Stuhl nieder und rieb sich die Schläfen. Was tat er hier nur? So etwas musste er die ganze Woche ertragen? Das ganze Jahr über?

Die letzten zwei Stunden vergingen ähnlich. Er wusste später nicht mal mehr einen Namen der Schüler, doch konnte fünf Wege aufzählen, wie sie beinahe eine Explosion ausgelöst hätten.

Er legte sich ein wenig hin in der Hoffnung, dass seine Kopfschmerzen zum Abendessen wieder verschwunden wären, doch sie waren nicht ganz weg, als er sich müde in die Große Halle schleppte. Rasch vertilgte er sein Essen, bevor er sich in den Klassenraum zurückzog, um die im Unterricht gebrauten Tränke der Schüler zu bewerten und die Stunden für den nächsten Tag vorzubereiten.

Als er sich ins Bett legte, brummte sein Kopf immer noch.

Der nächste Tag verlief genauso wie der zuvor. Genauso furchtbar. Dieses Mal hatte er sogar Gryffindor-Slytherin Fünftklässler, bei denen er aufpassen musste, dass sie sich nicht gegenseitig die Tränke sabotierten. Die Erst- und Zweitklässler hatten noch nicht das Alter für solch eine ausgeprägte Antagonie. Ständig musste er zu einem Schüler rennen, um eine nahende Explosion zu verhindern oder das Schmelzen eines Kessels. Einmal konnte er gerade so den Vulkan-imitierenden Trank eines Ravenclaw-Schülers einfrieren, bevor er sich durch den Tisch fressen und die Schuhe samt Füße des vor Schock erstarrten Schülers verkohlen konnte.

„Hallo Severus!", begrüßte ihn Dumbledore, wie immer gut gelaunt, als er sich abends neben ihm auf den Stuhl fallen ließ und sich mit mörderischer Miene Kartoffelbrei auftat. „Na, wie läuft deine erste Woche als Lehrer?"

„Hervorragend", antwortete er mit vor Sarkasmus triefendem Ton. Er warf einen mörderischen Blick auf die Schüler, die es auch noch wagten quietschmunter und fröhlich beim Abendessen zu sitzen. „Noch sind alle am Leben." Leider. „Ich kann allerdings nicht garantieren, dass das so bleibt. Ein großer Prozentsatz der Schüler scheint einen Todeswunsch zu haben. Zumindest brauen sie ihre Tränke so."

Flitwick lehnte sich nach vorne, um ihn anzuschauen (und hing damit beinahe seinen Ärmel in die Suppe, die vor ihm stand). „Wie viele sind im Krankenflügel gelandet?"

Snape verdrehte die Augen. „Keiner."

Er spürte, wie nicht nur Dumbledore und Flitwick ihn überrascht ansahen, sondern sich auch McGonagall und Sinistra bei diesen Worten zu ihm drehten. Er hob eine Augenbraue und schaute fragend auf Flitwick (dessen Ärmeln nun ganz sicher in der Suppe hing).

„Keiner hat sich verletzt?!", fragte dieser mit hoher Stimme.

„Nein.", antwortete Snape bissig. „Wobei ich nicht weiß, wieso Sie das überraschen sollte, Prof - Filius. Ich bin durchaus in der Lage, die Schüler angemessen zu beaufsichtigen."

„Mein lieber Severus, als Horace angefangen hatte, mussten täglich drei Schüler zu Madame Pomfrey geschickt werden. Wir haben nicht an dir gezweifelt – eher an den Schülern. Horace hat Monate gebraucht, bis er in der Lage war, den Schülern bei ihren Missgeschicken zuvor zu kommen.", erklärte Dumbledore. Sein Tonfall verriet, dass er beeindruckt war.

Snape schnaubte. „Nun, dass es Professor Slughorn an Aufmerksamkeit mangelt, wundert mich nicht."

McGonagall sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Was wollen Sie damit sagen?"

Er hielt ihrem Blick stand. „Ich will damit sagen, dass es den Lehrern hier schon immer schwer gefallen ist, zu sehen, was sich vor ihren Augen abspielt." Wie gut es tat, das zu sagen. Abrupt stand er auf. „Wenn Sie mich entschuldigen, auf mich warten noch ein paar mittelmäßige Tränke, die benotet werden müssen."

Und mit diesen Worten verließ er die Große Halle.