04. Minerva

„Love dares you to care for
The people on the edge of the night
And love dares you to change our way of
Caring about ourselves
This is our last dance
This is ourselves
Under pressure."

Queen – Under Pressure

24.12.1981, Angela Potters Dachwohnung, London

Ich sehe dem Nachmittag noch immer mit gemischten Gefühlen entgegen.

Raven ist in dem einen Monat, den sie jetzt alt ist, schon ein ganzes Stück gewachsen. Das und die schmerzliche Erkenntnis, wie wenig ich davon mitbekommen durfte, trafen mich wie ein Blitzschlag, als ich vor einer Stunde in Angies Wohnung ankam.

Die Potters haben die beiden nach Ravens Geburt kaum aus ihrer Obhut gelassen, Angie hatte so ihre Probleme, diesen Nachmittag zu arrangieren. Umso glücklicher sind wir drei, uns endlich nochmal zu sehen. Ich nehme mir mal die Freiheit zu behaupten, dass unsere Tochter auch glücklich ist, oder zumindest zufrieden. Das schließe ich daraus, dass sie keinen Mucks von sich gibt und einen ziemlich entspannten Eindruck macht, als sie von meinem Arm aus das Schneetreiben draußen beobachtet.

Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee von Angie war, denn sie hat einen weiteren Gast angekündigt, jemand, den sie bitten möchte, den Patenpart für unser Kind zu übernehmen. An sich ist das angesichts der momentanen Situation draußen gar nicht schlecht gedacht – aber sie verschweigt immer noch fleißig ihrer Familie, wer Ravens Vater ist. Außer uns dreien weiß es niemand. Es stellt ein stetig wachsendes Risiko dar, jemanden in dieses Geheimnis einzuweihen. Mal abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, wer diese Person sein sollte.

Mach dir keine Sorgen." Ich scheine meine Gedanken im Gesicht geschrieben zu haben, oder Angie spürt meine Unsicherheit. Sie legt von hinten ihre Arme um mich.

Ich vertraue ihr mehr als meiner Mutter. Und sollte uns etwas passieren, ist es besser, einen Ansprechpartner zu haben, dem wir vertrauen können."

Ich kann nur mit einem Nicken antworten und spüre, wie sie ihre Stirn an meiner Schulter anlehnt. „Mach dir keine Sorgen", wispert sie noch einmal.

Es klingelt. Wir tauschen einen kurzen Blick, bevor sie in den Flur verschwindet.

Ich seufze und richte den Blick wieder auf meine kleine Tochter, die sich jetzt umdreht und zu mir hoch schaut. Ihre Augen sind noch dunkel und liegen unter leicht schweren Augenlidern. Die hat sie von mir. Ihr Haar, ungewöhnlich üppig für ihr Alter, hat sie dagegen eindeutig von ihrer Mutter. Dicht, strubbelig und nicht dunkel genug, um es als schwarz zu bezeichnen. „Tja, Süße, ich bin mal gespannt, wen deine Mum hierher beordert hat…" Als Antwort greift meine Tochter nach meiner Nase.

Aus dem Flur dringen Stimmen zu mir durch. „… viel los. Dass die sich kurz vor Weihnachten noch so in den Flohverkehr stürzen…"

Die Stimme kommt mir sehr bekannt vor, ich hatte sie sieben Jahre lang fast jeden Tag zu hören bekommen… Das kann nicht Angies Ernst sein!

Also, wo sind denn die beiden?"

Kein Zweifel, das ist die Stimme von…

Die Tür öffnet sich und Minerva McGonagall tritt hinter ihrer jüngsten Nichte ins Wohnzimmer.

Für einen Moment blicken wir uns wortlos an und ich erwarte schon ein mittleres Donnerwetter – doch meine ehemalige Verwandlungslehrerin verzieht ihren schmalen Mund zu einem Lächeln.

Wusste ich's doch!"

Angie und ich starren sie einigermaßen perplex an.

Minerva, noch immer lächelnd, schüttelt den Kopf. „Dass es deiner Mutter noch nicht aufgegangen ist, wundert mich eigentlich nicht", meint sie zu Angie. „Aber James hätte es wirklich auffallen können, dass da eine gewisse Ähnlichkeit ist."

Sie kommt auf uns zu, gibt Raven einen Kuss auf die Stirn und lächelt mich aufmunternd an. „Guck nicht, als würdest du rosa Hippogreifen tanzen sehen, ich beiße nicht."

Nicht mehr, denke ich leicht verwirrt. Ist sie einfach netter zu Leuten, die sie nicht mehr unterrichtet, oder liegt es daran, dass ich der Vater des kleinen Mädchens vor ihr bin?

Ähm", meldet sich Angie schließlich. „Also… ach, setzt euch einfach." Mit einem Schwung ihres Zauberstabs erscheinen drei Teetassen und ein Babyfläschchen auf dem Tisch.

Ein großer Teil der Anspannung scheint von ihr abgefallen zu sein, als sie sich, ihrer Tante gegenüber, auf dem Sofa niederlässt und sich eine ihrer zerzausten dunklen Haarsträhnen aus der Stirn streicht. Ich geselle mich dazu, Raven streckt ihre Ärmchen aus und lässt einen Platzwechsel zu ihrer Mutter über sich ergehen.

Nun… um zu dem Hauptgrund zu kommen, warum du mich herbestellt hast", nimmt Minerva das Gespräch wieder auf. „Warum willst du ausgerechnet mich als ihre Patentante?"

Weil ich dir vertraue", antwortet Angie. „Außerdem wirst du nicht so schnell mit uns in Verbindung gebracht und – verzeih, wenn ich das so sage – du bist momentan etwas sicherer als die meisten von denen, die du vorgeschlagen hast."

Sie brauch es gar nicht ausführlicher zu erklären, uns allen ist klar, was sie damit meint: Minerva ist in Hogwarts tatsächlich geschützter als Lily, Sirius oder Andromeda – unsere Ausweichkandidaten.

Doch gleichzeitig fällt mir auch die Problematik auf, die ein Pate in Hogwarts mit sich bringt. Minerva spricht sie denn auch sofort aus.

Schön und gut – aber im Ernstfall kann ich mich in der Schule nicht um sie kümmern. Das ist im Schloss so gut wie unmöglich. Und-"

Es ist ja auch wie du sagst: Im Ernstfall." Angie seufzt. „Wir leben zwar beide nicht gerade ungefährlich, aber…"

„… das heißt ja nicht, dass wir sofort tot umfallen", beende ich den Satz undiplomatisch und ein wenig ruppig. Unsere alte Verwandlungslehrerin redet ja beinahe, als lägen wir schon unter der Erde! Natürlich ist unser Leben momentan mit einer ständigen Gefahrenzone zu vergleichen, darüber mache ich mir gar keine Illusionen. Aber das heißt doch nicht gleich, dass wir leichtsinnig mit unserem Leben umgehen – erst recht nicht jetzt, wo wir für unsere Tochter stark sein müssen.

Minerva scheint zu bemerken, dass sie da in ein Fettnäpfchen meinerseits gestolpert ist. „Das will ich doch auch hoffen. Die Kleine braucht ihre Eltern schließlich." Angie und ich tauschen einen Blick aus und in unseren Köpfen geht dasselbe vor: Eltern ist gut – derzeit stellen beide Eltern eher ein Risiko für das Kind dar - sie als Spross einer Familie, die der Dunkle Lord am liebsten komplett ein paar Meter unter der Erde sehen wurde und ich als einer seiner ‚treuen' Diener…

Aber für den Fall, dass euch etwas passieren sollte, werde ich mich natürlich um sie kümmern, da lasse ich mir schon was einfallen. Hoffen wir einfach, dass es gar nicht dazu kommen muss", fügt sie hinzu.

Danke", sage ich leise und ärgere mich mal wieder darüber, solche Dinge nicht überzeugender ausdrücken zu können. „Das bedeutet uns wirklich sehr viel…", setzt Angie etwas viel versprechender an.

Minerva tut es mit einer Handbewegung ab. „Lasst gut sein. Was mir persönlich etwas wichtiger ist-" Sie richtet sie nun direkt an mich. „Regulus – entschuldige, dass ich so direkt frage, aber… bist du ein Todesser?"

Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch, obwohl ich mit dieser Frage gerechnet habe. Seltsam, dass sie noch nicht früher aufgekommen ist. „Ich kann wohl nicht sagen, ich sei keiner mehr", antworte ich schließlich mit fester Stimme. „Ich trage das Dunkle Mal und der Dunkle Lord zählt mich zu seinen Dienern. Ich glaube, wenn ich sage, mit dem Körper ja, aber mit dem Herzen und dem Kopf nicht, dann trifft es die Wahrheit noch am besten."

Raven greift nach der Robe ihrer Mutter und wird dabei von deren Tante beobachtet, die sich auf die Unterlippe beißt und kaum merklich nickt.

Angie hat mir von Albus Dumbledores Organisation gegen den Dunklen Lord erzählt, dem Orden des Phönix. Minerva ist dabei, Frank ist dabei, Alice, Lily, James, und auch Sirius. Würde mich nicht wundern, wenn er den ganzen Orden gegen unsere Familie aufgehetzt und jede Menge Anschuldigungen gegen uns losgelassen hätte. In diesem Sinne bin ich doch etwas überrascht, dass Minerva von meiner Antwort so getroffen scheint.

Oder sie kann sich schlichtweg nicht vorstellen, dass ihr ‚kleiner Engel' ihr Herz tatsächlich an einen Todesser verschenkt hat.

Schließlich sucht ihr Blick doch den meinen, sie nickt erkennbarer. „Also gut…"

Es wär allerdings vielleicht besser, wenn du das nicht von den Dächern pfeifst", füge ich hinzu.

Aus irgendeinem Grund grinst Angie bei diesen Worten. Wahrscheinlich über meinen Hang zum Misstrauen, auch wenn vor uns eine der verschwiegensten Personen sitzt, die man sich denken kann.

Selbstverständlich", entgegnet Minerva und schafft es tatsächlich, ein Lächeln auf ihre Lippen zu bringen.

Sie erhebt sich, wir ebenfalls. Wieder kommt sie auf uns zu, diesmal umarmt sie uns drei. „Passt auf euch auf", flüstert sie. „Ich will eigentlich nicht frühzeitig Verantwortung für die Kleine übernehmen." Dreifaches Lächeln folgt, nur besagte Kleine schaut ein wenig verblüfft zwischen uns hin und her.

Das meine ich ernst", meint Minerva (und nichts anderes sagt ihre Miene) zu ihrer Nichte gewandt. „Der Schutz ist weg, das weißt du."

Angie nickt und wenige Augenblicke später ist ihre Tante verschwunden. Draußen sind schon lange die Straßenlampen angegangen.

Von was für einem Schutz hat sie denn gesprochen?", frage ich, als Angie unsere Tochter in ihr Bettchen legt.

Von einem nicht mehr existenten." Sie drückt Raven einen Kuss auf die Stirn, dreht sich zu mir um und zieht mich aus dem Kinderzimmer. „Leider. Sonst wäre diese ganze Aktion überflüssig…"

Sie legt ihre Arme um meinen Hals, meine Hände gleiten automatisch zu ihren Hüften, um sie näher zu ziehen. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie die meinen treffen, während meine Hände von ihren Hüften nach oben wandern, bis sie an ihren Wangen angekommen sind. Erst dann öffne ich die Augen, um sie anzuschauen.

Für mich bleibt sie eine der schönsten Frauen, die ich kenne, selbst in ihrem erschöpften Zustand. Ihr zerzaustes dunkelbraunes Haar fällt ihr in die Stirn, auf ihrer langen schnabelartigen Nase zeichnen sich ein paar wenige Sommersprossen von der vom Sommer gebräunten Haut ab, unter den warmen, haselnussbraunen Augen liegen dunkle Schatten.

Wie so oft ertrinke ich in diesen Augen…

Nach einem weiteren Monat, in dem ich meine Tochter ein wenig öfter sehen und mich endlich ein wenig von den Lestranges distanzieren konnte, zitiert mich Rodolphus zu sich.

Er war in letzter Zeit außergewöhnlich gereizt gewesen, nach dem Ärger, den er wegen Evan Rosier mit Adrienne Wilkes hatte – und mit Bellatrix schien er auch schon bessere Zeiten durchlebt zu haben. Was man allein schon daran sieht, dass sie nach dem letzten Streit verschwunden ist. Ich kann mir eigentlich schon denken, was er von mir will. Aber was soll ich ihm schon sagen? ‚Tut mir leid, ich weiß nicht genau, wo meine Cousine ist, aber wenn du meine Vermutung hören willst: Ich denke, sie steckt bei meinem Bruder.' Das würde mir auf Anhieb einfallen. Aber das Risiko, dass Rodolphus alle beide um ihren Verstand foltert, ist mir zu hoch, um versuchshalber diese Antwort zu geben.

Jegliche Bedenken dieser Art sind allerdings umsonst, Rodolphus hat einen anderen Grund, um ein Gespräch mit mir führen zu wollen.

Stimmt es, was Augustus Rookwood mir gezwitschert hat?"

Was zwitschert er denn", gebe ich fast schon provozierend zurück.

Rod beugt sich zu mir vor. „Er meint, du hättest dich gewissen Leuten gegenüber etwas… abfällig über unseren Herrn geäußert."

Stirnrunzeln meinerseits. „Abfällig?"

Ich zitiere: ‚Es ergibt keinen Sinn, der Dunkle Lord widerspricht sich, wenn er auch Reinblüter ermorden lässt. Er-'"

Ich gebe ein spöttisches Lachen von mir. „Das nennst du abfällig? Das war eine kleine Kritik, die völlig der Wahrheit entsprach."

Rodolphus starrt mich zornfunkelnd an. „Eine kleine und vor allem lügnerische Kritik, die unseren Feinden in die Hände spielt! Warum verbreitest du so einen Unsinn?"

Woher hast du das überhaupt? Es macht sich doch nicht allen Ernstes jemand die Mühe, jedes Wort, das einer von uns sagt, mitzuschreiben", erwidere ich.

Das tut nichts zur Sache." Er steht auf und geht zum Fenster. „Es ist schon schlimm genug, dass du deine Worte tatsächlich für wahr hältst."

Wäre ja auch schwachsinnig, wenn ich so etwas von mir geben würde, ohne es so zu meinen. Um meine liebe Cousine zu zitieren." Ich lehne mich zurück.

Rodolphus dreht sich wie von der Tarantel gestochen zu mir um. „Sprich nicht von Bellatrix!"

Warum denn nicht? Sie denkt ähnlich. Oder was denkst du, warum sie weggelaufen ist?", fauche ich zurück. „Wenn es beispielsweise um unsere Familie ginge, würde sie nicht über Leichen gehen, selbst wenn Er es befehlen würde."

Für einen Moment sieht er aus, als würde er gleich auf mich losgehen. „Du redest Unsinn. Sie würde sich NIE! Hörst du, nie gegen unseren Herrn stellen."

Ich zucke ungerührt mit den Schultern. „Das habe ich ja auch nicht gesagt. Und das ist wohl auch kaum der Grund, warum du mich herbestellt hast." In diesem Moment bin ich meiner Mutter wirklich dankbar dafür, dass sie uns schon als Kind eingebläut hat, unsere Emotionen so selten wir möglich auf dem Gesicht zu offenbaren. Vorteilhaft wäre es jedenfalls nicht, wenn Rodolphus meine innere Aufgewühltheit bemerken würde, denn ich bin keinesfalls so ruhig wie ich mich gebe.

Er nimmt wieder Platz. „Regulus… ich kenne dich schon ziemlich lange", beginnt er mit unangenehm selbstsicherer Stimme und sucht meinen Blick. Kunstpause, bevor er mit der Tür ins Haus fällt. „Du beginnst doch nicht etwa, unseren Herrn in Frage zu stellen, oder?"

Wie könnte ich", antworte ich automatisch. Bloß nicht den Eindruck erwecken, ich würde die Unwahrheit erzählen… „Bringt dich eine winzige Kritik etwa schon dazu, an meiner Treue zu zweifeln?"

Damit fängt alles an. Aus einer kleinen Kritik, wahrscheinlich von Narren wie Albus Dumbledore übernommen, werden unsinnige Zweifel, die das ganze System vergiften." Sein Blick nagelt mich geradezu fest.

Mein Herz klopft, als wolle es zum Hals hinaus, dagegen ist die einzige Regung auf meinem Gesicht eine hochgezogene Augenbraue.

Ich warne dich, Regulus." Rodolphus Stimme ist ganz leise und berührt meine Haut wie feine und doch gefährlich spitze Nadeln, sein Gesicht ist ernst. „Solltest du an unserem Herrn zweifeln oder ihn sogar betrügen… dann weißt du, was mit dir passiert."

Oh Salazar, ich weiß es nur zu gut. Ich verlasse Rodolphus' Arbeitszimmer mit starrer Miene und werde das bohrende Gefühl nicht los, dass Minerva ihren Part als Patin wohl oder übel bald ausüben werden muss.

Es wäre ein Wunder, wenn wir hier alle lebend rauskämen!

A/N: Hui, ist das lang geworden… Naja, ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen.

Nächstes mal: Regulus macht einen letzten Zwischenstop zu Hause, bevor es richtig losgeht…