Kapitel 20

Beverly Crusher saß in ihrem Quartier und versuchte nach ihrem anstrengenden Einsatz auf Adnirim Vier etwas zur Ruhe zu kommen. Sie hatten viele Leichen abtransportieren müssen und für einen Mediziner war es immer am schlimmsten, einem Menschen gar nicht mehr helfen zu können. Die Verletzten waren inzwischen versorgt und ihr Zustand stabil.

Die Romulaner jedoch machten ihr einige Sorgen. Sie befanden sich nach wie vor im Frachtraum, da sich der Botschafter der romulanischen Regierung bisher noch nicht gemeldet hatte. Mit jeder Stunde die verging, wurden die Gefangenen unberechenbarer. Und auch wenn sie Häftlinge an Bord der Enterprise waren, war Beverly als Ärztin für deren Gesundheitszustand verantwortlich. Für Troi musste es ebenfalls eine schwierige Situation sein. Sie hatte die Aufgabe, den Seelenzustand der Inhaftierten einzuschätzen. Beverly hatte inzwischen einige der Romulaner wegen Schwächeanfällen behandeln müssen, da die Gefangenen sich strikt weigerten, Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Schlimmer noch war, dass sie auch jegliche Flüssigkeitsaufnahme verweigerten.

Der Captain hatte angeordnet, sofort Kontakt mit dem romulanischen Schiff aufzunehmen, das den Abgesandten herbringen sollte - bislang jedoch ohne Erfolg.

Beverly nahm sich gerade die Freiheit, ihre Füße auf dem Tisch vor sich auszustrecken, als ihr Türsummer ertönte. "Herein", sagte sie automatisch.

Wesley betrat den Raum. "Störe ich?" fragte er.

"Nein, natürlich nicht. Setz dich", sagte sie und deutete auf den Platz neben sich. Der junge Mann trat näher, setzte sich jedoch nicht auf den ihm angebotenen Platz, sondern gegenüber seiner Mutter.

"Mom", sagt er, "ich habe über die Ereignisse der letzten Stunden viel nachgedacht. Es war wirklich ein schrecklicher Fehler hierher zu kommen. Diesen Fehler kann ich jedoch nicht mehr korrigieren. Du weißt, dass es keine Möglichkeit gibt mein Schicksal abzuwenden. Darum möchte ich dich um eines bitten - leg mir keine Steine in den Weg. Wenn ich hier helfen kann, so möchte ich dies tun, ohne dass die anderen deswegen ein schlechtes Gewissen haben müssen." Das Gesagte hing wie eine düstere Wolke zwischen ihnen in der Luft. Beverly kannte ihren Sohn gut genug, um zu erkennen, wie nervös er ihre Antwort erwartete.

Es dauerte eine ganze Weile bis sie sich dazu durchringen konnte, und ihre Antwort war genau so schlicht, wie bedeutsam: "Ich verstehe."

Wesleys Stimme wurde nun etwas lauter, als er sagte: "Eins musst du noch wissen, Mom - ich bin nicht mehr der Wesley Crusher von damals. Meine Erfahrungen sind sehr komplex geworden in dieser, für euch, kurzen Zeit. Also bitte ich dich...behandel mich nicht wie ein Kind!"

Beverly musste ein mütterliches Lächeln unterdrücken. Wie sehr hatte er doch gerade mit diesen Worten bewiesen, dass er immer noch sehr einem normalen Teenager glich.

Er schien über ihre Reaktion nicht sonderlich glücklich und wollte noch etwas hinzufügen, als eine Welle des Schmerzes ihn durchfuhr. Augenblicklich krümmte sich sein ganzer Körper unter heftigen Krämpfen. Beverly war sofort bei ihm und suchte gleichzeitig nach ihrem Tricorder, den sie, nachdem sie ihr Quartier betreten hatte, achtlos irgendwo hingelegt hatte. Wesley stöhnte unter Schmerzen. Er hielt sich den Kopf, zeitgleich gaben seine Beine nach und er rutschte auf den Boden, wo er kraftlos liegen blieb. Beverly riss den Tricorder von einem kleinen Tisch in der Ecke, ließ ihn über den Körper ihres Sohnes gleiten und starrte auf die Anzeige. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Wesleys Zellen schienen zu kollabieren und schon im nächsten Moment wurden sie wieder stabil. Der junge Mann holte tief Luft und erhob sich mühsam. Seine Mutter stützte ihn so gut es ihr möglich war.

"Es geht schon", murmelte er. Beverly wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

"Setz dich wieder - bitte. Ich werde noch ein paar Scans von dir machen. Vielleicht sollten wir auf die Krankenstation gehen und..."

"Nein!" fiel Wesley ihr ins Wort, "hast du denn gar nicht zugehört? Ich möchte, dass du mich ganz normal behandelst. Du kannst mir nicht helfen - versteh das doch endlich!" Mit diesen Worten riss er sich los und stürmte zur Tür. Sie konnte ihm nur hilflos nachsehen. In dem Moment, als die Tür sich für Wesley öffnete, konnte Beverly erkennen, dass Picard wohl gerade ihren Türsummer hatte betätigen wollen, denn er stand da, mit erhobenem Arm und sah verblüfft Wesley hinterher, der wortlos an ihm vorbeistürmte.

Dem Captain schien sehr unbehaglich zumute zu sein, als er sagte: "Ich störe wohl gerade. Vielleicht sollte ich lieber später wiederkommen."

Beverly seufzte auf, schließlich sagte sie: "Ein paar Minuten früher wäre besser gewesen - dann hätten Sie mich davor bewahrt, mich in den Augen meines Sohnes wie eine Glucke aufzuführen."

Sie winkte ihn kurzentschlossen herein.

Picard betrat zögernd den Raum und als die Tür sich zischend hinter ihm geschlossen hatte, fragte er: "Möchten Sie darüber reden?"

Beverly ließ sich wieder auf den Sessel sinken und bot Picard den gleichen Platz an, auf dem ihr Sohn eben noch gesessen hatte.

Sie sprach in trockenem Tonfall, als sie sagte: "Ich schätze, für keine Mutter ist es leicht, wenn ihr Sohn in diesem Alter ist. Aber wenn er dann auch noch über überdurchschnittliche Fähigkeiten verfügt und zudem noch im Sterben liegt, ist es wohl besonders schlimm - insbesondere wenn er auch noch verlangt, dass sie dies alles einfach ignorieren soll, vielleicht können das andere - doch eine Mutter nie!" Tränen traten in ihre Augen und sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie konnte sie zu Picard nur so etwas sagen? Er konnte schließlich genau so wenig tun wie sie und es war egoistisch von ihr, ihn auf diese Art zu belasten. Gleichzeitig war sie fast verwirrt darüber, wie viel Wut in ihr aufstieg. Verdammt - für sie war es schließlich eine fast untragbare Last. Wie konnte Wesley von ihr verlangen zu ignorieren, dass es ihm so schlecht ging.

Picard hatte sie beobachtet. Der Wechsel von Trauer zu Wut, war ihm nicht entgangen. Er sprach sanft, aber bestimmt als er sagte: "Ich denke, Wesleys Wunsch, ihn so normal wie möglich zu behandeln, sollten wir unbedingt respektieren."

Alle Bedenken, die sie eben noch gehabt hatte, den Captain nicht belasten zu dürfen, waren wie fortgewischt. Beverly schnaubte: "Ja, natürlich - für Sie ist das leicht! Als Captain können Sie ja auch Distanz wahren. Sie können ihn sehen als ein Crewmitglied, das lediglich seine Pflicht erfüllt und dabei sein Leben lässt, zum Wohle der Mehrheit. Aber mir...mir fällt das nicht so leicht!" Sie hatte ihn völlig außer sich angeschrien.

Picards Miene war für einen Moment von unglaublicher Trauer erfüllt, dann verschloss er sich jedoch. Wie versteinert sagte er: "Wir sollten dieses Gespräch jetzt besser abbrechen."

Er erhob sich.

Panik flackerte in Beverlys Augen auf.

"Nein, Jean-Luc", rief sie, "bitte verzeihen Sie - ich habe es nicht so gemeint. Es tut mir leid. Ich bin so wütend, dass ich gar nicht mehr weiß was ich sage. Bitte bleiben Sie!"

Sie sah ihn mit flehenden Augen an.

Picard schien einen Moment zu überlegen, schließlich setzte er sich wieder.

In seinem Gesicht war nun von der Distanz von eben nichts mehr zu sehen und seine Stimme war rau, als er sagte: "Wesley war für mich immer wie ein Sohn. Es bricht mir das Herz ihn leiden zu sehen. Dennoch denke ich, dass das Beste was wir für ihn tun können ist, seinen Wunsch zu respektieren."

Beverly nickte jetzt. "Ich weiß", sagte sie, "mein Kopf weiß, dass Sie Recht haben - ich wünschte nur, jemand könnte das meinem Herzen erklären."

Nun sah Picard, dass die Wut verraucht, und Beverly wieder von tiefer Traurigkeit erfüllt war. Er erhob sich langsam und ging um den Tisch herum auf sie zu. Dann ließ er sich neben ihr nieder und legte den Arm um sie.

Fast erwartete er, sie würde ihn bitten zu gehen, statt dessen lehnte sie sich an ihn und begann leise zu weinen. Ein paar Minuten später hatte sie sich wieder gefangen. Picard löste seinen Arm von ihr und rückte ein Stück ab. Als er sprechen wollte bemerkte er, wie belegt seine Stimme klang. Er räusperte sich und sagte dann: "Ich war hergekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass das Romulanische Schiff in einer halben Stunde mit uns auf Rendezvous-Kurs geht. Ich möchte, dass der Botschafter sowohl die medizinischen Berichte der Romulaner erhält, als auch die Autopsieberichte und medizinischen Gutachten der Opfer von Adnirim Vier. Sie werden sie sicher bei der weiteren Untersuchung des Falles benötigen."

Beverly nickte: "Ich werde das sofort veranlassen."

"Gut", murmelte Picard, "ich werde jetzt wieder auf die Brücke gehen", fügte er dann an, ohne sich jedoch zu erheben.

"In Ordnung", erwiderte Beverly, griff aber noch im gleichen Moment nach seiner Hand. "Danke für den Trost", sagte sie und beugte sich zu ihm herüber. Ihre Lippen streiften seine Wange und sie konnte hören, dass er den Atem anhielt, als sie ihn auf diese Weise berührte. Seine Augen hatten sich für einen Moment geschlossen und als sie sich wieder öffneten, konnte sie darin sein Erstaunen erkennen, als sie seinen Kopf sanft zu sich drehte und ihn auf den Mund küsste. Sie löste sich sofort wieder, lächelte leicht und sah ihn abwartend an.

Seine Stimme war nur ein Flüstern, als er sagte: "Sie wissen, was ich für Sie empfinde. Sie haben mir mehr als einmal deutlich gemacht, dass Sie für mich lediglich Freundschaft empfinden. Sie sind emotional aufgewühlt. Ich sollte jetzt wirklich besser gehen." Mit diesen Worten erhob er sich. Er lächelte sie noch einmal an. In diesem Lächeln lagen so viele widersprüchliche Gefühle - Begehren, Verständnis und auch ein Hauch von Schmerz - dann verließ er Beverlys Quartier.

Sie sah ihm nach und dachte daran, wie kompliziert Gefühle waren. 'Manchmal wären wir alle gerne ein bisschen wie Data', dachte sie.

tbc