Ennis fuhr auf den Hof und hielt mit quietschenden Reifen an. Jack folgte ihm wenige Minuten später. Gemeinsam betraten sie Ennis Haus. Jack sah sich neugierig um. Es wirkte alles etwas verfallen, wenig gepflegt und – wie er zugeben musste – sehr unpersönlich. Nichts hier brachte er mit Ennis in Verbindung.
Ihn schauderte, als er daran dachte, dass Ennis hier die letzten Monate alleine verbracht hatte und er war – nicht nur aus eigenen egoistischen Gründen – froh, dass für Ennis diese einsame Zeit vorbei war. Sie hatten abgesprochen, dass sie Ennis Sachen zusammen packen, dann den Schlüssel bei Ennis Vermieter abgeben und Riverton wieder in Richtung Childress verlassen würden.
Jack ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken und setzte sich an den Küchentisch. Er dachte darüber nach, wie sehr sich sein Leben auf einmal geändert hatte. Staunend stellte er fest, dass er seit zwei Tagen keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte.
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er aber noch keine Idee, wie es nach seinem Zwischenstopp in Childress weiter gehen würde.
Wo sollten sie wohnen, in welchem Bundesstaat, in welcher Stadt würden sie einigermaßen unbehelligt leben können? Dass er gemeinsam mit Ennis nach Lightning Flat zurück ging, schloss er aus. Sein Vater konnte zwar Hilfe gebrauchen, aber er war sich nicht sicher, ob Ennis sich dort wohlfühlen würde. Andererseits – es wäre immerhin ein Ausgangspunkt, von dem aus sie weitere Schritte überlegen könnten. Er seufzte auf. „Wir werden sehen", dachte er.
Ennis saß in der Zwischenzeit auf seinem Bett im Schlafzimmer und hielt ein Bild seiner beiden Töchter in den Händen. Das Herz wurde ihm schwer, als er an Almas letzte Worte dachte und die Aussicht, seine beiden Kinder vielleicht für eine lange Zeit nicht sehen zu können, verursachten ihm Magenschmerzen. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und saß lange Zeit unbeweglich da. Leise Schritte holten ihn aus seiner Apathie. Jack kam ins Zimmer und setzte sich neben ihn. Er nahm Ennis das Bild aus den Händen und betrachtet es. Beide Mädchen hatten lange, blonde Haare, blaue Augen und vor allem Junior war Ennis sehr ähnlich. Er berührte Jack, das zu sehen.
„Sie sind süß, Deine beiden", sagte er leise. Ennis nickte.
Beide schwiegen eine lange Zeit, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Irgendwann sah Jack auf die Uhr. „Ennis, wie lange sind Deine Mädchen gewöhnlich in der Schule?", fragte er. „Hm, keine Ahnung. Schätze bis zwei, drei Uhr", antwortete Ennis.
„Ennis, warum fährst Du nicht zur Schule und versuchst, mit Deinen Mädchen zu sprechen? Du könntest sie am Schultor abfangen und ihnen alles erklären. Wenn Du jetzt losfährst, kannst Du es rechtzeitig schaffen." Jack blickte Ennis erwartungsvoll an. „Jack, ich weiß nicht, ob sie mit mir reden wollen. Wer weiß, was Alma ..." „Ennis. Deine Mädchen WERDEN mit Dir reden wollen. Du bist ihr Daddy ! Und was immer Alma ihnen gesagt haben mag – gib Euch dreien die Chance, alles ins rechte Licht zu rücken." Ennis zögerte. „Ennis, gib Dir selbst einen Tritt. Wenn Du es nicht machst, helfe ich Dir nach, das schwöre ich!"
Ennis blickte Jack an, dachte an die vielen Chancen, die er in seinem Leben bisher hatte vorbei ziehen lassen und dachte daran, wie sehr er es bereute. Er stand auf. „Bin für ein paar Stunden weg, Jack." Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er aus dem Zimmer, polterte die Treppe hinunter und als Jack den Wagen vom Hof fahren hörte, seufzte er auf: „Dann werd ich wohl mal mit dem Packen anfangen."
Ennis trat das Gaspedal durch. Die Idee, seine Mädchen noch einmal zu sehen, ließ sein Herz höher schlagen, obwohl er keine Ahnung hatte, was er ihnen sagen sollte. „Reden, Du musst einfach nur reden", versuchte er sich selbst Mut zuzusprechen. In Gedanken versunken passierte er die Ortseinfahrt von Riverton und bog in die Straße ab, die zur Schule führte.
Das Auto von McGill, das ihm entgegenkam und den hasserfüllten Blick, den dieser ihm zuwarf, bemerkte er nicht.
