Ennis parkte in einiger Entfernung vom Schultor. Soweit er es sehen konnte, lag der Schulhof verlassen da. Wenn er Glück hatte, waren die Kinder noch im Unterricht. Er stieg mit klopfendem Herzen aus, ging langsam in Richtung Schule und stellte sich in den Schatten einer großen Platane. Von dort hatte er eine gute Sicht auf den Ausgang.
Es war still auf den Straßen und Ennis lehnte sich mit dem Rücken an den Baum, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, den Kopf gesenkt, seinen Hut ins Gesicht gezogen. Seine Gefühle fuhren Karussell. Das erste Mal seit einigen Tagen war er mit sich und seinen Gedanken alleine, fing an zu erfassen, welche Wendung sein Leben genommen hatte. Er dachte an die letzten Tage, an Jack und wie sehr er seine Gesellschaft genossen hatte, wie wunderbar sich das Leben auf einmal anfühlte. Es war nicht nur das körperliche – so glaubte er zumindest – was die beiden miteinander verband. Nein, da war mehr, das spürte er, konnte aber nicht genau definieren, worin dieses „mehr" bestand.
Er hatte nie zuvor so für einen Menschen empfunden, hatte nie zuvor von einem Menschen so viel an Zuneigung, Vertrauen und Hingabe empfangen. Die Macht der Gefühle, die Jack ihm vermittelte und die Ennis augenscheinlich in ihm auslöste, machten Ennis oft verlegen und unsicher, weil er nicht wusste, warum genau Jack so für ihn empfand und ob er, Ennis, diese Gefühle überhaupt verdient hatte. Gleichzeitig erfüllte es ihn mit Stolz und Freude und es gab ihm das Gefühl, wichtig zu sein, gebraucht zu werden. Es fiel ihm schwer zu begreifen, ob das, was er selbst für Jack empfand, tatsächlich Liebe war.
Aber egal wie man es nennt, für ihn, für Ennis, übertraf es alles bisher da gewesene, es öffnete ihm eine neue Welt, gab ihm neuen Zugang zu sich selbst. Ennis fühlte, wie er noch nie gefühlt hatte. In Jacks Gegenwart wurde er lebendig, bekamen seine Bewegungen eine neue Geschmeidigkeit, fiel das Starre und Unnahbare ab, vollführten seine Gedanken die ersten Luftsprünge seit vielen, vielen Jahren. Er spürte, dass er in Jacks Gesellschaft seine schützende Hülle verlassen und sich ihm vertrauensvoll hingeben konnte.
Dieses Wissen berührte ihn zutiefst und beschämte ihn umso mehr, als er sich eingestehen musste, dass er trotz dieser unsagbar tiefen Bindung zu Jack in den letzten Jahren immer wieder an den Punkt kam, dass er leugnete. Er leugnete, Jack zu lieben, er leugnete, eine Beziehung zu ihm zu haben – ja, manchmal leugnete er sogar, dass Jack ein Mann ist.
Erst in den letzten Wochen war er aus dieser Starre erwacht. Die Schuld, Jack so tief verletzt zu haben und die Angst, ihn aufgrund dessen zu verlieren, hatten ihn beinahe um den Verstand gebracht und er fing an sich zu fragen, was in Zukunft schwerer zu ertragen sein würde: die Angst vor dem Tod durch einen wütenden Mob, der mit ihrer Lebenseinstellung nicht einverstanden war oder die Angst, den Rest seines Lebens mit der Erinnerung von Jack leben zu müssen.
Die Angst, sie war übermächtig in seinem Leben – schon immer gewesen - und Ennis richtete sein Leben danach aus, dass diese Angst nie Realität werden würde. Er versteckte sich, er versteckte seine Gefühle, er versteckte Jack. Erst durch die neue Angst, Jack zu verlieren, verlor die alte Angst ihr schreckliches Gesicht.
Die Vorstellung, ohne Jack leben zu müssen, war unerträglich. Sie verursachten ihm körperliche Schmerzen, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Nichts konnte sie stillen – weder Arbeit, noch Alkohol – und das machte ihm Angst. Die Vorstellung, Jack nie wieder berühren zu können, nie wieder sein Lachen zu hören, nie wieder neben ihm liegen zu können, ließen ihn eine nie da gewesene Verzweiflung spüren. Die Vorstellung ohne Jack leben zu müssen war für ihn gedanklich einfach nicht fassbar, die Konsequenzen zu entsetzlich, so dass ihm die Entscheidung letztendlich leicht viel.
Und er hatte sich entschieden. Für Jack, für ein Leben, für eine Zukunft mit ihm und der Gedanke, dass Jack in seinem Haus auf ihn wartete, erfüllte ihn mit einem nie da gewesenen Glücksgefühl.
Und er war bereit, die Konsequenzen zu tragen, die diese Entscheidung mit sich brachte.
Und deswegen stand er jetzt vor dem Schultor, um seine beiden Mädchen abzufangen. "Komm Feigling, vom Sprechen ist noch niemand tot umgefallen. Es wird schon gut gehen, Cowboy ", hörte er Jacks Stimme in seinem Kopf und sah vor seinem inneren Auge wie Jack ihn dabei anlachte und ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte.
Ennis nickte leise lächelnd, atmete tief durch, hob den Kopf, streckte seine Schultern. Er war bereit. Er war bereit, weil Jack ihm in Gedanken beistand.
