„Ennis, bitte halt mich. Halt mich fest und lass mich nie wieder los", wisperte Jack. Kraftlos hing er in Ennis Armen, erschöpft von dem langen Tag. Zuerst die Fahrt nach Childress, dann der Brief von Lureen, das Hin- und Her mit dem Maklerbüro, Papiere unterzeichnen, Haus ausräumen – und dann noch das Gespräch mit Lureen, zu dem Ennis ihn gedrängt hatte, nachdem Jack ihm wortlos den Brief gezeigt hatte.

„Jack, ich halte Dich, ich lass Dich nicht los, das ist ein Versprechen, hörst Du?" Ennis nahm Jacks Gesicht sanft zwischen seine Finger und sah in seine Augen. „Siehst müde aus", flüsterte Ennis. „Deine Augen sind rot – war es so schlimm?"

„Ennis, es war schlimm und doch wieder nicht schlimm. Lureen wollte alles wissen – und ich hab ihr alles erzählt. War ich ihr schuldig. Sie hat es gut aufgenommen, aber ich habe in der letzten halben Stunde die letzten dreizehn Jahre noch einmal durchlebt, Cowboy. Das war einfach zu viel für heute. Zu viel für mich." Kläglich blickte er Ennis an.

„Komm her", wisperte Ennis, nahm Jack erneut in die Arme und hielt in lange wortlos fest an sich gedrückt. Er spürte Jacks Herzschlag, vergrub sein Gesicht in Jacks Halsbeuge und genoss das Gefühl, ihn sicher und beschützt in seinen Armen zu halten. Er gehörte zu ihm, Jack war sein Mann, sein Leben, seine Vergangenheit und seine Zukunft.

Vorsichtig führte er ihn rückwärts zum Bett und ließ Jack auf die Bettkante setzen. Ennis kniete sich vor ihn und nahm Jacks Hände in seine. Gedankenverloren streichelte er sie. Seine Augen folgten den Bewegungen seiner Daumen, die sanft die Knöchel von Jacks Händen umspielten.

„Jack, ich hatte heute und in den letzten Tagen viel Zeit zum Nachdenken", sagte Ennis nach einiger Zeit ruhig. „Ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, darüber zu sprechen, aber nach dem Brief von Lureen ... nun ... für vieles mache ich mich verantwortlich und ich würde Dir gern etwas sagen. Ist das ok für Dich?"

Jack nickte.

Ennis holte tief Luft. „Jack, es tut mir so unendlich leid, was ich Dir in den letzten Jahren zugemutet habe." „Ennis, Du musst Dich nicht ..."

„Jack, lass mich ausreden. Ich weiß, dass ich mich nicht entschuldigen muss, für etwas, was ich all die Jahre nicht verstanden habe und nicht ändern konnte. Aber jetzt habe ich es verstanden und jetzt fange ich an zu begreifen, wie es für Dich gewesen sein muss ... und ... nun möchte ich mich aus tiefstem Herzen entschuldigen. Verstehst Du?"

Jack nickte kraftlos – um gleich darauf den Kopf zu schütteln.

„Nein, Ennis, ich glaube, ich verstehe nicht so ganz, was Du mir sagen willst", gab er kleinlaut zu. Ennis blinzelte und grinste ihn schief an.

„Na, ich übe noch, Jack. Hab Geduld mit mir." Ernsthaft fuhr er fort: „Jack, was ich Dir sagen will ist: Seit Brokeback ist mein Leben ein einziger Dunstschleier gewesen. Bin vom Berg runter gekommen, wir haben uns verabschiedet, ich hab mir hinter der nächsten Ecke die Gedärme aus dem Leib gekotzt. Hab gedacht, ich hätte mir irgend einen Virus eingefangen. Das hörte aber auch nach Tagen nicht auf, nach Wochen nicht – und irgendwann hab ich mir gedacht, ich habe den schlimmsten Fehler meines Lebens gemacht, dass ich Dich zurück gelassen habe." Jack stöhnte leise auf. „Oh Ennis", wisperte er und umklammerte seine Hände.

Ennis blickte Jack traurig an. „Der schlimmste Fehler meines Lebens, Jack", flüsterte er mit gebrochener Stimme. „Der zweitschlimmste Fehler war, dass ich Alma geheiratet habe. Ich hätte es nicht tun dürfen. Hab während der ganzen Trauung an Dich gedacht. Alma war für mich ... hmm ... ich mochte sie und ich ... nun ja ..." Ennis hielt die Luft an, zögerte - und dann brach es aus ihm heraus:

„Ach Scheiße Jack, nennen wir die Dinge beim Namen: Alma war für mich ein guter Vorwand, mir keine Gedanken um Dich zu machen, Brokeback zu vergessen. Verdammt, mein Dad hatte wirklich gute Arbeit geleistet, mir und meinem Bruder klar zu machen, dass Liebe zwischen zwei Männern die größte Sünde und das mit Abstand Abscheulichste ist, was es gibt.

Verstehst Du Jack? Ich hab das all die Jahre nicht zusammen bekommen: meine Gefühle für Dich und das, was mein Alter mir eingetrichtert hat. Also hab ich das gemacht, was man von mir erwartete. Hab versucht, Dich zu vergessen. Vier Jahre lang. Hab geknüppelt wie ein Verrückter, hab mit Alma zwei Kinder in die Welt gesetzt – hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken, war froh, dass wir überlebt haben – irgendwie."

Ennis hielt erschöpft inne. „Cowboy, wo kommen auf einmal all die Worte her?" flüsterte Jack ungläubig. Ennis lachte leise. „Schätze, die hab ich mir in den letzten dreizehn Jahren für einen besonderen Moment aufgehoben", sagte er und blickte Jack verlegen an.

„Wie dem auch sei Jack, eines Tages kam Deine Postkarte und das hat mir den Boden unter den Füßen weg gezogen. Auf einmal war alles wieder da. Brokeback ... alles. Hab noch nie so ungeduldig auf einen Tag gewartet, hatte noch nie so viel Angst, dass Du doch nicht kommst. Und als ich Dich dann wieder gesehen habe – Himmel, Jack, ich glaube, das war der beste Tag meines Lebens." Ennis blickte Jack mit leuchtenden Augen an und beide versanken für einige Minuten in der Gegenwart des anderen, erinnerten sich an ihren ersten Kuss nach vier Jahren.

„Jack, aber selbst da hab ich es noch nicht begriffen", fuhr Ennis irgendwann mit brüchiger Stimme fort. „Hab einfach nicht verstanden, was ich für Dich fühle. Verstehst Du, es existierte für mich kein Wort dafür. Und immer wieder war mein Dad in Gedanken da. Und dann Alma, die Kinder, die ich versorgen musste, versorgen wollte. Ich war so hin- und hergerissen und wenn ich an Dich gedacht habe, hat es so weh getan, dass ich es kaum ausgehalten habe.

Wenn wir uns dann getroffen haben, hab ich die Zeit davor und danach vergessen. Hab nur für diese Momente gelebt – und hab es nicht gewusst. Verdammt Jack, was hab ich bloß getan. Dreizehn Jahre. Dreizehn beschissen lange Jahre. Gott, es tut mir so leid ..." Ennis stöhnte auf, vergrub seinen Kopf in Jacks Schoß und umklammerte ihn mit beiden Armen. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper.

Jack schlang die Arme um Ennis und streichelte seinen Rücken, unfähig auch nur irgendetwas zu sagen.

„Jack, vor einem Monat ist irgendetwas in mir gebrochen", fuhr Ennis mit erstickter Stimme fort.

„Ich weiß auch nicht. Als ich Dich hab wegfahren sehen und dachte, ich seh Dich nie wieder ... es war nicht nur die Angst, Dich nicht wieder zu sehen, so wie ich Dir das vor drei Tagen am See gesagt habe. Hab auf einmal gedacht, wenn die Angst, Dich zu verlieren so viel größer ist als die Angst vor Leuten wie meinem Dad, wenn der Schmerz, über den Verlust von Dir unerträglicher ist, als alles, was ich bisher erlebt habe, dann muss das Liebe sein. Und dann Jack, dann hat es ‚klick' gemacht und ich hab meinem Dad in Gedanken gesagt, wenn das Liebe ist, dann kann es niemals abscheulich und niemals so verwerflich und gegen Gottes Willen sein, wie er mir das immer hat weiß machen wollen. In dem Moment bin ich auf dem Boden aufgeschlagen. In dem Moment war alles so klar." Ennis hob seinen Kopf. Sein Gesicht war angespannt, sein Mund fest zusammen gepresst vor Anstrengung, nicht die Fassung zu verlieren.

Jack blickte ihn mit Tränen in den Augen an. „Mein Gott, Ennis, ich weiß nicht, was ich sagen soll", flüsterte er.

Ennis sah Jack an, sah in seine tiefblauen Augen, umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn hingebungsvoll.

„Jack, Du musst nichts sagen. Es ist an mir, Dir das zu sagen, was Du seit dreizehn Jahren verdienst zu hören. Ich liebe Dich, hörst Du? Ich werde niemals genug Worte haben, Dir zu sagen wie sehr ich Dich liebe", wisperte Ennis.

Jack schluckte und sank kraftlos von der Bettkante hinunter auf Ennis Schoß. Er blickte Ennis an, sah in seine Augen, sah darin die Liebe und Freude, die zu Jack sprach und schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Wenn ich jetzt sterben sollte", dachte Jack „dann sterbe ich als glücklicher Mann."

Aber Ennis ließ ihn nicht sterben. Ennis küsste ihn, lange, zärtlich und Jack hatte das Gefühl, in der Unendlichkeit zu schweben. Es war nicht brennende Leidenschaft, die sie in dieser Nacht zusammen kommen ließ, es war Liebe, süßes Verlangen und die Erfüllung einer Sehnsucht, die vor dreizehn Jahren in der einsamen Bergwelt von Wyoming geboren wurde.