Jack erwachte einige Stunden später, immer noch erfüllt, von dem Gedanken an leidenschaftliche Stunden mit Ennis. Vorsichtig rollte er sich aus Ennis' Umarmung, um ihn nicht zu wecken. Er setzte sich auf und sah auf das Wunder an seiner Seite hinab.
„Ennis del Mar", dachte er staunend. „Endlich bist Du hier – und es sind erst sechs Tage vergangen. Sechs Tage. Sechs verdammte Tage und mein komplettes Leben hat sich gedreht. Endlich. Zum besseren – hoffentlich für uns beide. Sechs Tage... Unter anderen Umständen würden wir heute schon wieder auf dem Weg nach Hause sein. Ennis nach Riverton, ich nach Childress. Wieder getrennt für lange, elende Monate. Oh Gott ! Wie hab ich das nur ausgehalten? Wie? Wie konnte ich ihn jemals fahren lassen, damals am Brokeback. Wenn ich nur gewusst hätte, dass ... Aber wäre er damals mit mir mit gekommen?
Oh Gott, ich kann's immer noch nicht fassen, dass er bleibt. Bleibt er? Hoffentlich bleibt er! Was, wenn nicht? Oh, nicht dran denken, nur nicht dran denken. Scheiße, wenn er geht – das überlebe ich nicht. Niemals, kein weiteres Mal. Ich weiß nicht, wie oft mein Herz gebrochen ist, ich halte das kein weiteres Mal aus. Diese Schmerzen, diese furchtbaren Schmerzen. Diese Sehnsucht – es hat mich fast umgebracht. Verdammt, es hat nicht viel gefehlt, und ich hätten mich in wenigen Monaten zu Tode gesoffen. Und jetzt: seit sechs Tagen keinen einzigen Tropfen. Hurra !
Himmel, was hat dieser Mann an sich, dass der das bewirkt, dass er mich anzieht, wie der Honig die Bienen? Die meiste Zeit sag er kein Ton, er ist knorrig wie ne alte Eiche und stur wie ein Esel. In all den Jahren hab ich ihn nie sagen hören, dass er mich liebt. Nie! Und trotzdem – ich wusste es immer. Wie er mich ansieht, vor allem, wenn er denkt, dass ich es nicht sehe. Ich kann ihn lesen wie ein Buch. Ich weiß immer, was er denkt und fühlt. Und ich weiß, dass er zuhört. Oh ja, jedes Wort, alles – auch das, was ich nicht sage. Ich muss mich nicht verstecken bei ihm. Und ich fühl mich so sicher, wenn ich bei ihm bin, geborgen, aufgehoben. Beschützt. Gott, ich hör mich an wie ne Frau – Ennis würde kotzen, wenn er das hört – aber so fühle ich. So ist es. Und so ist es gut. Für mich. Für ihn. Für ihn auch? Ja, ich glaube schon.
Er sagt es nicht, aber ich merke es. Er lacht mehr. Gott, wie ich sein Lachen liebe. Es kommt ganz tief aus ihm heraus. Als würde es sich dort verstecken und nur darauf warten, dass es jemand findet. Ich würde mein Leben dafür geben, ihn lachen zu hören. Und wie sein Gesicht dann strahlt. Seine Augen. Es ist ein Geschenk. ER ist ein Geschenk. Und ich glaube, ich bin der einzige, der ihn so zum Lachen bringt. Bin ich der einzige? Hoffentlich. ... Hoffentlich nicht ! Das wäre so traurig. Hat er in der Zeit, wenn wir uns nicht gesehen haben, nicht gelacht? Ich weiß es nicht. Aber jetzt tut er es und ich bin so froh darüber. Er ist viel lockerer geworden, entspannter, wenn man bei ihm überhaupt von einem entspannten Mann reden kann ... immer diese Angst, die ihn fast umgebracht hat. Ich versteh diese Angst nicht. Ich habe nie so gefühlt. Zum Glück. Wie furchtbar für ihn. Ich will ihn so gerne beschützen. Ihn diese Angst nicht mehr fühlen lassen, wenn er mich lässt.
Himmel, er ist permanent auf der Flucht. Dreizehn verdammte Jahre hab ich versucht, ihn einzufangen. Hoffentlich jetzt für immer. Ennis, ich wird nicht zulassen, dass Dir was passiert !
Mein Mann. MEIN Mann – mein Lebensretter !
Oh, er wird wach. Hab ich so laut gedacht! Nicht bewegen, Twist. Schau in Ruhe zu, wie er wach wird. Da ... ha, ich wusste dass das kommt, er reibt sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er die Schatten der Nacht vertreiben. ... Genau, jetzt presst er Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel. Die Nase ist noch dran, Ennis, hab sie nicht abgebissen ... Sollte ich mal versuchen ... könnte lustig werden ... Jetzt streckt er seine Beine ... Katzenbuckel, ja genau, der hat noch gefehlt und jetzt ... tiefes Einatmen ... komm schon, Ennis, mach Deine wunderschönen Augen auf. Schau mich an und sag mir, dass Du mich liebst ... Jetzt ... Gott, ich könnte sterben, für diesen Blick."
„Na, von den Toten auferstanden, Cowboy?", fragte Jack mit warmer Stimme.
„Hmmmmm, wiespätisses?"
„Keine Ahnung, früher Nachmittag, schätze ich. (kurze Pause) Bist Du wach?"
„Jack, noch red ich nicht im Schlaf, ja, ich bin wach. Was soll die Frage?"
„Wollt nur sicher gehen. Pass auf, Ennis, hab mir ein paar Gedanken gemacht."
„Oh nein, Twist der Denker ist in Aktion. Das halt ich nicht aus. ... Jack, ich schlaf doch noch ..."
„Halt die Klappe, Ennis und hör mir zu. Wir rufen jetzt gleich in Concord an."
„Concord?"
„ENNIS! Concord, Ranch, Paul und George. … Verdammt, muss ich vorhin gut gewesen sein. Ennis del Mar hat sich den Verstand weggevögelt ... wer hätte das gedacht." Jack lachte laut auf.
„Arschloch," fluchte Ennis halblaut vor sich hin. Er war eindeutig noch nicht in der Stimmung für schlüpfrige Witze. „Concord, ja, anrufen, ok, hab's ja jetzt verstanden. Wer ruf an?"
„Wir werfen ne Münze"
„O ... ok."
„Vertrau mir, Ennis. Mich hat das Glück noch nie verlassen. Mist, wo war ich stehen geblieben?"
„Na, Jack, wie war das mit Gehirn und vögeln und so, hu?" Ennis wurde langsam wach.
„Ruhe, Ennis, störe meine Kreise nicht."
Ennis verdrehte die Augen. „Dieser Klugschwätzer macht mich wahnsinnig!"
„Ach ja, jetzt fällt's mir wieder ein. Wenn wir in Concord angerufen haben, mach ich mich für ne Stunde vom Acker. Ich will mich doch noch von Bobby verabschieden, Ennis, kommst Du solange klar?"
„Oh, Jack, jetzt hör aber auf ! Behandle mich nicht wie ein kleines Kind. ‚Türlich komm ich klar – was soll denn die Frage?" Ennis hob die Stimme. Langsam wurde es ihm zu viel.
„Ok ... ok, Ennis. War nicht so gemeint. Gut, also, wenn ich von Bobby zurück komme, dann packen wir unsere Sachen und fahren morgen früh los. Ich habe mir überleg, Ennis, wenn es Dir recht ist ... hm ... hu ... es ist ein Umweg ... aber ich würd doch gern noch mal bei meinen Eltern vorbei schauen. Meine Ma wird mich so schnell nicht wieder sehen, schätze ich. Die regelmäßigen Fahrten nach Wyoming sind ja vorbei – und dieses Mal rechnet sie noch mit mir. Ich dachte ja nicht ... also ..." Jack hielt inne.
Ennis blickte auf, sah die Unsicherheit in Jacks Augen und lächelte. „Komm her, Liebling", flüsterte er und zog Jack in seine Arme.
„Wir machen alles so, wie Du es Dir in Deinem hübschen Kopf ausgedacht hast. Jack, ich bin nicht scharf auf Deinen Alten, hab' Horror, um ehrlich zu sein. Aber wenn es Dir wichtig ist, dann machen wir das. Und, Jack, wenn es für meine Ma wäre ... ich würde auch fahren." Jack seufzte erleichtert auf. „Gott, Ennis, ich liebe Dich", wisperte er in Ennis Ohr. „Ich Dich auch, Rodeo. Ach ... und dass Du Bobby noch mal sehen willst – das find ich großartig. Ich hatte schon Angst, Du würdest fahren, ohne ihn noch einmal zu sprechen."
„Die Angst hatte ich auch, Ennis. Ich war kurz davor." Jack hielt kurz inne, dann setzte er sich spontan auf. „Ok, Ennis, werfen wir die Münze. Kopf oder Zahl."
Ennis seufzte auf. Jack's Stimmungsschwankungen forderten ihn doch immer wieder aufs Neue. „Kopf".
Jack hangelte sich seine Hose, die vor Stunden vor dem Bett gelandet war und nestelte in seiner Hosentasche, bis er eine Münze gefunden hatte. Er warf sie hoch in die Luft, fing sie zwischen dem Handrücken seiner linken und der Handinnenfläche seiner rechten auf, hob die Rechte hoch „Kopf", sagte er und blickte Ennis an, der merklich zusammen zuckte.
Widerstrebend erhob er sich und wollte zum Zimmertelefon gehen, als Jack ihn zurück zog und küsste. „Ennis, ich hab Dir doch gesagt, dass mich mein Glück noch nie verlassen hat. Das eben war ... ein Übungswurf und ich denke, ich werf einfach noch einmal, ok?" Ennis grinste erleichtert, Jack warf die Münze noch einmal – griff nach der „Cattle Ranch" und dem Telefon und wählte.
„Oh ... Hallo ... Hier spricht Jack Twist. JACK TWIST ! Ich rufe an wegen Ihrer Anzeige in der „Cattle Ranch". ANZEIGE ... „CATTLE RANCH". Ja, ok, ich warte." Jack verdrehte die Augen und bedeckte den Hörer mit einer Hand und flüsterte Ennis zu:
„Das war George. Er hört nicht mehr so gut. Er holt jetzt Paul. Hoffentlich hört der besser, sonst bin ich nachher heiser. ... Wie? .. oh ja ... Hallo Paul, hier spricht Jack, Jack Twist. Ich rufe an, wegen der Anzeige in der „Cattle Ranch". ... Ja ... Ja ... aha ... oh wie schrecklich. Hmm. Ja, ich wollte fragen ... ja ok. Nein, ich bin nicht mehr ... nur noch so halb verheiratet. Ja. ... Ja, einen Sohn. Nein, der kommt nicht mit. ... Mit wem? ... Oh ... äh ... mit meinem ... äh Partner - Geschäftspartner, um genau zu sein. ... Ja, ja genau, wir beide gemeinsam. Ja. ... Nein, er ist nicht verheiratet. ... Ein klares ja, zum geschieden sein. Genau. ... Nein, keinen Sohn, zwei Mädchen ... nein, sie werden nicht dort wohnen."
Ennis verdrehte die Augen und versuchte, an Jack's Augen abzulesen, was dort gerade vorging, aber Jack hatte den Kopf abgewandt, so dass Ennis nichts sehen konnte. Langsam kroch er an Jack heran, um eventuelle Mitschnitte vom Telefonhörer mitzubekommen. Nichts. Niente. Nada. Er konnte nichts verstehen. Frustriert warf er sich in die Kissen und übte sich in Geduld. Es schien, als hätte Jack Twist einen Seelenverwandten getroffen. „Gib Jack einen Grund zu reden – und er macht es", dachte Ennis entnervt.
Er hörte, wie Jack laut auflachte und konzentrierte sich auf das Geschehen. „Ja, Paul ...das kenne ich. Genau ... still wie ein Grab ... genau ... man wundert sich ... exakt ... . Wo wir herkommen? Riverton und Lightning Flat, Wyoming. … Paul … alles ok, sind Sie noch dran? … oh, dachte schon ... Ach, tatsächlich? ... Das ist ja ein Ding. Ja, die Welt ist klein. ... Ja, das machen wir. Also dann sehen wir uns in vier Tagen. ... Gut, das ist sehr gut, ich freue mich. Bis dann."
Jack legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich zu Ennis um, ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. „Ennis, ich hab's Dir gesagt. Das ist unsere neue Ranch."
„Twist, lass Dir nicht alles aus der Nase ziehen! Erzähl. Was hast Du überhaupt so lange gequatscht?"
„Ach, Ennis, Paul kam vom Hundertsten ins Tausendste."
„Sag bloß, Jack. Das war ja mal ne richtig neue Erfahrung für Dich, was?" Ennis lachte.
„Hör auf, Ennis. Also: die Ranch ist noch nicht verkauft. Es waren ein paar Interessenten da, aber laut Paul ‚alles gelackte Ärsche, denen er ums Verrecken nicht seine Ranch überlassen will'. Na ja, Paul und George wollen und müssen jedenfalls verkaufen. George hatte vor sechs Monaten einen Herzschlag und seit dem hört er nicht mehr so gut und kann auch eine Hand nicht mehr richtig bewegen. Na ja und alleine kann Paul das alles nicht mehr machen – und die beiden wollen sich jetzt zur Ruhe setzen und das Leben genießen, wie er es mir gesagt hat. Er hat lange auf George eingeredet, bis der zugestimmt hat und selbst gemerkt hat, dass er nicht mehr kann – na ja und jetzt suchen sie würdige Nachfolger. Und – das sind wir. Ach, und das lustigste: Paul kommt auch aus Wyoming. Was sagt man dazu? Das ist SCHICKSAL, mein Freund, ich spür's im Urin."
„Uh, Jack, große Worte ... Was soll die Ranch denn kosten und wie groß ist sie und was machen die dort überhaupt?"
„Äh ..." Jack schluckte verlegen. „Da haben wir nicht drüber ... ich mein, Paul hat mich kaum zu Wort kommen la..."
„JACK!"
„Shit ... Ennis, es tut mir leid, da hab ich nicht nach gefragt." Jack blickte Ennis verlegen an und vergrub seinen Kopf an Ennis Hals. „Hab mir mein Gehirn wohl doch weggevögelt, Ennis. War so aufgeregt – ich hab's vergessen."
Ennis gluckste und seufzte leise. „Jack, wie er leibt und lebt. Ich wird's überleben, Süßer. In vier Tagen werden wir es genauer wissen. Und jetzt zieh Dich an, Rodeo, Dein Sohn wartet auf Dich."
