Anmerkung vorab:
Bevor ich mich wieder Ennis und Jack widme, fand ich, musste Jack noch eine wichtige Aufgabe erfüllen und zwar mit Bobby reden. Ich hatte im Film immer das Gefühl, dass Ennis und seine Töchter ein unsichtbares Band zwischen sich gesponnen haben und sich auch ohne viele Worte verstehen. Jack ist eigentlich nicht der Typ für unausgesprochene Worte und ich hatte das Gefühl, dass er die Beziehung zu seinem Sohn nie wirklich realisiert hat in ihrer Wichtigkeit für ihn selbst.

Und da Bobby in meinem "Alternativen Universum" noch eine Rolle spielen wird, war es mir wichtig, dass beide sich aussprechen, daher nimmt das Gespräch hier noch einmal etwas mehr Raum ein.

Danach - versprochen - geht es zurück zu Ennis und Jack ...


„Daaadddyyy!" jubelte ein helle Stimme und ehe Jack sich versah, wurde er überrollt von einem Knäuel Arme und Beine. Feuchte Lippen herzten sein Gesicht, kleine Arme schlangen sich um seinen Hals und drückten zu. Drückten feste zu.

„He, kleiner Mann", röchelte Jack lachend. „Lass mich am Leben. Du erdrückst Deinen Daddy." Liebevoll befreite er sich aus der Umklammerung seines Sohnes, der ihn mit leuchtenden Augen strahlend anblickte.

„Daddy, ich hab Dir so viel zu erzählen... Ich war bei Jordan, wir waren reiten und Jordans Eltern haben mit zum Rodeo mitgenommen am Wochenende. Weißt Du, was wir dort gemacht haben? ... Daddy, Daddy ... und guck mal, ich habe jetzt auch einen schwarzen Cowboy-Hut – wie Du. Weißt Du wie ich den bekommen habe?"

Jack lachte. „He, Bobby, mir klingeln die Ohren. Halt mal fünf Sekunden die Luft an, ich will nur kurz mit Deiner Mama sprechen und dann gehen wir und Du kannst mir alles erzählen, ok? Warte ne Sekunde hier im Wagen, ich bin gleich wieder da."

Jack schloss die Autotür und überließ seinen aufgeregten Sohn sich selbst, während er mit langsamen Schritten auf Lureen zuging, die einige Meter entfernt die Szene beobachtet hatte. Jack hatte sie vor einigen Stunden im Büro angerufen und sie gefragt, ob er Bobby vor seiner Abreise noch einmal sehen kann. Lureen willigte ein und sie verabredeten sich in der Stadt.

„Hallo Lureen", sagte Jack mit einem verlegenen Lächeln und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen.

„Hallo Jack. Du siehst ... gut aus." Jack errötete und blickte zu Boden. „Dein neues Leben tut Dir gut", stellte Lureen sachlich fest und Jack nickte.

„Du hast Deinem Sohn eine sehr große Freude gemacht, dass Du gekommen bist. Ich habe ihm noch nichts von unserer Scheidung erzählt. Er denkt, Du bist von Deinem Angel-Ausflug zurück, Jack. Ich überlasse es Dir, was Du ihm erzählst", fügte Lureen hinzu.

Jack nickte ernst. „Ich weiß das zu schätzen, Lureen. Ich werde achtsam mit ihm umgehen, darauf kannst Du Dich verlassen."

„Das weiß ich." Lureen zögerte und fügte hinzu. „Jack, wir waren beide so jung, als wir Bobby bekommen haben. Er war nicht geplant und wir beide wollten keine Kinder. Dennoch, Jack, ich liebe Bobby und er liebt mich. Aber was Dich angeht – Jack, ich glaube, Dir ist das nie klar geworden – Bobby vergöttert Dich. Jedes Mal, wenn Du auf Deinen Angelausflügen warst, hat er mich mit Fragen gelöchert, wo Du bist, was Du machst, ob Du wiederkommst und ob Du dann mit ihm zu Rodeo gehst oder wieder mit ihm die großen Landmaschinen auf LD's Hof fährst. Und, und, und ..." Sie seufzte.

„Jack, ich habe Dir das nie erzählt. Es hat sich nie die Gelegenheit ergeben, weil Du vor und nach Deinen Reisen wochenlang nicht ansprechbar warst. Aber Du solltest es jetzt wissen. Du wirst ihm das Herz brechen. Sei darauf gefasst."

Jack schossen Tränen in die Augen und er blickte schnell zu Boden. Mit brüchiger Stimme sagte er: „Lureen, auch wenn ich nie Kinder wollte, ich liebe Bobby mehr als mein Leben. Und ich werde ihn vermissen, mit jeder Faser meines Herzens. Ich werde immer für ihn da sein und ich bitte Dich, mich anzurufen, wenn er mich braucht. Versprich mir das!" Flehend blickte er seine Ex-Frau an.

Sie nickte. „Wo wirst Du hingehen, mit ... mit ihm?"

„Er heißt Ennis, Lureen. Wir gehen nach New Hampshire. Wir werden uns dort in vier Tagen eine Ranch anschauen, die zum Verkauf ansteht. Davor fahren wir zu meinen Eltern nach Lightning Flat."

„Oha, du führst ihn also auch in Deine Familie ein, Jack. In den Genuss bin ich nie gekommen", fügte sie bitter hinzu.

„Lureen, bitte. Abgesehen davon – ein Genuss ist es für ihn nicht, und für Dich wäre es auch keiner gewesen. Mein Dad ist ein alter Bastard. Es gibt also nichts zu bedauern."

„Das kann man so oder so sehen", sagte Lureen leise und blickte an Jack vorbei in die Ferne. Einige Sekunden vergingen in unangenehmen Schweigen. Schließlich straffte Lureen ihre Schultern. „Jack, Zeit ist Geld. Ich muss zurück ins Büro. Du hast den Nachmittag und kannst ihn mit Bobby verbringen. Wir treffen uns in drei Stunden wieder hier."

Sie wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort davon. Jack seufzte und wappnete sich für die drei Stunden, die vor ihm lagen.

Eine halbe Stunde später saßen Bobby und Jack einträchtig nebeneinander unter einem Baum im Park in der Innenstadt von Childress und aßen ein Eis. Bobby hatte seinen Daddy mittlerweile auf einen aktuellen Stand gebracht, was die letzten Abenteuer des kleinen Mannes anging und Jack hatte mit Staunen, Freude und einer großen Portion Wehmut an seinen Erzählungen teilgenommen.

„Daddy, nächstes Wochenende ist wieder ein Rodeo im Nachbarort. Gehst Du mit mir dort hin?", fragte Bobby, nachdem er sein Eis aufgegessen hatte und sich mit vollem Bauch zufrieden an Jack gelehnt hatte.

Jack umarmte seinen Sohn vergrub seine Nase in Bobbys Haaren und atmete tief durch.

„Bobby", sagte er leise. „Ich werde nächstes Wochenende nicht mit Dir mitkommen können."

„Warum nicht?"

„Komm her, Sohn. Setz Dich auf meinen Schoß und schau mich an. Ich kann nicht mit Dir mitkommen, weil ich nächste Woche nicht mehr hier sein werde."

„Aber Daddy, Du wohnst doch hier. Wo bist Du denn dann? Gehst Du wieder angeln?"

„Nein, Süßer, ich gehe nicht angeln." Jack blickte zu Boden, um den blauen Augen seines Sohnes auszuweichen. Er wand sich innerlich. „Verdammt, wie sag ich einem zehnjährigen, dass seine Eltern sich scheiden lassen und sein Daddy mit einem Mann zusammen leben wird? Ich hab verdammt noch mal keine Erfahrung in solchen Gesprächen. Versau es nicht, Twist, versau es nicht!"

Jack blickte hoch und zwei paar blaue Augen trafen aufeinander. „Bobby, Du bist ein wundervoller Junge und was ich Dir jetzt sagen werde, wird Dich auf einen Schlag erwachsener werden lassen, als Du es Dir wünschst – als ich es mir wünsche. Aber Du bist mein Sohn und ich liebe Dich und ich möchte, dass Du verstehst, dass das, was in Zukunft passieren wird, nichts mit Dir zu tun hat und nichts davon Deine Schuld ist. Verstehst Du das?" Jack umfasste das Gesicht seines Sohnes liebevoll mit beiden Händen und strich ihm sanft die schwarzen Haare aus der Stirn.

Bobby blickte ihn ernst an und nickte.

„Bobby, Deine Mama und ich ... wir ... wir werden nicht mehr zusammen wohnen. Ich werde ausziehen, kleiner Mann. Ich gehe nach New Hampshire."

Bobbys Augen weiteten sich vor Schreck. „Daddy", sagte er mit zitternder Stimme. „Was ist New Hampshire? Und warum geht Mami nicht mit?"

Jack blickte in die Augen seines Sohnes, die sich langsam mit Tränen füllten. Jack nahm einen kleinen Ast zur Hand und zeichnete die Umrisse der USA in den Boden neben sich. „Schau Bobby, das ist Nordamerika. Hier ist Texas und hier oben ist New Hampshire." Jack fuhr mit dem Ast von Texas nach New Hampshire und schlagartig wurde ihm klar, wie weit weg er gehen würde. Er schluckte und sah Bobby an.

„Es ist sehr weit weg, Bobby. Mit dem Auto braucht man zwei Tage, vielleicht drei. Mit dem Flugzeug geht es viel schneller", fügte er mit brüchiger Stimme hinzu. Bobby sagte nichts. Schnell fügte Jack hinzu: „Du kannst mich besuchen, wann immer Du willst. Du kommst mit dem Flugzeug und ich hole Dich vom Flughafen ab. Was hältst Du davon?"

Bobby schüttelte langsam den Kopf. „Warum?", fragte er nur. Jack hielt inne. Bobby war erwachsen geworden – wie er es vermutet hatte. Und Jack schuldete ihm eine Antwort.

„Bobby, Deine Mama und ich, wir lieben uns nicht mehr. Wir sind wie gute Freunde – oder können es vielleicht irgendwann sein. Aber wir lieben uns nicht. Weißt Du Bobby, wenn man sich liebt, dann freut man sich, den anderen zu sehen, man vermisst ihn, wenn er nicht da ist, man ist traurig, wenn man ihn nicht sieht und hat Herzklopfen, wenn man mit dem Menschen zusammen ist, den man liebt. Man möchte mit dem Menschen, den man liebt, alles teilen, sein Leben, seine Sorgen, seine Freude. Verstehst Du, Bobby?" Bobby nickte.

„Und genau das, Bobby, haben Deine Mama und ich nicht mehr. Darum wollen wir nicht mehr zusammen leben und verheiratet sein. Das hat nichts mit Dir zu tun, sondern es ist eine Sache zwischen Deiner Mama und mir. Deswegen muss ich weg gehen."

„Aber warum so weit weg? Du kannst auch hier wohnen. Die Eltern von meinem anderen Freund Fred sind auch geschieden, aber sie wohnen beide noch hier in Childress."

Jack seufzte. Jetzt wurde es haarig. „Ja, Bobby. Du hast recht. Das wäre eine Möglichkeit – aber ich kann es nicht tun. Siehst Du, dass ich Deine Mama nicht mehr liebe, heißt nicht, dass ich niemanden liebe", fügte er zögernd hinzu.

„Bobby, ich liebe jemanden. Aber ich kann mit der Person nicht hier in Texas gemeinsam leben. Es wäre zu gefährlich für uns." Bobby blickte Jack verständnislos an – und Jack sprang ins kalte Wasser.

„Bobby, Du weißt, dass ich mit meinem Freund Ennis schon seit Jahren angeln gehe. Ennis ... Ennis ist der Mensch, den ich liebe, Bobby. Und es gibt viele Menschen, die nicht mögen, wenn sich zwei Männer lieben und zusammen leben. Und Texas ist ein Staat, in dem es davon sehr viele gibt."

Bobby blickte seinen Vater lange an, ohne etwas zu sagen. Jack hielt dem Blick seines Sohnes stand. Er hatte sich ihm offenbart und nun wollte und musste er auf seinen Sohn vertrauen, wie er mit der Wahrheit würde umgehen können.

Schließlich räusperte sich Bobby: „Dad, Du vermisst Ennis, wenn Du ihn nicht siehst?" Jack nickte. „Du hast Herzklopfen wenn Du ihn siehst und willst alles mit ihm teilen?" Jack nickte. „Du freust Dich, wenn Du ihn siehst?" „Ja, Bobby, das tue ich", sagte Jack leise.

„Aber Dad, wenn das so ist und Du Ennis liebst, was ist daran schlecht?"

Jack schluckte. „Bobby, für mich ist daran gar nichts schlecht. Im Gegenteil. Ich weiß nicht, warum manche Menschen das anders sehen, aber es ist so. Ennis hat, als er so alt war wie Du, sehr schlechte Erfahrung mit Menschen gemacht, die nicht gemocht haben, dass zwei Männer zusammen leben. Er hat seit dem große Angst, Bobby, und ich möchte nicht, dass er mit mir zusammen lebt und dauernd Angst hat. Und hier in Texas hätte er Angst."

Bobby nickte. Wieder schwieg er lange. Tiefe Denkfalten gruben sich in seine Stirn. Jack sah ihn abwartend an. Das Thema war noch nicht gegessen, das wusste er.

„Dad", sagte Bobby schließlich. „Ich vermisse Dich auch, wenn Du nicht da bist. Und ich freue mich, wenn Du kommst und ich will Dir auch alles erzählen." Bobby blickte seinen Vater an und Jack sah in seinen Augen eine Herausforderung. Er musste sie annehmen, komme, was da wolle.

„Ja, Sohn, das geht mir mit Dir auch so", sagte Jack langsam. „Warum bleibst Du dann nicht bei mir?" fragte Bobby und seine Stimme brach. Mühsam versuchte Bobby, die Fassung zu wahren.

Jack nahm vorsichtig Bobbys Hände in seine. Mehr Körperkontakt wollte er ihm im Augenblick nicht zumuten, die Situation stand auf Messers Schneide, das spürte Jack. Sanft sagte er:

„Bobby, die Liebe zwischen zwei Menschen kann unterschiedlich sein. Eltern lieben ihre Kinder und wollen ihre Kinder beschützen, sie versorgen, sie trösten und ihnen dabei helfen, erwachsen zu werden. Eltern werden ihre Kinder irgendwann ins Leben entlassen und die Kinder werden dann ihr eigenes Leben führen, mit eigenen Menschen, die sie lieben."

Jack seufzte.

„Aber Bobby, Liebe zwischen zwei erwachsenen Menschen ist anders. Erwachsene wollen sich auch beschützen, sich gegenseitig helfen und alles miteinander teilen. Aber dazu kommt noch ein Gefühl, dass man mit einem Menschen, den man liebt, den Rest seines Lebens verbringen möchte. Man möchte sich von dem Menschen nie trennen. Man möchte morgens mit ihm aufwachen und abends mit ihm einschlafen. Beides ist Liebe, Bobby. Und ich liebe Dich und Ennis mehr als ich in Worte fassen kann. Und wenn ich Dir ein guter Vater sein will – und das will ich, Bobby – dann muss ich mit Ennis gehen."

Bobby sackte zusammen und ließ den Kopf hängen. „Komm her, kleiner Mann", flüsterte Jack leise und zog Bobby an seine Brust. Bobby ließ sich fallen und endlich seinen Tränen freien Lauf. Jack fing den kleinen Körper auf und eine Erinnerung aus längst vergangenen Tagen schoss ihm in den Kopf.

Ennis, der ihn von hinten umarmte, seinen Kopf auf Jacks Schulter legte, ihn zärtlich wiegte und dabei leise summte, das Lagerfeuer, das sie beide wärmte. Jack rief sich diese Situation seit vielen Jahren immer wieder ins Gedächtnis – vor allem dann, wenn er das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit brauchte.
In diesem stillen Moment tiefer, bedingungsloser Liebe, damals 1963 auf dem Brokeback Mountain, hatte Jack das Gefühl, dass seine Seele für immer mit Ennis' verschmolzen war und er erinnerte sich an diesen Augenblick als einen der schönsten aber auch tröstlichsten in seinem Leben.

Jack schlang die Arme um seinen Sohn, summte Ennis Melodie und wiegte Bobby sanft hin und her bis dessen Tränen versiegt waren. Jack hatte Bobby auf eine gemeinsame Reise in die Welt der Erwachsenen mitgenommen – und sie würden sie gemeinsam zu Ende bringen. Nicht heute und nicht morgen. Aber der Grundstein war gelegt und Jack war glücklich, es bis hierhin geschafft zu haben.