„Jack, jetzt erzähl mir alles. Was sind Deine Pläne?" Mit leuchtenden Augen blickte Roberta Twist ihren Sohn an und rührte ungeduldig in ihrer Kaffeetasse.

„Ma, es sind nicht nur meine Pläne, weißt Du? Ennis und ich ... nun ja ... wir sind ... äh ..." Jack suchte nach Worten und Ennis sah ihn überrascht an. „Mein Mann ist sprachlos. Dass ich das noch mal erlebe ...", dachte er und schüttelte leise vor sich hinlachend den Kopf.

„Rodeo, so schüchtern?" hänselte er liebevoll und blickte erst Jack und dann seine Mutter an. „Ma'm, die Wahrheit ist, Jack und ich haben gemeinsame Pläne", sagte er leise und blickte auf seinen Kuchenteller. Unsicher zerrieb er mit seiner Gabel die restlichen Waffelkrümel.

„Oh, Ennis, entschuldige. Ich habe mich wohl falsch ausgedrückt", sagte Roberta und sah ihn bittend an. „Ich habe mir das schon gedacht, dass Ihr beide gemeinsam Pläne habt. Nun ja, Ennis. Ich will ehrlich sein. Ich hätte nie gedacht, dass Du irgendwann den Weg hierher findest. Nach allem was Jack erzählt – und auch nicht erzählt hat ..." Sie blickte ihren Sohn mitfühlend an und tätschelte seine Hand. „Ennis, jedes Mal, wenn Jack hierher kam, hat es mir das Herz zerbrochen. Er war so unglücklich und ich konnte ihm nicht helfen. Gott, manchmal habe ich ihn nachts ..."

„Ma, es reicht ! Du redest zu viel", unterbrach Jack seine Mutter.

„Jack, ich finde, Dein Freund kann es wissen, dass ..." „Ma ! Ennis weiß es. Bitte lass es gut sein. Es ist vorbei. Es ist Geschichte," fügte Jack leise hinzu. Alle drei schwiegen betreten.

„Ennis, lieben Sie meinen Sohn?" fragte Roberta nach einiger Zeit mit sanfter Stimme und sah Ennis prüfend an.

„Mama ! Verdammt ! Ich habe gesagt, es reicht !" Jack blickte seine Mutter mit hochrotem Kopf an. „Das ist privat," zischte er ihr zu und wandte sich entschuldigend an Ennis: „Ennis, Du musst gar nichts sagen, hörst Du? Sie hat manchmal so eine Art ..."

„... die Deiner so ähnlich ist, Rodeo", unterbrach ihn Ennis glucksend. „Entspann Dich, Jack, Deine Ma hat ein Recht es zu wissen – und ja, Ma'm ich liebe ihren Sohn", sagte Ennis leise, blickte Roberta ängstlich an – und lächelte erleichtert, als er ihren warmen Gesichtsausdruck sah.

„Rodeo, mach Deinen Mund zu, die Fliegen kommen rein", brummte Ennis, als er Jacks verdatterten Gesichtsausdruck wahrnahm.

„Hohl mich der Teufel", murmelte Jack fassungslos. „So einfach ist es also, Dich zu einem Geständnis zu bringen. Verdammt, das hätte ich vor dreizehn Jahren wissen müssen."

„Merk's Dir für die Zukunft, mein Sohn", sagte Roberta lachend und fing an, das Geschirr abzuräumen.

„Ihr habt mir aber immer noch nicht gesagt, was Ihr vorhabt", rief sie ihnen aus der Küche zu.

„Wir sind auf dem Weg nach New Hampshire, nach Concord, um genau zu sein. ... Ma, was ist los?" Jack sprang alarmiert auf, als er das Zerbrechen eines Tellers hörte. Schnell eilte er in die Küche. „Alles ok? Ma, Du bist ganz blass, was hast Du?" „Ja, Jack, es ist alles in Ordnung. Ich ... mir wurde gerade nur ... New Hampshire also. Aha. Was gibt es in Concord, New Hampshire denn so besonderes? ... Und Jack BITTE, lass mich los, mir fehlt nichts. Setz Dich wieder an den Tisch, Du machst mich ganz nervös."

Jack zuckte die Schultern und sagte im Rausgehen: „Wir schauen uns eine Ranch an. Zwei alte Männer wollen verkaufen – und wir haben gedacht, dass ist eine gute Gelegenheit. Ich hab durch die Scheidung von Lureen ein bisschen Geld bekommen ... na ja ... und in vier Tagen sind wir mit Paul und George verabredet."

„Paul und George ... was wisst Ihr denn von den beiden", fragte Roberta langsam und fegte die letzten Scherben von Boden auf.

„Nicht viel, außer, dass George kürzlich was mit dem Herzen hatte und die beiden jetzt kürzer treten wollen."

„Oh, wie geht es denn ... George jetzt?" „Soweit ich weiß, hört er schlecht und kann wohl eine Hand nicht mehr richtig bewegen. ... Ma – warum fragst Du das alles?" Irritiert blickte Jack seine Mutter an.

Noch bevor diese antworten konnte wurde die Haustür aufgerissen und schwere Schritte polterten über den Holzboden, begleitet von einem unfreundlichen Ausruf: „Verdammt, welches Aas hat seinen schicken Truck direkt vor meiner Einfahrt geparkt? Soll wohl die ganze Nachbarschaft sehen, was? Wütend zog er die Nase hoch und stand im Esszimmer.

„Na, schau mal einer an. Wen hat der Wind denn da reingeweht, hä? Seine Hoheit lässt sich blicken."

„Tag, Sir", stammelte Jack mit brüchiger Stimme, blickte auf den Küchentisch und malte mit dem Zeigefinger imaginäre Bilder auf die Tischplatte.

Ennis saß wie angewurzelt auf seinem Stuhl. Was war auf einmal mit Jack los? Der sprühende und energiegeladene, immer zu Scherzen aufgelegte Mann war völlig verschwunden und an seine Stelle trat ein verschüchterter Junge von einunddreißig Jahren, der kaum wagte zu atmen. „Oh mein Gott", dachte Ennis. „Das kann ich nicht mit ansehen. Das bricht mir das Herz."

Ennis wollte sich gerade erheben, um sich vorzustellen und die plötzlich wabernde Stille zu durchbrechen, als Jack's Mutter die Initiative ergriff. „John, mein Lieber", sagte sie eilig und ergriff den Arm ihres Mannes. „Jack ist wie angekündigt zu Besuch und er hat einen Gast mitgebracht. John, das ist Ennis del Mar. Ennis, das ist John ..."

„Ennis del Mar", unterbrach John seine Frau und stieß sie unsanft zur Seite. Bedrohlich baute sich vor Ennis auf und sah ihn mit kalten schwarzen Augen an. „Sie gibt es also wirklich. Hab immer gedacht, Jack hätte Sie sich ausgedacht. Hätte mich nicht gewundert. Mehr als Fantasie hat der Junge noch nie zu bieten gehabt." Er nahm sich Ennis Kaffeetasse und spuckte angewidert hinein.

„Und Jack, wie ist er denn so, Dein Ennis del Mar?", fragte er höhnisch. Jack blickte mit leblosen Augen langsam hoch. „Das geht Dich einen Scheißdreck an", flüsterte er mit zusammen gebissenen Zähnen. „Komm, Ennis. Wir satteln die Pferde und reiten aus. Ich zeig Dir die Ranch."

„Jack, ich warne Dich!", rief sein Vater ihm mit ätzender Stimme hinterher. „Belass es beim Reiten der Pferde und lass Deinen Schwanz in der Hose solange Du auf meinem Grund und Boden bist, hast Du mich verstanden?" „Laut und deutlich, Sir", presste Jack hervor und stürmte mit leichenblassem Gesicht aus dem Haus, Ennis im Schlepptau.

„Jack, bitte sei zum Abendessen wieder zurück. Es gibt Dein Lieblingsessen", rief Roberta verzweifelt hinterher, doch von Jack kam keine Antwort mehr.

Mit funkelnden Augen wandte sich Roberta an ihren Mann: „John, wie konntest Du nur!" „Halt die Klappe, Weib. Ich rede wie ich will und ich mache was ich will. Das ist mein Haus."

„Du vergisst, dass ich hier auch noch wohne", zischte sie ihn wütend an. „Jack ist mein Sohn und ich dulde es nicht, dass Du ihn so behandelst – vor allem nicht, wenn Gäste da sind."

„Gäste ... pah ... dass ich nicht lache ! Der ist kein Gast in meinem Haus, höchstens im Arsch von meinem Sohn. Wüsste nicht, warum ich auf so einen Rücksicht nehmen sollte."

Roberta stand zitternd vor ihrem Mann. Tränen liefen ihr über die Wangen und mühsam brachte sie hervor: „Das ist widerlich, was Du da sagst. Schäm Dich. Jack ist ein feiner Mann und genau so ist es auch Mr. Del Mar. Wage es nicht, noch mehr solcher Gemeinheiten zu äußern, so lange die Jungs an meinem Tisch sitzen."

„Du drohst mir, Roberta?" fragte John und lächelte sie kalt an. Roberta nickte. John's Augen flackerten erbarmungslos auf – und er schlug zu. Robertas Kopf kippte durch die Wucht des Schlages zur Seite. Schmerzerfüllt schrie sie auf und hielt sich die rechte Wange. Tiefrote Abdrücke von der harten, schwieligen Hand ihres Mannes malten sich bereits auf ihrer Haut ab. Zwei hasserfüllte Augenpaare trafen aufeinander.

„Droh mir nie wieder, Roberta. Nie wieder, hast Du mich verstanden?", flüsterte John mit tonloser Stimme, wandte sich ab und verließ das Haus durch den Hinterausgang


Jack rannte wie ein Wahnsinniger zu den Ställen, riss die Stalltür auf und stürmte hinein. Die Pferde wieherten erschrocken auf und wichen unruhig zurück, aufgeschreckt durch den plötzlichen Wirbelwind. Das brachte Jack zur Besinnung. Entkräftet lehnte er sich an die Stallwand und sank langsam zu Boden. Jegliche Energie war aus ihm entwichen wie aus einem geplatzten Ballon.

Eine Minute später betrat Ennis hustend und schwer atmend den Stall. „Verdammt", keuchte er. „Ich muss aufhören zu rauchen. Ich bin zu alt für diesen Scheiß. Rodeo, Du rennst, als wäre der Teufel hinter Dir her." Erschöpft ließ er sich neben Jack auf den Boden fallen.

„Der Teufel IST hinter mir her, Ennis. Ich kann ihm nur nicht entkommen, so sehr ich es versuche", flüsterte Jack mit brüchiger Stimme, ohne Ennis anzuschauen. Mit zitternden Händen fuhr er sich durch die Haare und ließ den Kopf auf seine angewinkelten Knie sinken.Ennis rührte sich nicht. Minuten vergingen, in denen keiner von ihnen ein Wort sagte. Schließlich stand Ennis auf und ging zu den Pferden. Seine eigenen hatte er vor über einer Woche an Mc Gill verkauft und die Abwesenheit der Tiere, der Trost, den sie ihm in so vielen Stunden seines Lebens geschenkt hatten, wurde ihm schmerzlich bewusst, als er mit Jack im Stall saß.
Langsam ging er auf eines der Pferde zu, das ihn magisch anzog. Es war schwarz mit einer weißen Blesse auf der Stirn. Das Fell glänzte und Ennis murmelte einige beruhigende Worte, bevor er das Tier anfasste. Das Pferd ließ sich von ihm streicheln, blähte durch seine Nüstern warme Luft in seinen Nacken und fing an, an spielerisch an seiner Jacke zu knabbern. Ennis lachte leise auf. „Das Pferd erinnert mich an Dich, Twist. Wie heißt es?", fragte er.

Ohne aufzuschauen nuschelte Jack: „No-Good"
„Hä?"
„Ich sagte No-Good. Das Pferd heißt ‚No-Good' – Nichtsnutz."
„No-Good? Das ist doch kein Name für ein Pferd. Zur Hölle, wer hat sich denn den Scheiß ausgedacht?"

Jack lachte humorlos auf: „Na, rate mal. Mein alter Herr. Und weißt Du, was er sagte, als er dem Tier nach drei Monaten den Namen gegeben hat? ‚Jack, dieser Gaul erinnert mich an Dich. Er lässt sich nicht zurichten, begattet keine einzige Stute, für die Zucht ungeeignet, frisst mein Futter, kostet mich Geld. Ich hab mich ordentlich über's Ohr hauen lassen beim Kauf dieser Mähre.' Nichtsnutz, Ennis, kapiert?"

Ennis blickte Jack fassungslos an. Je mehr er mitbekam, in welcher Welt Jack aufgewachsen war, umso unverständlicher war es ihm, dass aus Jack dieser liebenswerte, humorvolle und zärtliche Mann geworden war, den er kannte.

„Jack, komm mal her", murmelte er nach einiger Zeit. Jack rührte sich nicht. „Jack, ich sagte, Du sollst mal herkommen", hakte Ennis nach einiger Zeit nach. Keine Reaktion. Ennis seufzte auf. „Jack, Liebling, bitte komm zu mir, ich möchte Dir was zeigen." Jack sah langsam auf. Ennis zärtlicher Tonfall riss ihn endlich aus der verzweifelten Starre, in die ihn sein Vater gebannt hatte. Langsam stand er auf und ging mit gebeugtem Kopf und hängenden Schultern zu Ennis.

Ennis nahm Jack's Hand und führte sie zum Hals des Pferdes, über das sie gerade gesprochen hatten. „Mach Deine Augen zu und streichle ihn", flüsterte Ennis. Irritiert blickte Jack ihn an. Ennis verdrehte ungeduldig die Augen. „Rodeo, Du musst dringend was für Deine Ohren tun. Ich sagte streichle ihn und mach dabei Deine Augen zu."
Jack fügte sich, schloss seine Augen und fuhr langsam mit seinen Fingern über das Fell des Tieres.

„Spürst Du die Muskeln unter der Haut?", fragte Ennis. Jack nickte. „Spürst Du, wie sie zittern vor Energie?" Wieder nickte Jack. „Kraul ihm die Ohren", forderte Ennis ihn murmelnd auf. Jack tat, wie ihm geheißen wurde. Sofort beugte das Pferd den Kopf und pustete auch Jack warme Luft in den Nacken. Jack lachte leise auf.

„Siehst Du, Rodeo? Er reagiert auf Liebkosungen genau wie Du", sagte Ennis leise lachend. „Er freut sich, er mag das und er belohnt Dich sofort. Jetzt geh ein Stück näher an ihn ran und streichle seine Flanken. Merkst Du, wie viel Energie in diesem Körper steckt?" Jack nickte. Mechanisch streichelte er No-Good weiter und langsam entspannte sich sein Körper. Er lehnte sich gegen das Pferd, stützte seinen Kopf am Hals ab und massierte und klopfte mit ruhigen Bewegungen den Hals des Tieres. No-Good schnaubte leise auf.

„Rodeo, Dein Vater hat absolut keine Ahnung von Pferden, weißt Du das?" wisperte Ennis mit tiefer Stimme und stellte sich dicht neben Jack.

„No-Good ist kein Name für dieses wunderbare Tier. Es ist voller Energie, hat einen Körperbau, um an Rennen teilzunehmen. Ich wette, wenn man ihn trainiert, und herausfordert, blüht er auf. Er ist kein Arbeitstier und kein Zuchttier. Er will es nicht sein. Darum verweigert er sich. Kein Wunder, dass Dein Vater keine Freude an ihm hat – er weiß ihn nicht zu schätzen. Pferde spüren das. Sie haben ihren eigenen Kopf."

Ennis blickte Jack an, fasste Jack vorsichtig unter das Kinn und drehte sanft seinen Kopf zu sich herum. „Jack, Dein Vater hat keine Ahnung, welche Werte in Dir und diesem Tier hier stecken." Jack blickte Ennis aus dunklen, traurigen Augen an.

„Lass Dir nichts anderes einreden", flüsterte Ennis eindringlich und sah Jack liebevoll an. „Dein Vater ist der ‚No-Good', nicht Du und nicht dieses Pferd. Ich weiß es, Deine Ma weiß es und Bobby weiß es, dass Du ein wunderbarer Vater, ein liebevoller Mann und ein Sohn bist, auf den man stolz sein kann. Nichts anderes zählt, ok?" Jack nickte unter Tränen.

„Komm, Jack, beweis' was in No-Good steckt. Sattel das Pferd, wir reiten aus. Und danach suchen wir einen neuen Namen für dieses Goldstück hier."


Einige Zeit später kamen Jack und Ennis mit geröteten Wangen, zerzausten Haaren und verschwitzt von ihrem Ausflug zurück. Ihre Pferde dampften in der nun mittlerweile kühlen Abendluft. Jack's Schwarzer tänzelte freudig, schnaubte und wieherte leise vor sich hin, während Ennis's Stute erschöpft neben No-Good hertrabte. Vor dem Stall stiegen beide ab, sattelten die Pferde ab, rieben sie trocken, brachten sie in die Ställe, fütterten sie und schlossen die Boxen. Einträchtig lehnten sich beide gegen die Boxen-Tür von No-Good.

„Und, Rodeo, hab ich Dir zu viel versprochen? Das Tier ist ein Geschenkt des Himmels, oder?", fragte Ennis. Jack nickte nur.

„Tja, Jack, ich denke, damit ist No-Good seinem Namen untreu geworden. Wie soll er denn nun heißen?" Jack blickte lächelnd auf das Pferd und dann auf Ennis.

„Ich denke, Twister wäre ein guter Name", sagte er schließlich leise. „Twister – Wirbelsturm – hmm, denke, das passt. Huh, Twister, was sagst Du dazu?" Twister wieherte laut auf und nickte dabei mit dem Kopf. Ennis und Jack brachen in Gelächter aus. „Schätze, er ist einverstanden", sagte Jack kopfschüttelnd und immer noch lachend. Er drehte sich mit dem Rücken zur Boxen-Tür, legte seine Arme auf der Tür ab und schaute Ennis sinnierend an.

„Ennis, der Pferdeflüsterer. Du hast mich heute überrascht", sagte er schließlich leise. „Ich wusste, dass Du mit Pferden gut kannst, aber das Du SO gut bist, das war mir nie klar. Ich ... ich bin sehr beeindruckt." Er beobachtete Ennis, der vor Freude und Verlegenheit rot wurde, mit einer zielsicheren Handbewegung seinen Hut in die Stirn schob und sich abwandte. „Komm, Jack, das war doch nichts, das hättest Du auch gekonnt, wenn Du viel mit Pferden arbeitest", wehrte Ennis brummelnd ab und ging in Richtung Stalltür.

Jack hielt ihn am Hemdsärmel fest und zog ihn zurück. Langsam schob er Ennis Hut aus dem Gesicht, hob mit seinem rechten Zeigefinger Ennis Kinn nach oben, so dass sie sich in die Augen schauen konnten. Blau traf auf braun und beide verschmolzen für einige Sekunden ineinander.
Jack umfasste Ennis Gesicht mit beiden Händen und fuhr mit den Daumen liebevoll über seine Wangen. Sanft beugte er sich zu ihm und küsste ihn sachte auf den Mund. Gerade lange genug, um Ennis harte Lippen unter seinen erweichen zu spüren. Jack wich zurück, streichelte ein letztes Mal sein Gesicht, sah ihm tief in die Augen. „Danke", flüsterte er. „Danke."
Ennis Mund verzog sich zu seinem schüchternen, schiefen Lächeln, nickte Jack zu und beide wandten sich um und gingen ins Haupthaus. Jack's Lieblingsessen wartete auf sie beide.


Jack und Ennis betraten das Haus durch die Hintertür und Jack verschwand direkt im Badezimmer für eine kurze Dusche. Ennis schlenderte unsicher in Richtung Küche, angezogen von den leckeren Gerüchen, die seinem Magen eindeutige Hungergefühle signalisierten.
Jack's Vater schien ausgeflogen zu sein und Ennis war das nur Recht. Er verspürte kein Interesse, Mr. Twist früher als notwendig zu begegnen. Zögernd lehnte er sich gegen den Türrahmen der Küchentür, verschränkte seine Arme vor der Brust und räusperte sich.

„Hallo, Ma'm. Kann ich helfen?" Jack's Mutter fuhr erschrocken zusammen und ließ den Kochlöffel fallen, mit dem sie gerade zu Gange war. „'Tschuldigung. Wollte Sie nicht erschrecken", murmelte Ennis verlegen und wollte ihr zu Hilfe eilen.
„Ennis, es ist schon in Ordnung. Nichts passiert. Ich war wohl zu sehr in Gedanken. Ich habe Euch gar nicht zurück kommen hören. Wie war Euer Ausflug?", fragte sie, ohne Ennis anzuschauen und hob dabei den Kochlöffel vom Boden auf.

„Sind mit Twister und Scarlett ausgeritten. Jack hat mir die Ranch gezeigt." „Twister?", fragte Roberta irritiert?
„Oh, ... uh ... äh ... ich meine No-Good. Also, Jack und ich haben ... ich habe Jack gesagt, dass ... Ma'm, ein Pferd sollte keinen Namen tragen, der nicht passt", brach es schließlich aus Ennis hervor. „Scheiße, warum hab ich das gesagt, ich blöder Idiot!" schimpfte Ennis mit sich selbst.
Mit hochrotem Kopf starrte er auf den Boden und zupfte verlegen an einem seiner Hemdknöpfe. „Mrs. Twist, es tut mir leid. Ich hätte das nicht ... es ist nicht mein Pferd ... Bitte entschul..."
Roberta drehte sich ruckartig um, unterbrach Ennis mitten im Satz und sagte vehement: „Ich nehme keine Entschuldigung an, Junge. Was Du gemacht hast, war sehr anständig von Dir. Und nenn mich Roberta ! Mrs. Twist war meine Schwiegermutter – und die mochte ich nicht !" Ennis schaute lächelnd auf und wollte ihr gerade erwidern, als sein Blick in ihr Gesicht fiel. Sein Lächeln erstarrte. Scharf zog er die Luft durch die Zähne und ballte seine Hände zu Fäusten.

Auf Robertas linker Wange blühte ein dunkelroter Fleck, handflächengroß. Die gesamte Seite war angeschwollen und der Bluterguss war bereits dabei, sich bis in das Auge hinauf auszubreiten.
„Oh mein Gott", murmelte Ennis bestürzt. „Was ist passiert?" Mit schnellen Schritten durchquerte er die Küche, ging er auf Roberta zu, streckte seine Hand aus und berührte sacht die Verletzung an ihrer Wange.
Jack's Mutter hielt die Luft an und verzog vor Schmerz das Gesicht. Sanft umfasste sie Ennis Hand, schloss die Augen und für einen Sekundenbruchteil lehnte sie sich in Ennis fürsorgliche Berührung, bevor sie seine Hand von ihrem Gesicht nahm, sie tätschelte und leise sagte: „Ennis, mein Junge. Das ist die Strafe für eine Sünde, die ich vor vielen Jahren begangen habe."
„Eine Sünde, die ...uh ... nein ... wieso? ... Der Schläger ist der Sünder ... so wie ich das sehe," stammelte Ennis verständnislos.
Müde lächelte Roberta ihn an. „Da ist was Wahres dran, Ennis aber in diesem Fall wäre das wohl zu einfach." Sie seufzte auf. „Auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Das ist ein Naturgesetz, Ennis. In diesem Fall ist es die Reaktion auf etwas, das über dreißig Jahre zurück liegt. ... Das entschuldigt dennoch nichts", fügte sie traurig hinzu.

„Keine Sünde kann so schlimm sein, dass ein Mann eine Frau schlägt", wisperte Ennis fassungslos. „Wenn Jack das sieht, dreht er durch."
Roberta blickte ihn starr an. „Dann müssen wir beide dafür sorgen, dass das nicht passiert", sagte sie mit fester Stimme. „Und nun komm, Du kannst mir helfen, den Tisch zu decken, das Essen ist bald fertig."

Eine halbe Stunde später saßen Jack, seine Eltern und Ennis beim Essen. Eine unangenehme Atmosphäre lag in der Luft, nur unterbrochen durch Kaugeräusche und das Kratzen der Bestecke auf den Tellern. Schließlich räusperte sich Jack. „Ma, Dein Essen ist wie immer prima."
„Danke, mein Junge", sagte Roberta leise, ohne Jack anzublicken. Sie hatte es bisher erfolgreich geschafft, ihre verletzte Seite von Jack abzuwenden und Jack selbst war so beschäftigt mit sich, seinem Vater, Ennis und dem Essen, dass ihm das ungewöhnliche Verhalten seiner Mutter bisher nicht aufgefallen war.

„Roberta, Dein Kohl ist versalzen", knurrte Jack's Vater ungnädig und zog geräuschvoll die Nase hoch. „Man sagt ja für gewöhnlich, wer zu viel salzt, ist verliebt. Na, Roberta, für wen schlägt Dein Herz heute? Für Deinen Sohn oder seinen schwulen Kompagnon?" Böse schaute er auf Roberta, die langsam ihren Kopf hob und ihn anschaute.
„John, zügle Deinen Ton hier am Tisch", flüsterte sie mit rauer Stimme. „Wir haben einen Gast und ich dulde nicht, dass Du so über ihn und Jack sprichst. Das habe ich Dir vorhin schon gesagt."
„Ja, Weib – und schau, was es Dir eingebracht hat ..." Vielsagend blickte er ihr ins Gesicht.

Aufgeschreckt durch den kalten Tonfall seines Vaters hob Jack seine Augen und sein Blick wanderte von seinem Vater zu seiner Mutter. In Sekundenbruchteilen erfasste er die starre, unbeugsame Figur seines Vaters, sah auf die Hände, die ihm in seinem Leben so viel Schmerz zugefügt hatten, sah die schwarzen, kalten Augen, die ihn schon so oft in Grund und Boden gestarrt hatten, sah auf den zusammengepressten, verbitterten Mund, aus dem nie ein nettes Wort für Jack entsprungen war. Verachtung, nichts als Verachtung brachte er ihm in diesem Moment entgegen.
Und dann sah er seine Mutter, die immer versucht hatte, sich vor ihn zu stellen, die ihm immer zur Seite stand, die ihn verstand, ihn umarmte, wenn sein Vater nicht hinsah, seine Wunden versorgte, die sein Vater ihm vorher zugefügt hatte, die ihn ermutigte, nicht aufzugeben, seinen Weg zu gehen. Seine Mutter, deren Lächeln sein Herz erweichte, deren Augen ihm Liebe entgegenbrachten, deren Gesicht ihm in den schlimmsten Nächten erschien, wenn er glaubte, den Schmerz über die Trennung von Ennis nicht aushalten zu können ...

Ihr Gesicht ! Mein Gott, was war mit ihrem Gesicht ?

Klirrend fiel Jacks Besteck auf den Teller und durchschnitt die unheilvolle Stille, die im Raum lag. Ruckartig sprang er auf. Sein Stuhl fiel zu Boden und Jack stützte sich haltsuchend am Tisch ab. Keuchend holte er Luft, sein ganzer Körper spannte und krümmte sich, als hätte er unsagbare Schmerzen.
Leichenblass und zitternd blickte er seine Mutter an, die angsterfüllt ihre linke Wange mit ihrer Hand bedeckte. „Jack, es ist nichts, es ist gut, es ist alles in Ordnung. Bitte setz Dich hin", flehte sie ihn an.
Jack schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Aufstöhnend richtete er sich auf und sah seinen Vater an. „Du Scheißkerl", presste er hasserfüllt hervor. „Was hast Du mit meiner Mutter gemacht?"

Kalt lächelnd sah der alte Twist Jack an. „Schätze, sie hat bekommen, was sie verdient hat. Genau wie Du auch, Junge, wenn Du Dich nicht sofort wieder hinsetzt und weiter isst." Als sei nichts geschehen, wandte er sich von Jack ab, doch er hatte nicht mit Jacks Wut und unbändigem Zorn gerechnet.
Mit einem heiseren Schrei packte Jack seinen Vater am Schlaffhitchen, zerrte ihn aus seinem Stuhl und zog ihn keuchend hoch.
„Das wirst Du mir büßen, alter Mann. Es reicht. Du kannst mich fertig machen, wenn Du willst, aber Du nimmst die Hände weg von meiner Mutter. Hast Du mich verstanden?" Ungerührt schlug John Jacks Hände von seinem Hemdkragen. „Krieg Dich ein", sagte er verächtlich. „Heulst hier rum wie ein Mädchen. Du warst noch nie ein Mann, Du wirst nie einer sein. Du hast mir nicht zu sagen, was ich in meinem Haus zu tun habe. Kapiert? Und jetzt geh mir aus dem Weg und lass mich weiter essen. Schwanzlutscher und Arschficker standen auf meiner Liste eh noch nie ganz oben und Du fällst eindeutig in beide Kategorien."

Jack zuckte zusammen, als hätte sein Vater ihn körperlich geschlagen. Taumelnd wich er zurück und starrte seinen Vater fassungslos an, der sich das Essen in den Mund schaufelte, als sei nichts geschehen. Totenstille breitete sich aus. Entsetzt von den Geschehnissen sahen Ennis und Roberta auf Jack und seinen Vater. Paralysiert. Geschockt. Unfähig, sich zu rühren.

Jack wusste nicht, wie ihm geschah. Die harten Worte seines Vaters hatten ihm jegliche Energie geraubt, sie hatten ihm den Boden unter den Füßen weg gezogen. Die Verachtung, die sein Vater ihm entgegen brachte, entzogen sich seinem Verständnis. Was hatte er ihm getan? Warum konnte und wollte sein Vater ihn, Jack, nicht sehen? Nicht wahrnehmen, was er für ein Mensch war? Wie sollte er sich kampfbereit und selbstbewusst einem Menschen entgegenstellen, dem jegliche Reaktion von seinem eigenen Sohn völlig gleichgültig war? Ja, schlimmer noch, der jedes Handeln seines Sohne scheinbar dankbar aufnahm und ihm noch einen Strick daraus drehte.

Alles, was Jack ihm entgegenbringen konnte und wollte, prallte an einer Wand von Hass und Kälte ab.

Wie sollte er sich diesem Mann entgegen stellen, was konnte er tun, um seine Mutter zu schützen. Was konnte er tun, damit er sich selbst noch in die Augen schauen konnte? Und was war mit Ennis? Seine Wut schlug in tiefe Verzweiflung um und Jack fiel. Er stürzte ohne Vorwarnung in ein tiefes, schwarzes Loch. Bodenlos, haltlos.

Oh mein Gott", dachte Jack und fing an zu zittern. „Ennis hat alles mitbekommen. Mein Vater ist Wasser auf Ennis' Mühlen. Oh nein, bitte nein. Und er hat alles gehört. Den Hass und die Verachtung. Was mag er von mir denken? Jack, der immer alles schön redet, der für alles immer eine Lösung parat hat. Der gleiche Jack, der es nicht schafft, seine Mutter zu beschützen und seinen Vater zur Hölle zu jagen. Der es nicht schafft, seinem Vater Grenzen zu setzen. Der tatenlos zuschaut, wie der eigene Vater die für mich wichtigsten Menschen kränkt, beleidigt und körperlich straft. Der bei der kleinsten Gelegenheit nachgibt und sich zurück zieht. Weibisch, schwach, das wird er von mir denken. Ich hab mein Gesicht verloren. Oh Gott, wie soll ich ihm jemals wieder in die Augen schauen können. Verloren, alles verloren ..."

Würgend löste sich Jack aus seiner Erstarrung und rannte durch das Esszimmer hinaus auf die Veranda und verschwand in der dunklen Nacht.


„Scheiße", murmelte Ennis zwischen seinen Zähnen als er Jack aus dem Haus stürmen sah. Wortlos stand er von seinem Stuhl auf, ging die Treppe hinauf und verschwand in Jack's Zimmer. Roberta blickte ihm hilflos hinterher. Tränen rannen über ihre Wangen. Der Abend war entsetzlicher verlaufen, als sie in ihren schlimmsten Träumen befürchtet hatte.

Ich muss dem ganzen ein Ende setzen", dachte sie verzweifelt. „Ich habe zu lange geduldet. Das darf nicht noch einmal passieren. Ich habe viel zu lange gewartet, Dinge in Ordnung zu bringen. Ich habe immer Jack als Vorwand genommen, Dinge nicht zu ändern, aber das war falsch. Das hätte ich nicht tun dürfen, es hat ihm geschadet und mir überhaupt nichts eingebracht. Ich muss dem ein Ende setzen. Es ist Zeit für die Wahrheit."

„John", sagte sie leise mit fester Stimme. „Es ist an der Zeit, dass wir ein paar ehrliche Worte miteinander sprechen. Ich muss Dir etwas sagen, was ich Dir ..." Irritiert blickte sie hoch, als sie Ennis Schritte auf der Treppe hörte.

„Ennis, was ist los, was ... warum ... Du hast gepackt ?"
„Jupp."
„Warum?"
„Ich nehme Jack mit. Wir fahren noch heute."
„Aber Ennis, warum? Das kannst Du nicht ... Ihr seid doch vor ein paar Stunden erst gekommen ... was ...?"
„Roberta", sagte Ennis sanft. „Ich weiß. Aber ich kann Jack nicht hier lassen. Es geht einfach nicht." Roberta sah ihn an, sah in seine braunen Augen – und gab nach.
„Ich verstehe Ennis", sagte sie leise. „Ich schätze, ich verstehe nur zu gut. Geh nach draußen und hole Jack, ich werde Euch Proviant für die Reise einpacken."

Ennis wandte sich zur Tür, als John Twist seine Stimme erhob: „Ja, del Mar. Gewöhn Dich ruhig dran. Jack ist ein Weichling, kriegt nichts auf Reihe. Weibisch, phh, schätze, das zieht Dich an, was?"

Ennis erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Schultern strafften sich und er ballte seine Hände zu Fäusten. Langsam drehte er sich um und sah mit harten, lodernden Augen direkt in John's Gesicht. Zielsicher ging der auf ihn zu. „Hör mir zu alter Mann", zischte er zwischen seinen Zähnen. „Du kannst mich beleidigen wie Du willst, ich geb einen Scheißdreck drauf. Ich höre Deine Worte, sehe meinen eigenen Vater vor mir und fühl mich fast wie zu Hause. Ich muss Dir dankbar sein. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, dass mein Vater früh genug starb, dass ich mir diesen Scheiß nicht länger anhören musste."

Grob packte er John am Hemd und zog ihn langsam von seinem Stuhl hoch. Seine Stimme vibrierte vor Wut als er fortfuhr: „Aber wenn Du glaubst, dass ich tatenlos zusehe, was Du mit Jack machst, hast Du Dich geschnitten. Ich hole Jack jetzt hier rein. Bin in zehn Minuten zurück. Dann bist Du nicht mehr hier. Du verziehst Dich in das hinterste Loch in diesem Haus, bis wir weg sind. Hast Du mich verstanden?"

Mit glühenden Augen sah er den alten Twist an. „Hast Du mich verstanden?", presste Ennis hasserfüllt hervor, als John sich nicht rührte und drückte ihm mit seinem festen Griff fast die Luft ab. John sah in Ennis' Augen. Zorn, Hass und eine Unerbittlichkeit, die er bisher noch nie bei einem Menschen gesehen hatte, loderten ihm entgegen. Der Mann würde Ernst machen, das sah John. Obwohl es ihm schwer fiel, sich das einzugestehen, Ennis flößte ihm Respekt ein. Nicht so ein Jammerlappen wie Jack – oh nein, del Mar war ein anderes Kaliber...

Zum ersten Mal an diesem Abend flackerten John's Augen verunsichert auf. Das Zeichen genügte Ennis. Mit einem kalten Lächeln sah er ihn an und stieß ihn auf seinen Stuhl zurück. Ohne ein weiteres Wort ging er aus dem Haus und machte sich auf die Suche nach Jack.

Die Juninacht war kühl und sternenklar. Der Wind aus den Bergen hatte die Luft erfrischt. Das kalte Mondlicht erhellte die Umgebung und Ennis ging in Richtung der Ställe. „Jack", rief er leise. Keine Antwort. Ennis blieb stehen und lauschte in die Nacht. „Jack", rief er noch einmal. Twister wieherte im Stall und Ennis lächelte. Vielleicht war Jack dort.
Vorsichtig öffnete er die Stalltür. Twister begrüßte ihn erneut. Ennis tastete sich zu ihm vor, kraulte ihn hinter den Ohren und tätschelte seinen Hals. „Hu, alter Junge", murmelte er leise. „Weißt Du wo Jack ist?" Twister schnaubte wie gewöhnlich in seinen Nacken und knickerte leise. Mittlerweile hatten sich Ennis' Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah sich um. In Twisters Box sah er kein Zeichen von Jack, auch nicht in den anderen Unterkünften der Pferde. Augenscheinlich hatte Jack den Stall nicht zu seinem Zufluchtsort erkoren. Ennis streichelte Twister ein letztes Mal und ging hinaus.

Sein Blick wanderte über die Weiden und in einigen hundert Metern Entfernung meinte er eine Bewegung gesehen zu haben. Zielsicher machte er sich auf den Weg und kurze Zeit später erblickte er Jack, der gekrümmt an einem der Weidezäune lehnte.

„Jack", sagte Ennis leise.
„Hau ab, Ennis", murmelte Jack.
„Nein."
„Fang nicht jetzt mit mir das Diskutieren an", nuschelte Jack müde. „Lass mich einfach nur in Ruhe."
„Jack, mach kein Theater. Ich hab unsere Sachen gepackt, wir fahren noch heute ab."

Langsam richtete Jack sich auf und sah Ennis an. „Was hast Du da gerade gesagt?", flüsterte er mit heiserer Stimme.

„Ich habe gesagt, wir fahren noch heute ab. Rodeo, mit Deinen Ohren stimmt wirklich was ..."

„Halt die Klappe Ennis !" fuhr Jack ihn wutentbrannt an. Erschrocken fuhr Ennis zurück. „Huh?"

„Wie kommst Du dazu, über mich zu bestimmen, als wäre ich Deine Frau?", brüllte Jack unvermittelt los. „Wieso glauben eigentlich alle, dass ich zu bevormunden bin, hä? Erst mein Vater, jetzt Du. Leckt mich am Arsch – alle beide. Lasst mich in Ruhe ! Ich fahre nirgendwo hin, verstanden?"

Ennis verlor die Geduld. „Verdammt noch mal, Twist", explodierte er. „Ich bin nicht Dein gottverdammter Vater. Du bist auch nicht meine Frau. GOTT SEI DANK NICHT !"

Wie zwei Kampfhähne standen sie voreinander, die Hände zu Fäusten geballt, die Gesichter hochrot, heftig atmend – und fanden sich plötzlich ziemlich albern. Hilflos fingen sie an zu lachen.

„Oh Ennis, Scheiße", sagte Jack schließlich und sank entkräftet auf den Boden. „Du willst also fahren?"

„Hmm."
„Mit mir?"
„Issn das für ne dämliche Frage, Jack? Sicher mit Dir!"
„Wohin?"
„Keine Ahnung. Einfach nur weg."

Jack seufzte auf. „Is wahrscheinlich besser", murmelte er. „Wenn ich nicht hier gewesen wäre, hätte mein Dad meine Ma nicht geschlagen. Is besser, wenn ich nicht hier bin ..." Ennis streckte eine Hand aus und zog Jack vom Boden hoch. „Red nicht so nen Quatsch, Rodeo", murmelte er. „Schätze, das hat nicht so viel mit Dir zu tun. Deine Ma hat irgendwas davon gesagt, von wegen Aktion und Reaktion von Sachen, die über 30 Jahre zurück liegen."

„Was hat meine Ma gesagt?" Ennis verdrehte entnervt die Augen. „Jack, Dein ewiges Nachfragen geht mir auf den Senkel. War das schon immer so? Hörst Du nicht beim ersten Mal, was ich sage?"

„Dddoch, Ennis, ich versteh's nur nicht." „Herrje, nicht nur die Ohren, jetzt auch noch der Kopf ... Aua!" Ennis verzog das Gesicht und rieb sich die Rippe, die nach Jacks Seitenhieb protestierte.

„Ennis, was genau hat Dir meine Ma erzählt?" „Nicht mehr als ich gesagt habe. Ich versteh's doch auch nicht. Deine Ma hat mir nicht ihre Lebensgeschichte erzählt. Frag sie selbst. Und jetzt lass uns endlich ins Haus gehen und unsere Sachen einpacken, dass wir hier weg kommen."

Einträchtig gingen sie in Richtung Haupthaus. Kurz vor der Tür merkte Ennis, wie Jack sich versteifte und tief einatmete. „Keine Sorge, Rodeo", sagte Ennis leise. „Dein Dad ist nicht da. Hab ihm gesagt, es ist besser, er bleibt verschwunden, bis wir weg sind."

Jack blickte Ennis ausdruckslos an. „Aha", meinte er nur und wenig später betraten sie das Haus durch den Hintereingang und gingen direkt in die Küche, wo Jack's Mutter ihren Proviant verpackte.

„Ma, Ennis und ich fahren", sagte Jack überflüssigerweise. Roberta drehte sich um. Tränen standen in ihren Augen. Sie nickte, ging auf Jack zu und nahm ihn in die Arme. „Ich weiß, Junge. Es ist gut so. Ich verspreche Dir, ich bringe die Dinge hier in Ordnung. Hab zu lange gewartet. Ich hab Dir so viel Unrecht zugefügt, Jack. Es tut mir so leid."

„Ma, welches Unrecht? Wovon redest Du?" Irritiert blickte Jack seine Mutter an.

„Nicht heute, Jack, nicht jetzt. Ich weiß nicht, wie lange John weg bleibt und es ist besser, Ihr geht, bevor er wieder kommt. Jack, Du rufst mich an, wenn Ihr Eure Ranch habt, ja?" Jack nickte und drückte seine Mutter ein letztes Mal an sich.

Roberta löste sich sanft von ihm, wandte sich an Ennis und küsste ihn rechts und links auf die Wange: „Auf Wiedersehen, Ennis. Ich habe mich gefreut, Dich kennen zu lernen. Pass gut auf meinen Jungen auf, ja?" Mit hochrotem Kopf nickte Ennis.

„Jetzt fängst sie auch noch an. Verdammt noch mal, ich kann auch mich selbst aufpassen. Herrgott, was hab ich an mir, dass alle denken, ich schaff das nicht?", murmelte Jack wütend vor sich her, als er Ennis und seine Reisetasche im Auto verstaute.

Ennis und Roberta lächelten sich an „Auf Wiedersehen, Ma'm", sagte Ennis und stieg ins Auto. „Jack, steig in das verdammte Auto", rief er und ließ den Motor an. Jack umarmte seine Mutter ein letztes Mal und beeilte sich, Ennis Gesellschaft zu leisten.

„Fahrt vorsichtig", rief Roberta, winkte ihnen zu und sah ihnen nach, bis die Rücklichter in der Unendlichkeit von Wyoming verschwunden waren.

Während der Fahrt hing eine gedrückte Stimmung in der Luft. Jack blickte aus dem Fenster, knetete seine Unterlippe und schwieg sich aus.

Diese Stille macht mich fertig", dachte Ennis. „Wieso spricht der sich nicht aus? Is doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Irgendwas hat er. Hätte ich doch nicht fahren sollen? Aber he – ich hätte ihn auch nicht da lassen können. Ich kann nicht mit ansehen, wie Jack unter seinem Vater eingeht wie eine Primel. Himmel, wenn er nur endlich reden würde. ... Gott, bin ich müde ... Leben mit Jack Twist wringt einen ganz schön aus."

„Rodeo, alles in Ordnung?", fragte Ennis nach einer Weile. „Sicher", antwortete Jack kurz angebunden, drehte Ennis den Rücken zu und kurze Zeit später merkte Ennis an den ruhigen Atemzügen, dass Jack eingeschlafen war.

Zwei Stunden später erblickte Ennis ihr Ziel für den heutigen Abend und die nächsten zwei Tage. Vorsichtig rüttelte er Jack an den Schultern. „Jack, aufwachen, wir sind gleich da", sagte er leise.

Mühsam rappelte Jack sich in seinem Sitz auf und rieb sich schlaftrunken die Augen. „Huh ... was ... wo ... oh mein Gott. Ennis !" Fassungslos starrte er Ennis an und dann das Ortsschild, das mit jeder Sekunde näher kam.

Signal – Wyoming. Sie waren zurück. Dort wo alles begann. Sie waren zurück am Brokeback Mountain.