„Nur so aus Neugierde. Was hatte es heute Nachmittag mit dem Mädchen auf sich?" wollte Calleigh wissen und klinkte sich damit wieder in das Gespräch ein, einerseits aus Neugierde, andererseits um das Gespräch wieder zu beruhigen

„Ally mag Polizeibeamte nicht wirklich gerne." antwortete Sidonie lapidar.

„Wieso?"

„Nun, das könnte damit zusammen hängen, daß ein vermeintlicher Polizist mit Uniform und Polizeimarke sie vor etwa 9 Monaten am Weg von der Schule nach Hause abpaßte, ihr erzählte, daß die Mutter im Krankenhaus ist und er sie hinbringt. – Dem war natürlich nicht so. Er hat sich an ihr vergangen und sie dann in einen Straßengraben geworfen." Sidonies Stimme klang teilnahmslos, doch ihre Gestik und der Blick sprachen Bände.

„Jetzt sind wir gerade daran, die größte Angst abzubauen, sodaß sie auf der Straße an einem Polizisten vorbei gehen kann, ohne zu schreien oder zu treten. – Leider immer wieder mit Rückschlägen, wie wir heute gesehen haben."

Eric, er immer noch im Zimmer standt, schluckte und warf Calleigh einen vielsagenden Blick zu. Kindesmißbrauch war immer noch ein heikles Thema, wenngleich es leider viel zu oft vorkam.

„Wer ist wir? Haben Sie eine Partnerin in der Schule?"

„Ja, ich habe eine Assistentin in der Schule, aber ‚Wir' bedeutet eigentlich Ally und ich." erläuterte Sidonie.

„Warum machen Sie das?" Horatio sah sie wieder mit kurzem Seitenblick an.

„Was das? Die Arbeit mit mißbrauchten Kindern? – Liegt das nicht auf der Hand?"

„Sie wurden einmal selbst mißbraucht, aber befähigt Sie das denn?"

„Einmal?" wiederholte Sidonie mit gewohnter Ironie und absichtlich betont „Das hätte ich dann doch etwas anders gesehen."

Horatio blickte achtsam auf. „Polites Verurteilung 1992."

Sidonies ironischer Ausdruck verschwand plötzlich aus ihrem Gesicht, sie wirkte nun ehrlich überrascht und blinzelte mehrmals, als müsse sie angestrengt überlegen. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, ihre Schultern zuckten.

Die Beamten sahen sich kurz verwirrt an.

„Sid?" fragte Calleigh. „Ist alles in Ordnung?"

Horatio erkannte als erster, daß sie nicht weinte, wie sie zuerst vermuteten, sondern lautlos lachte.

„Sidonie. Dürfen wir teilhaben an dem, was Sie offenkundig so witzig finden?" forderte er verstimmt.

„Das glaube ich einfach nicht!" hörten sie sie schließlich kichern. „Und ich frage mich schon die ganze Zeit, warum sie von ihm nur als Polite sprechen. – Herrlich!"

„Sid!" Horatios rescher Ton rief sie zur Ordnung.

Sidonie räusperte sich und setzte sich ernst geworden wieder gerade auf.

„Einfach - - herrlich." wiederholte sie nochmals. „Wenn Sie mich schon wegen seiner Verurteilung 1992 als Hauptverdächtige sehen, werde ich jetzt wohl auf der Stelle von Ihnen verurteilt und gelyncht."

„Klartext bitte!" forderte Horatio nunmehr unwillig und trat auf den Tisch zu. In bedrohlicher Manier stützte er sich auf die Tischplatte. Doch Sidonie reagierte nicht wirklich beeindruckt.

„Sein richtiger Name lautet Victor Market. Mark Polite hieß er nach der Namensänderung. Und es war n i c h t seine erste Verurteilung."

Eric hatte den Namen aufgeschrieben, nach Horatios Nicken verließ er rasch das Zimmer, um die neue Information durch die Datenbank laufen zu lassen.

„Was heißt das? - Weswegen wurde er verurteilt?" Die Änderung im Verlauf des Verhöres paßte Horatio nicht wirklich ins Konzept und er ahnte bereits, daß sich alles mehr und mehr ausweiten würde.

Sidonie strich sich über die Haare und wandte sich mit kühlem Blick zu Horatio. „Na raten Sie mal."

„Weswegen?" Horatio war nicht in der Laune für Spiele, doch seine Verdächtige gab sich nicht geschlagen.

„Meine Güte. Nun seien Sie doch kein Spielverderber. Ein bißchen Unterhaltung habe ich mir wirklich verdient."

„Er hat sie schon einmal mißbraucht?" mischte sich nun Calleigh als Ruhepol wieder ein.

„Hej, ich gratuliere! 95 von 100 möglichen Punkten, ich bin tief beeindruckt. Nur eine Kleinigkeit stimmt nicht. Damals war es eher so, daß er mich verliehen hat. Sie wissen schon, die netten zahlenden Onkel und so." Wieder war ein spürbarer Sarkasmus in ihren Worten zu hören.

„Wann war das?"

„Ich wurde mit 10, nach dem Tod meiner Mutter zu meinem liebenden Vater verfrachtet. Etwa ein halbes Jahr danach ging es los. Aufgeflogen ist etwa eineinhalb Jahre später."

„Wieso hat er einen anderen Namen bekommen?" fragte Horatio, doch Sidonie reagierte nicht.

„Sidonie. Ich warte auf eine Antwort."

Bewußt betont drehte sie sich kurz um und sah über ihre Schulter, als würde sie sich vergewissern, daß keiner hinter ihr steht.

„Oh Entschuldigung... Fragen Sie mich?" sie schüttelte den Kopf. „Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, daß ich Ihnen DAS beantworten kann? Mein Vorschlag oder meine Idee war es jedenfalls nicht!"

„Was ist passiert?"

„Fragen Sie doch Ihre Polizeikollegen. – Ich habe allmählich genug von Ihren Fragen. Vor allem, da alle wirklich sinnlos sind und Sie eigentlich nur wie ein Kind im Sandhaufen drauflos wühlen und von nichts eine Ahnung haben." Sidonies Stimme bekam einen harten und blockierenden Ton.

„Sidonie." bat Calleigh. „Ich kann mir vorstellen, daß ...". Doch weiter kam sie nicht.

„Wagen Sie es bloß nicht, den Satz zu beenden." Sidonie sprang wütend auf. „Ich habe genug von „Ich kann mir vorstellen, wie es ist" oder noch besser: „Ich weiß wie du dich fühlst". – Keiner weiß es. Keiner kann es sich auch nur ansatzweise vorstellen. Ausgenommen Sie sind auch mit 11 regelmäßig vergewaltigt worden."

Calleigh war kurz erschrocken, doch sie hielt sich vor Augen, was in der jungen Frau vorgehen mochte.

„Sidonie, ich wollte nur sagen, daß ich mir vorstellen kann, daß es nicht leicht ist, darüber zu sprechen. Vielleicht bringen Sie uns auf die richtige Fährte. Also helfen Sie uns."

Sidonie atmete heftig ein und aus, lief dann zum Fenster und zurück.

„Was ist Ihre Erklärung?" begann Horatio nochmals, nun jedoch ruhiger.

„Er hat damals die unglaubliche Strafe von vier Jahren bekommen und saß zweieinhalb Jahre davon ab. Dann hat er sich angeblich mit der Polizei zusammengetan und sich als Informant für Kinderpornographie und diese Dinge verkauft. Er hatte schon immer gute Beziehungen zur Polizei. Vermutlich hat er diese entsprechend ausgenützt."

„Woher wissen Sie das?"

„Er hat es mir erzählt – bei unserer zweiten – nunja – ziemlich unglücklichen Begegnung 1992. Ob es stimmt oder ob er angegeben hat, kann ich natürlich nicht sagen."

„Inwieweit hatte er Beziehungen zur Polizei?"

Sidonie schwieg kurz. „Es gab mindestens einen ... Stammkunden." fügte sie an. „Wissen Sie was lustig ist?" Sidonie wartete nicht auf eine Antwort. „MB8347" sagte sie nur.

„Ist das eine Dienstnummer?" fragte Calleigh nach kurzem überlegen.

Sidonie nickte. „Ja, das ist es. - Schon außerordentlich, was man alles irgendwo im Kopf abspeichert. Tja, ich hatte sie auch lange genug und oft genug vor Augen." Sidonie seufzte und setzte sich wieder.

„Und was wurde aus ihm?" Horatio stand immer noch neben dem Tisch, er hatte die ganze Zeit Sidonie beobachtet und versuchte sich weiter eine Meinung zu bilden.

„Aus wem? Aus dem Polizisten? - Möchten Sie wieder raten? – Nichts passierte mit ihm. Warum sollte man einer 12jährigen glauben, die – Zitat – „irgendeine Nummer" aufsagt?"

„Das kann nicht sein." begann Calleigh.

„Können Sie es nicht glauben oder wollen Sie es nicht glauben? – Nun es war aber so. Ich lag 5 Wochen im Spital und außer ein paar unnötigen Fragen von irgendwelchen unbefriedigten Polizisten hat sich keiner um mich gekümmert. Und sie haben sicher bewußt weggehört, wenn ich von der Dienstnummer sprach. Und außerdem: wer würde auch schon einer 11jährigen glauben, die mit einer hausgemachten Gonorrhoe und Wundbrand im Krankenhaus liegt und bei jeder Berührung psychisch und physisch schreit. – Und jetzt fragen Sie mich nochmals, warum ich unter anderem mit mißbrauchten Kindern arbeite."

„Sidonie." Horatios Ton war ruhig und ernst. „Haben Sie Polite getötet. Wenn ja, ist jetzt noch der richtige Zeitpunkt es zu sagen. Wenn Sie es waren, wird der Staatsanwalt sicher alle Umstände berücksichtigen." wiederholte er schließlich.

„Nein, ich hab ihn nicht getötet." antwortete Sidonie ebenso ruhig.

„Warum sollten wir Ihnen glauben?"

Sidonie schwieg kurz. „Ich habe es mir oft genug vorgestellt und überlegt und mir perfekte Pläne ausgeklügelt. Aber ich war es nicht. Bei mir wäre er nämlich nicht so billig und schnell davongekommen. Und vor allem: hätte ich ihn getötet, hätten Sie ihn nicht gefunden und ich wäre auch keinen Moment eine Verdächtige gewesen." ruhig sah sie von Calleigh zu Horatio.

Dieser gab sich für den Moment geschlagen, er lies Sidonie einige Minuten später gehen.