Horatio saß vor zwei alten Akten aus dem Jahre 1986 und 1992. Fast drehte sich ihm angesichts der Bilder der Magen um. Es handelte sich um Sidonies Polizeiakte und Fotos aus dem Krankenhaus. Trotz der langen Polizeijahre und all der Opfer, die er so oft zu sehen bekam, waren Kinder und Jugendliche Opfer immer noch sein Alpraum.
1986, ein ausgemergeltes knapp 12 jähriges Kind mit toten Augen war zu sehen, Hämatome überall, ein ausgepeitschter Rücken, Brandblasen von ausgedämpften Zigaretten. Der Arztbericht sprach von einer schweren Gonorhoe und von einer notwendigen Amputation des rechten Eierstocks und Eileiter, die durch den ständigen Missbrauch und damit zusammenhängenden Geschehnissen irreparabel beschädigt worden waren.
Dann Fotos von 1992, diesmal keine toten Augen mehr, sondern vor Wut flackernde. Eine Nahaufnahme einer schweren Brandverletzung am Handgelenk, die davon herrührte, daß sie an ein heißes Metallrohr gekettet gefunden worden war, wieder mehrfache Vergewaltigung – von mindestens zwei Männern. 1992 war die Polizei offenbar immerhin so weit gewesen, entsprechende Ermittlungen zu führen und Proben zu nehmen.
Horatio stutzte. Warum zwei? Sie hatte von Polite gesprochen, und er war auch verurteilt worden. Wer war der Zweite? Interessant war auch, dass Sidonie in ihrer Einvernahme kaum eine verwendbare Aussage machte, wenn sie Anschuldigungen vorbrachte, so gingen die nur zu Lasten von Polite.
Yelina kam gerade mit einigen unterschriftsfertigen Papieren in das Zimmer, als das Telefon läutete. Horatio hob ab und deutete ihr gleichzeitig, zu warten.
„Was passiert mit ihr?" fragte Sidonie ohne sich vorzustellen, nachdem Horatio sich gemeldet hatte.
„Ich kann es nicht sagen. Es kommt auf die Umstände an." antwortete Horatio wahrheitsgemäß.
Zögern am anderen Ende. „Das ist keine tolle Antwort. – Ich hätte mir jetzt eigentlich erwartet, daß Sie mir das Blaue vom Himmel lügen." der gewohnte Sarkasmus klang durch.
„Sidonie. Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann. Aber Sie sollen wissen, daß ich mich einsetzen würde, für Sie und auch für Ihre Schwester, wenn es eine gibt. - Haben Sie sie gefunden?" drängte er vorsichtig.
„Patricia Neville." antwortete Sidonie. „Ich habe eine Telefonnummer von dem Heim, wo sie bis vor kurzem gewohnt hat. Ob sie noch dort ist, weiß ich nicht, ich habe nicht mehr nachgefragt."
Horatio notierte die Nummer, die ihm angesagt wurde.
„Sidonie? - Danke."
„Gern geschehen" trifft es nicht ganz" antwortete Sidonie und legte auf.
„Jetzt wird es interessant." Horatio stand auf und ließ Yelina zurück, die ihm kopfschüttelnd folgte.
„Speed," er drückte ihm die Telefonnummer in die Hand. „Die Gesuchte heißt Patricia Neville. Finde raus, wo das Heim ist und fahr' hin. Vielleicht haben wir unsere zweite „nahe Verwandte". Hol dir eine DNA Probe, aber sei nett. Wenn Patricia dort ist, hatte sie wohl so eine schwere Zeit wie Sidonie. - Eric, im Polizeiakt von 1992 wird von zwei verschiedenen Tätern gesprochen. Einmal von Polite und einmal tauchen Spermien eines unbekannten Mannes auf. Jag diese Probe nochmals durch den Computer oder besorg sie dir vom Archiv und lass sie nochmals durchlaufen. Vielleicht liegt zum Zweiten etwas Neues vor. – Und mach das gleich auch mit dem Akt aus 1986."
Eric schüttelte den Kopf. „Das kannst du vergessen. Aus beiden Jahren gibt es nichts mehr. Nur mehr die Papierakte. – Ich habe bereits nach Proben gefragt, aber laut der Abteilung ist alles bei „Umstrukturierungen" in der Asservatenkammer abhanden gekommen. Und sie waren noch nicht so weit, daß die Daten nachträglich in das System eingegeben und gespeichert worden waren, bla bla bla."
Horatio fluchte kurz. „Das kann es nicht geben."
„Ok, Calleigh – was gibt's zu der Glock?"
Calleigh war eine halbe Minute vorher in das Zimmer gekommen, man merkte ihr schon am ersten Blick an, daß sie wirkliche Neuigkeiten haben mußte, so strahlte sie unverhohlen.
„Viel gibt es zu dem Thema. Ich habe jetzt über eine Stunde telefoniert, daher konnte ich vorher nichts sagen. Also: ich hab den Computer nach gleichen Projektilen und Projektilspuren suchen lassen. In den USA war die Suche negativ. Aber ich habe den gleichen Suchlauf International gemacht, was allerdings ewig gedauert hat. Aber: die Waffe wurde schon mal verwendet, nämlich im Glock-Herstellerland Österreich. Und zwar vor 4 Jahren. Dort wurde ein 15 jähriges Mädchen vergewaltigt und erschossen. Die Kollegen schicken mir noch die Unterlagen dazu. Es ist allerdings noch nicht klar, auf wen die Waffe zugelassen worden ist. - Übrigens brachten die mich auf etwas Interessantes: eine österreichische Waffe, die von österreichischen Polizisten verwendet wird, bläst Polite, der eine gebürtige Österreicherin mißbraucht hat, das Lebenslicht aus."
„Was ist an all dem das besondere? Vielleicht wollte Polite Nachschub besorgen und hat dann das Mädchen getötet." wollte Speed wissen.
Calleigh grinste „Vor 4 Jahren saß Polite noch im Gefängnis – er kam erst zwei Monate nach der Tat frei. Er war es also nicht, der in Österreich war und dort die Glock verwendete. Außerdem hat das Land strengere Waffenvorschriften, dort bekommt man nicht so einfach eine Glock ausgehändigt, schon gar nicht als Vorbestrafter."
Horatio nickte. „Fällt euch was auf? Ein Wort taucht sehr oft auf." sagte Horatio mysteriös und blickte anerkennend zu Calleigh, die gute Arbeit geleistet hatte und ihn auf den möglichen entscheidenden Punkt brachte.
„POLIZEI ist das Stichwort. Sidonie hat ein paar interessante Dinge gesagt. Zum Beispiel: ein Stammkunde, der Polizist ist und dann noch, mit Beziehungen über die Polizei ist alles möglich." Horatio machte in paar unbestimmte Schritte. „Liegt die Abschrift von Sidonies Einvernahme schon vor? - Such dir die Dienstnummer raus, die sie genannt hat und schau nach, ob es diese Nummer wirklich gibt und wem sie gehört."
