Horatio befand sich, wie so oft, bereits um 8.00 Uhr morgens im Büro, auch wenn Samstag war. Einige Mitarbeiter von der Wochenendschicht waren anzutreffen, dazu noch ein paar seines Teams, die ebenfalls liegen gebliebenes erledigen wollten.
Doch aus fast unerfindlichen Gründen gelang es ihm nicht so wirklich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder fiel sein Blick auf die Uhr und er ertappte sich auch ständig, dass er den Gang entlang sah, ob Sidonie schon auftauchte. Horatio war gespannt, was sie ihm bringen wollte. Würden sich noch mehr Abgründe, die mit dem Fall zu tun hatten, auftun? Und was fast noch schlimmer war, diese rothaarige Frau zog ihn immer mehr in ihren Bann, was ihr kaum, ihm aber um so bewusster war.
Er gegenfertige gerade einige Berichte zu anderen Fällen, als es leise an der Türe klopfte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute um diese Zeit hier arbeiten." begrüßte Sidonie ihn zaghaft.
Horatio lächelte. „Für irgendetwas müssen ja die Steuergelder sinnvoll verwendet werden, nicht wahr?" Sidonie war für diese Zeit ausgesprochen festlich gekleidet, ein schwarzes kurzes Kleid, dazu ein weißer Seidenschal um die Schultern. Er wollte gerade etwas sagen, als Sidonie nach hinten sah. Erst nun bemerkte er, dass noch jemand dabei war.
„Hallo Ally. Wie geht's?" Horatio blieb wohlweislich einige Schritte vor seinem Besuch stehen. Nur zu gut war ihm Allys Reaktion auf Polizisten in Erinnerung geblieben. Langsam trat das kleine Mädchen einen halben Schritt vor, um sich etwas umzusehen, drückte sich aber immer noch fest gegen Sidonie. Diese strich ihr über den Rücken und lächelte das Kind mit einem ungewöhnlich warmen und herzlichen Ausdruck an.
„Guten Morgen." wisperte das Mädchen schließlich, die Überwindung war ihr anzusehen.
„Hey, Ally. Also, wie vereinbart – ich muß mit dem Detective kurz sprechen und ihm etwas geben. Du wartest so lange hier heraußen auf mich. Wir lassen die Türe offen und ich seh' dich die ganze Zeit. Wenn was wäre, bin ich mit zwei Schritten bei dir. In Ordnung?" Ally sah sehr skeptisch drein, doch sie nahm vor Horatios Zimmer auf einem der Besucherstühle Platz. Misstrauisch blickte sie immer wieder den Gang hinauf und hinunter, bereit, sofort aufzuspringen.
„Sidonie, wie geht es Ihnen?" Sidonie lenkte ihren Blick von Ally weg zu Horatio.
„Schlecht. Aber wen interessiert's."
„Mich. Auch wenn Sie es nicht glauben wollen. – Sie sehen ziemlich ... erschöpft aus."
Sidonie reagierte zunächst nicht darauf. Wieder blickte sie zu Ally.
„Uhh – erschöpft meine Sie. Das trifft es nicht ganz, aber es ist zumindest wieder eine interessante Umschreibung." Sie seufzte. „Warum verlangen Sie das alles von mir?"
„Meinen Sie nicht, dass Ihnen das langfristig auch helfen kann, abzuschließen?"
Sidonie schüttelte den Kopf. „Sie verstehen das nicht. Wenn er mich nochmals in die Hände bekommt wie damals, dann überlebe ich das nicht mehr."
Horatio wollte zu einem Satz ansetzen, doch Sidonie sprach leise, aber eindringlich weiter. „Und damit meine ich nicht, dass er mich umbringt. Sondern das i c h das nicht nochmals durchstehe. Das war es dann. Ende. Aus. Erledigt. Dann bin ich fertig mit der Welt."
„Und trotzdem sind Sie hier." stellte er ruhig fest.
„Ja, trotzdem bin ich hier." Sie seufzte nochmals und griff dann in ihre Tasche, um einige A4-Blätter hervorzuholen, die sie vorerst noch in der Hand behielt. Ungefragt zog sie einen Sessel herbei und setzte sich, Horatio setzte sich halb auf die Tischkante und wartete ab.
„Ally und ich haben einen Deal, wissen Sie?" begann sie. „Ally hat mir versprochen, mitzukommen, und ich zieh dafür das hier durch." Sidonies Blick galt kurz dem Mädchen, draußen auf dem Gang, sie schenkte dem Kind wieder ein aufmunterndes Lächeln. „Deswegen bin ich auch gekommen."
Sidonie warf einen letzten Blick auf ihre Unterlagen. „Es wird Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag. Wenn Sie darauf nicht entsprechend eingehen, bringe ich es alleine zu Ende. Mit allen Konsequenzen."
Die Frau übergab ihm die Papiere, die sie in der Hand hielt. „Ich habe keine Kopien, also passen Sie darauf auf. Nicht, das es verloren geht, wie alle anderen Beweisstücke davor."
Horatio warf einige schnelle Blicke darauf; es handelte sich um periodische Berichte eines namhaften Detektivbüros in der Stadt.
„Ich habe schon vor Jahren begonnen, ihn regelmäßig beobachten zu lassen. Auch zu meiner eigenen Sicherheit. Es ist besser, wenn man weiß, wo sich der Gegner befindet. Der letzte Bericht ist vor zwei Monaten gekommen. So sollten Sie ihn eigentlich schnell ausfindig machen können. Angeblich ist er irgendwo in einer Bar aufhältig, die Adresse ist irgendwo im letzten Bericht vermerkt."
Horatio merkte an ihrer Art, dass noch etwas kommen würde. Zwar war er neugierig, was in den Unterlagen stehen würde, doch er hielt sich bewusst zurück. Sidonie hielt ein weiteres Blatt Papier in der Hand und wandte den Blick davon nicht ab.
„Mein Vorschlag ist der: Sie finden raus, wo Adams gerade steckt und ich gehe mit Ihnen oder mit jemand aus Ihrem Team hin und rede mit ihm. Alleine, natürlich. Er wird mit mir reden, er wird zu überrascht sein und er wird reden."
„Das ist völlig indiskutabel!" lehnte Horatio rundweg ihr Angebot ab.
„Ist es nicht. Wenn Sie dabei nicht mitmachen, gehe ich alleine hin. Und dann kann ich nicht dafür garantieren, daß ich so reagiere, wie ich es mir eigentlich vorstelle." Sidonies unausgesprochene Ankündigung blieb im Raum stehen, Horatio wusste sofort, was gemeint war.
„Das kann nicht Ihr ernst sein."
„Voll und ganz. Sie sagten doch selbst gerade, ich soll abschließen. Also. Ich gehe nun mit Ally und noch ein paar Kids in eine Matineevorstellung der Tanzakademie, die dauert bis ca. 12.30. Sollte ich nicht bis 18.00 Uhr von Ihnen gehört haben, erledige ich es alleine." Sidonies Stimme klag selbstbewusst. „Hören Sie. Ich kenne ihn, er kennt mich. Ich habe die besten Chancen, etwas aus ihm rauszubekommen. Bessere Chancen jedenfalls als Sie mit ein paar läppischen Indizien. Er hat Spuren verschwinden lassen, fast seine Identität gelöscht. Er ist offiziell abgetaucht. Und wenn Sie den Bericht durchgesehen haben, werden Sie feststellen, daß er immer noch ziemlich einschlägig tätig ist. Ich will ihn von der Bildfläche haben und nicht immer ins Ungewisse leben müssen."
Horatio drehte sich um und überlegte. Alles was sie sagte war wahr. Sie hatten nichts Verwertbares in der Hand, man konnte nicht mal von Indizien gegen Adams sprechen. Außer der seinerzeitigen Bekanntschaft zu Polite und der Tatwaffe lag nichts vor und das waren tatsächlich äußerst schwache Indizien.
„Außerdem habe ich noch was für Sie." hört Horatio Sidonie sagen. Sofort nahm er ihre veränderte Tonlage wahr, sodaß er sich wieder zu ihr umdrehte.
In Sidonies Händen befand sich immer noch ein A4-Blatt. Nervös hatte sie an der oberen Ecke herumgespielt und diese ein- und ausgerollt. Schließlich stand sie auf, stellte den Sessel zurück und streckte dann den Zettel in Richtung von Horatio, ohne ihn dabei anzusehen.
„Das ist hier wohl nur eine Zugabe meinerseits. Vielleicht nützt es Ihnen noch." Sie zögerte kurz. „Soweit ich weiß, reichen auch DNA-Proben aus zweiter Linie zum Überführen eines Täters aus." hörte Horatio sie sagen, während er bereits das Schriftstück genauer ansah.
„Medizinische Gewebe- und Blutbank" las er in der Kopfzeile. „Einverständniserklärung" war das nächste, was ihm ins Auge fiel, diese war von Sidonie unterschrieben.
„Was ist das?"
„Eine Ermächtigung, dass Sie die zu dieser Depotnummer liegende Gewebeprobe ansehen und etwas entnehmen dürfen." führte sie unnötigerweise aus.
„Das ist mir klar. Aber wofür?"
Sidonie schluckte. „Zum Nachweis, dass Adams 1992 mit von der Partie war." Horatio sagte oder fragte nichts, sondern wartete einfach nur auf das was kommen sollte.
„Ich hatte etwa 2 Monate danach eine Abtreibung..."
Dem Ermittler fehlten kurz die Worte. Schließlich zwang er sich doch zu der nächstliegenden Frage „Was macht Sie sicher, dass es Adams' ..." Horatio wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte und suchte nach dem passenden Abschluss. „Dass des Adam's Kind gewesen wäre?" vollendete sie den Satz. „Ich weiß es eben." erwiderte sie barsch.
„Und Sie haben damals schon eine Probe aufheben lassen?"
„Für den Fall der Fälle. Es ist doch immer gut, einen Trumpf im Ärmel zu haben, oder? Gerade in meiner Situation damals." Ihre Antwort war äußerst ironisch ausgefallen. Sidonie schnappte ihre Tasche und winkte Ally. Diese sprang sofort vom Sessel und lief zu ihrer Begleiterin.
„Los, jetzt gehen wir aber. Wir müssen noch Jessie abholen." Sidonies Stimme klang fröhlich, doch auch Ally fiel der traurige Unterton auf. Aufmerksam sah sie sie an und nahm dann Sidonies Hand.
Bei der Türe wandte sich die Frau nochmals um. „18.00 Uhr ist Annahmeschluss." wiederholte sie. „Entweder ich mache es mit Ihnen oder ohne. Es ist Ihre Entscheidung."
„Sidonie." hielt Horatio sie nochmals zurück. Er zögerte merklich „Ich habe noch nie eine so starke Persönlichkeit, wie Sie es sind, getroffen."
Sidonie warf einen kurzen unsicheren Blick zurück. „Glauben Sie wirklich, was Sie da sagen? Ich nicht."
Horatio blickte den Beiden in Gedanken versunken nach. Als sich die Aufzugstüre hinter ihnen geschlossen hatte, griff er schon zum Mobiltelefon und machte sein komplettes Team stellig. Der Tag würde einiges an Arbeit bringen, aber vielleicht auch die Aufklärung und die nötigen Beweise. Er hoffte, die von Sidonie gesetzte Deadline 18.00 Uhr nicht zu brauchen, wusste aber gleichzeitig, daß er kaum umhin kam, das Angebot anzunehmen.
