Scientia potentia est (Wissen ist Macht)

Geboren im Feuer und voll von Bestreben…", murmelte Lily vor sich hin und warf einen Blick aus dem Fenster, ohne wirklich wahrzunehmen, was draußen los war. James saß ihr gegenüber und starrte auf das Pergament, als würde dort im nächsten Augenblick eine Antwort erscheinen.

„…sein Leben allein wird die Zeit dir vorgeben", vervollständigte Lily den ersten Vers und schnalzte dann ungeduldig mit der Zunge.

„Das kann doch nicht so schwer sein", fauchte sie, was James dazu brachte, aufzusehen.

„Eigentlich nicht", gab er zu, warf einen weiteren Blick auf das Pergament und seufzte, „aber anscheinend ist es das."

„Was ist voller Bestreben und wird im Feuer geboren?", fragte Lily laut, ohne auf seinen Kommentar einzugehen.

James beschloss, dass es eine Frage war, die keiner Antwort verlangte und rutschte etwas auf seinem Stuhl herum, wie er es als kleiner Junge immer getan hatte, wenn ihm die Unterrichtsstunden seiner Privatlehrer zu langweilig oder anstrengend gewesen waren.

„Die Aufgabe ist in drei Wochen", bemerkte Lily überflüssigerweise, „langsam müsste uns was einfallen. Du musst ja auch noch trainieren."

Auch diesen Kommentar stufte James als ‚keine Antwort verlangend' ein und beugte sich schweigend wieder über das Pergament. Lily seufzte und tat es ihm gleich.

Seit Wochen schon trafen sie sich in jeder freien Minute in der Bibliothek und versuchten herauszufinden, was es mit diesem Hinweis auf sich hatte. Aber schlauer waren sie bisher nicht geworden.

„Irgendwie erinnert mich das ja an die Häuser von Hogwarts", bemerkte James irgendwann. Lily sah nicht mal auf, machte aber eine vage Handbewegung, die James sagte, dass er fortfahren sollte.

„Ich meine ‚Bestreben' und ‚Weisheit' und ‚Tapferkeit' und ‚Gerechtigkeit', das klingt schon sehr danach, oder nicht? Aber das macht keinen Sinn. Ich meine, gibt es ein Tier, was halb Adler und halb Löwe ist?", er sah sie fragend an.

„Ja, der Greif. Er stammt aus Griechenland und hat Kopf und Vorderbeine eines Riesenadlers und Körper und Hinterbeine eines Löwen. Wie die Sphinxe werden die Greife häufig von Zauberern eingesetzt um Schätze zu bewachen. Zwar sind sie grimmige Wesen, doch soll es schon Vorgekommen sein, dass eine Hand voll fachkundiger Zauberer sich mit dem ein oder anderen befreundet hat.

Greife ernähren sich von rohem Fleisch. Das Zaubereiministerium hat sie als ‚Gefährlich/ Verlangt Fachwissen/ Umgang nur entsprechend ausgebildeten Zauberern erlaubt' eingestuft", leierte sie herunter und schien dabei so was von unbeteiligt, dass James ahnte, dass ihre Gedanken ganz wo anders waren und sie gar nicht begriff, was sie da sagte.

„Weißt du was das heißt?", fragte er sie und schaffte es kaum, die Aufregung aus seiner Stimme zu bannen.

Erst jetzt sah Lily auf. Sie blinzelte ein paar mal, dann fokussierte sich ihr Blick, als ihre Gedanken zu ihm zurückkehrten. Sie schien ganz offensichtlich nicht zu wissen, wovon er redete.

„Na, der zweite Vers handelt von einem Greifen. Vorne Adler, also Ravenclaw, hinten Löwe, also Gryffindor. Weisheit und Mut. Das Zeug hier bezieht sich wirklich auf die Hogwartshäuser", verkündete er und sah sie Beifall heischend an.

Lily blinzelte kurz, schien dann zu begreifen, was er sagte und grinste.

„Dann ist im ersten eine Schlange gemeint, wegen Slytherin und Bestreben. Und im letzten ein Dachs, weil Hufflepuff und gerecht und ohne List und so", überlegte James schon weiter, las dann die Verse noch mal und wirkte auf einmal viel weniger begeistert.

„Aber was hat eine Schlange mit Feuer zu tun?", fragte er mehr sich selbst, als Lily.

Die jedoch hatte die Antwort parat: „Eine Aschwinderin. Eine dünne, graue Schlange, die in unbeobachtetem, magischem Feuer geboren wird und nur eine einzige Stunde lebensfähig ist. Als ‚von fähigen Zauberern zu bändigen' eingestuft."

Jetzt war es an ihr, Beifall heischend zu grinsen.

Suche die Gerechten…", James runzelte die Stirn, „wo leben Dachse?"

„Im Wald natürlich", Lily lachte, „Dummkopf."

„Im Wald?", hakte er nach, offensichtlich verwundert.

„Logisch. Was hattest du denn gedacht?", Lily wirkte wirklich überrascht über seine Unwissenheit.

„Keine Ahnung. Was interessieren mich Dachse?", James grinste. Sie verdrehte die Augen und sah wieder auf das Pergament. James tat es ihr gleich, las die Sätze und runzelte wieder die Stirn.

„Was heißt ‚gefeit'?", erkundigte er sich.

„Immun gegen etwas sein", erklärte Lily etwas ungeduldig.

„Dann soll das Ganze hier also bedeuten, dass ich eine Stunde Zeit habe, in einem Wald – vermutlich dem Verbotenen – etwas zu suchen, was mir wichtig ist und von einem Greif bewacht wird?", erkundigte er sich, nur um Sicherzugehen.

Lily nickte, woraufhin James wieder die Stirn runzelte: „Und warum sagen sie uns das nicht gleich?" Für einen Moment sah Lily in sprachlos an, dann brach sie in Gelächter aus, in dass James bald einstimmte.


„Und? Übst du heute wieder mit Evans?", erkundigte Sirius sich einige Tage später, als er und James zum Zaubertränkeunterricht gingen.

„Ja", James nickte und warf seinem Freund einen verstohlenen Seitenblick zu. Er wusste, dass Sirius nicht gerade begeistert davon war, wie viel Zeit er mit Lily in der Bibliothek verbrachte.

Aber was sollte man machen? Er hatte ein Turnier zu gewinnen. Ein Turnier, bei dem er im Moment auf den dritten und letzten Platz lag. Er durfte sich einfach keine Patzer erlauben.

Und Lily war nun mal eine große Hilfe. Größer, als einer seiner Freunde es hätte sein können. Naja, mit Ausnahme vielleicht von Remus. Aber wenn er schon die Wahl hatte, verbrachte James lieber seine komplette Freizeit mit Lily, als mit Remus.

Nichts gegen Remus, immerhin war er einer von James' besten Freunden, aber Lily… na ja, Lily war Lily und aus irgendeinem Grund schien das als Argument zu reichen.

Als Sirius und James den Klassenraum betraten, waren die meisten ihrer Mitschüler bereits da. Fehlen tat nur Bertha, die, wie auch Sirius und James, Pflege magischer Geschöpfe gewählt hatte und erstmal von den Ländereien in die Kerker kommen musste.

Auch Lily war bereits da und lehnte an Candys Tisch, während sie sich mit ihrer Freundin unterhielt. Kaum dass sie sah, dass Sirius und James gekommen waren, stieß sie sich von der Tischkante ab, sagte etwas zu Candy und ging dann zielstrebig auf die beiden Jungen zu.

„Hey", grüßte sie, „sagt mal, kann ich mit einem von euch machen? Sara hat ganz offensichtlich jemand besseren gefunden." Sie grinste und deutete in eine Ecke des Kerkers, in der Sara saß, direkt neben Tim Fawcett.

„Ähm, ja, klar", James versuchte, nicht allzu wütend in die angedeutete Richtung zu starren, „wenn Sirius hier mit Remus macht, dann würde es gehen."

„Kein Problem", Sirius machte sich bereits auf den Weg zu Remus' Tisch, warf aber noch einen Blick zurück und wünscht grinsend: „Viel Spaß!"

„Ich war eben in der Bibliothek", murmelte Lily in ein paar Minuten später, nachdem Slughorn den Unterricht begonnen hatte und die Schüler jetzt einen Feuerschutztrank zu brauen versuchten.

„Hab ein paar ganz nützliche Zauber gefunden", fuhr Lily fort, nachdem sie sicher war, dass James, und nur James, sie hörte.

„Ein Bindehautfluch. Ist ganz praktisch, falls sie irgendwas gepanzertes auf euch ansetzten. Dann ein einfacher Heilzauber, der vielleicht auch ganz brauchbar sein könnte und noch den ‚Vier Punkte Zauber'. Falls du dich im Wald verläufst. Funktioniert wie ein Kompass", zählte sie dann leise auf und ließ ein paar unförmige schwarze Klumpen in den Zaubertrank fallen.

James wusste nicht, was es war, aber er beschloss, nicht danach zu fragen. Zum einen war es nicht wirklich wichtig und zum anderen schien Lily zu wissen, was sie tat. Sie war immerhin eine Koryphäe in Zaubertränke, wie auch in Zauberkunst.

James' eigene Spezialgebiete lagen eher in Verwandlung und VgddK, also tat er gut daran, Lily einfach machen zu lassen.

„Also?", fragte sie etwas ungeduldig und ließ einige Tropfen aus einer roten Ampulle in den Trank fallen. James fand, dass ihr Inhalt eine beunruhigende Ähnlichkeit mit Menschenblut hatte.

„Der Heilzauber ist auf jeden Fall gut. Und den Bindehautfluch kann ich ja auch lernen, aber das Vier-Punkte-Viech brauche ich nun wirklich nicht", erwiderte er.

Lily drehte sich zu ihm um: „Bist du dir sicher? Der Verbotene Wald soll ziemlich verwinkelt sein…"

„Ist er auch", gab James zu und rührte den Trank sieben Mal im Uhrzeigersinn herum, „aber ich bin nicht umsonst ein Marauder. Ich kenne diese Schule mitsamt ihrer Ländereien besser als irgendwer sonst. Vertrau mir." Er grinste sie an.

„Na, wenn du meinst", Lily wirkte nicht überzeugt, wandte sich aber wieder dem Trank zu, gab eine weitere Zutat hinzu, rührte dreizehn Mal gegen den Uhrzeigersinn und sah dann auf.

„Professor Slughorn?", rief sie durch die Klasse, „wir sind fertig!"

„Ah, ja", der Professor kam zu ihnen herüber, „dann wollen wir doch mal sehen, Miss Evans." Er begutachtete den Trank, die Farbe, die Konsistenz und den aufsteigenden Rauch., dann nickte er befriedigt.

„Fehlerlos. Gute Arbeit, Miss Evans", lobte er, „aber natürlich hatte ich nichts geringeres erwartet."

„Freut mich, dass sie zufrieden sind", erwiderte Lily lächelnd, „dich nicht auch, James?"

„Ähm, jaja, natürlich", beeilte der sich, zuzustimmen. Professor Slughorn warf ihm einen Blick zu, der klar ausdrückte, dass er James vorher gar nicht wahrgenommen hatte.

„Ja. Gut gemacht. Mr. Potter", fügte der Lehrer etwas verwirrt und nur ungefähr halb zu enthusiastisch hinzu, bevor er sich umdrehte und wieder zum Lehrerpult ging.

Lily zwinkerte James zu, holte dann zwei leere Fläschchen hervor und füllte sie mit dem Trank. Eins beschriftete sie und ließ es zu Slughorns Pult fliegen, dass andere verschwand in der Tasche ihrer Robe.

Auf James verwirrten Blick hin, grinste sie nur: „Weiß Merlin, wann du das noch mal brauchen kannst."