Gegen die Zeit

„So, ich denke, als nächstes sollten wir noch an deinem Schildzauber arbeiten. Er könnte noch stärker werden", schlug Lily vor. James nickte.

Es war der Abend vor der zweiten Aufgabe und ehrlich gesagt hätte er alles gemacht, was Lily vorschlug.

Protego", rief er also genau in dem Moment, in dem Lily einen Kitzelfluch los ließ. Er prallte ab, ebenso ein Lähmzauber, ein Entwaffnungszauber, ein Wabbelbeinfluch und ein Flederwichtfluch.

Noch hielt James' Schild, aber er merkte, wie es langsam zu schwanken begann. Sekunden später brachte eine Ganzkörperklammer ihn zum bersten und James klappte stocksteif nach hinten weg.

„Besser", hörte er Lily sagen, „aber noch nicht gut genug. Finite Incatatem." Gerade als James sich aufrichtete klopfte jemand an die Tür.

„Lily Evans?", fragte ein verschüchterter Zweitklässler, „Professor Dumbledore möchte dich sehen." Lily wirkte so verwirrt, wie James, griff aber nach ihrem Umhang.

„Falls wir uns morgen nicht mehr sehen… Viel Glück", wünschte sie James und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie nach draußen verschwand.

Tatsächlich sah James sie an diesem und auch am nächsten Tag nicht mehr. Er hatte versucht, den Schildzauber alleine zu üben, dann aber festgestellt, dass es wenig Sinn hatte und aufgehört.

Er war zeitig zu Bett gegangen und stand jetzt, um kurz vor halb zehn, ausgeruht auf seinem Platz zwischen Anastasia und Marcel, bereit, sich der nächsten Aufgabe zu stellen. Aber die Frage, wo Lily abgeblieben war, wollte ihn nicht loslassen.

Sie schien nicht auf einer der Tribünen zu sein und war auch sonst nirgendwo zu entdecken. Nicht, dass sie ihm jetzt noch hätte helfen können, aber es war doch verwunderlich, dass sie nicht anwesend war. Vor allem, wenn man bedachte, wie viel Zeit sie für ihn geopfert hatte.

James' Hand schloss sich um die beiden Fläschchen in seiner Tasche. Das eine enthielt den Feuerschutztrank, den Lily zwei Wochen zuvor aus Zaubertränke hatte mitgehen lassen, das andere einen Stärkungstrank, den sie ihm irgendwann noch gebraut hatte.

„Guten Morgen und herzlich willkommen zur zweiten Aufgabe des Trimagischen Turniers", ertönte in dem Moment die magisch verstärkte Stimme seines Vaters, „die Champions können heute bis zu 50 Punkte erreichen. Aufgabe ist es, in den Verbotenen Wald zu gehen, in dem sich heimische und auch importierte Kreaturen befinden. Sie alle hier können jeden Schritt der drei Champions auf diesen Monitoren mit verfolgen."

Er deutete auf die drei großen Monitore, die jeder einen Champion zeigten. „Und weil wir natürlich auch ein Ziel brauchen", fuhr Mr. Potter fort, „muss jeder Champion einen Schatz zurückbringen. Doch handelt es sich hierbei nicht etwa um Gold, sondern um die Person, die dem jeweiligen Champion am meisten am Herzen liegt."

Die Bilder auf den Monitoren veränderten sich. Der von Marcel zeigte jetzt einen etwa dreizehnjährigen Jungen, ganz offensichtlich sein Bruder. Er schien in einer Höhle zu sein und zu schlafen, ebenso das schwarzhaarige Mädchen, anscheinend Anastasias Freundin, auf dem Monitor daneben.

Zu letzt warf James einen Blick auf seinen eigenen Bildschirm und was er dort sah, überraschte ihn nicht minder, als Hogwarts' gesamte Schülerschaft. Das Mädchen dort war ganz eindeutig Lily.

Lily Evans.

James zog die Luft ein. Sie sollte der Mensch sein, der ihm am meisten am Herzen lag? Ausgerechnet sie?

„Die Champions haben genau eine Stunde Zeit, ihre Schätze zu retten und sie unversehrt wieder hierhin zu bringen", fuhr Mr. Potter fort, „wir wünschen ihnen ein gutes Gelingen."

Im nächsten Moment hörte man das Startgeräusch und die große Uhr über den Monitoren begann zu ticken. Anastasia und Marcel liefen in Richtung Wald und James folgte, langsamer, während er versuchte, sich an eine Höhle irgendwo da drin zu erinnern.

Ihm viel direkt keine ein, aber die Wahrscheinlichkeit Höhlen zu finden, war im bergigen Nordteil des Waldes am größten, also lief er nach Norden. Aus den Augenwinkeln heraus bekam er noch mit, wie Marcel direkt nach Osten lief, in den Wald hinein, und Anastasia nach Süden, offenbar erpicht darauf, am Waldrand zu bleiben.

Die ersten Minuten lang passierte gar nichts. James lief einfach weiter nach Norden und fragte sich, was genau hier gespielt wurde. Er wurde langsamer und sah sich misstrauisch um.

Neben ihm war ein kleiner See, dessen Oberfläche sich Unheil versprechend kräuselte. Bevor James herausfinden konnte, was da los war, spürte er plötzlich, wie sich etwas an seinem Umhang festhielt.

Er fuhr herum und starrte ein fahlgraues, gehörntes Wesen an, dass sich mit langen Fingern am ihm festklammerte. In dem Moment, in dem er in seinem Gedächtnis danach graben wollte, womit er es hier zu tun hatte, hörte er Lilys Stimme. Natürlich nicht wirklich, sondern in seinem Kopf.

Sie hatte ihm das komplette „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind" in verkürzter Form diktiert, in der Hoffnung, er würde sich Aufgeschriebenes besser merken können, als Gelesenes. Nun, jetzt stellte sich heraus, dass er sich Gehörtes am besten merkte.

„Ein Grindeloh. Brich ihm die Finger und mach voran!" James tat wie ihm geheißen und der Grindeloh machte ihm keine weiteren Probleme.

Er lief weiter und begegnete kurz nacheinander einem Rotkappen („Verfluch ihn. Das kannst du doch so gut.") und einem Kappa („Bring ihn dazu, sich zu bücken. Irgendwie.") Beide hielten James nicht länger als ein paar Minuten auf.

Als schwieriger erwies sich da das nächste Wesen, dem er begegnete. „Verschwinde!", riet ihm Lilys Stimme in seinem Kopf, doch leider hatte James so lange gebraucht, das Biest als Graphorn zu identifizieren, dass es ihn längst entdeckt hatte.

Doch auch hier hatte Lilys Stimme einen guten Rat: „Im Zweifelsfall sind die Augen der einzig verletzliche Teil. Wie bei Drachen." Also ließ James den neu gelernten Bindehautfluch los und schaffte es, sich an dem vor Schmerz wütenden Tier vorbei zu schleichen.

Kaum, dass er etwas außer Atem neben einem weiteren See, diesmal größer als der vorherige, gestoppt hatte, kam auch schon das nächste Wesen. Ein Pferd mit Binsenmähne.

„Ein Kelpie. Leg ihm mit einem Platzierungszauber ein Geschirr an, dann wird er brav", riet Lilys Stimme und James tat genau dies, nachdem er es geschafft hatte, sich an den Platzierungszauber zu erinnern. Der Kelpie wurde wie versprochen lammfromm und James konnte weiter, immer die Zeit im Kopf.

Nur kurze Zeit später, wurde er mit dem nächsten Wesen konfrontiert. Einem Zentauren. Lilys Rat („Sei nett, bei Grindelwald!") hätte er diesmal gar nicht gebraucht, denn es war wahrlich nicht der erste Zentaur, dem James begegnete.

„Hallo", grüßte er. Der Rotfuchs drehte sich um und musterte ihn.

„Mars und Venus stehen gut", verkündete er, „aber seien Sie vorsichtig junger Mann. Die Sterne sind nicht jedem gut gesonnen."

„Ähm, ja, danke", James lief bereits weiter, „man sieht sich."

„Merkur sei mit Ihnen", wünschte der Zentaur und James, der annahm, dass es so etwas wie ‚viel Glück' bedeuten sollte, rief „mit Ihnen auch" über seine Schulter, während er sich entfernte.

Danach geschah erstmal gar nichts, außer das der Boden steiniger und der Wald dichter wurde. James lief ungehindert vorwärts und fragte sich gleichzeitig, wie es wohl Marcel und Anastasia erging.

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er den Übelriechenden Geruch, der in der Luft hing, gar nicht bemerkte. Er blickte erst auf, als er einen Grunzlaut hörte und sah sich mit einem grünen Waldtroll konfrontiert.

„Setz ihn außer Gefecht. Wie auch immer", wies Lilys Stimme an und James hätte beinahe gelacht. Die hatte Nerven. Zwar hatte der Waldtroll ihn noch nicht entdeckt, aber James ahnte, dass vorbei schleichen es nicht bringen würde.

Er sah sich nach etwas um, was ihm helfen konnte und sein Blick fiel auf einen mittelgroßen Felsbrocken. Leise ‚wingardium leviosa'-te er ihn hoch und ließ ihn aus etwa zwei Metern Höhe auf den Troll herunterfallen.

Der grunzte einmal verwirrt und kippte nach hinten weg. Na, das war glimpflich ausgegangen. James grinste und lief weiter, immer noch nach Norden.

Doch die Trollepisode hatte ihm eins gezeigt: er musste besser aufwachen. ‚Konstante Wachsamkeit', wie Alastor Moody, einer der hochrangigen Auroren es zu bezeichnen pflegte.

Und aufgrund dieser Wachsamkeit schaffte James es, das nächste Tier rechtzeitig auszumachen. „Erupment", nannte Lilys Stimme das mächtige, rhinozerosartige Wesen. Ihr einzige Tipp lautete: „Hau ab. Schnell und leise." Und James ließ sich nicht zweimal bitten.

Er machte einen Schlenker nach Osten und lief erst wieder nach Norden, als er sicher sein konnte, dass er weit genug von dem Erupment weg war.

Und wieder kamen ihm für einige Minuten keine Tiere entgegen. Trotzdem James langsam das Gefühl, er würde verfolgt. Doch jedes Mal, wenn er sich umsah, war da nichts außer Wald. Er fragte sich schon, ob er paranoid wurde, da bemerkte er zufällig, dass sich einer seiner Schnürsenkel geöffnet hatte.

Er kniete sich nieder, um ihn zu schließen und hatte im nächsten Moment etwas auf dem Rücken hängen. „Ein Pogrebin", erklärte Lilys Stimme, „lähm ihn einfach." James tat, wie ihm geheißen und setzte seinen Lauf fort.

Er begegnete noch einem Tier, was zwar gefiedert war, aber einen schlangenartigen Körper besaß und von Lilys Stimme als Occamy identifiziert wurde. Ihren Tipp („Lässt du es in Ruhe, lässt es dich auch in Ruhe.") nahm James gerne an und wich dem Occamy ebenso aus, wie er es vorher bei dem Erupment gemacht hatte.

Normalerweise war er eher der Typ, der es auf eine Konfrontation ankommen ließ, aber etwas sagte ihm, lieber aus Lilys Tipps zu hören, als den großen Helden zu markieren. Vor allem, wenn er bedachte, dass alle anderen Schüler ihn auf diesem Monitor beobachteten und er ganz sicher keine peinlichen Situationen brauchte.

Nicht, wo er ohnehin an letzter Stelle lag. Der Gedanke daran ließ James noch schneller werden. Er hatte mittlerweile sehr steiniges Gelände erreicht, dass es ihm schwer machte, vorwärts zu kommen. Trotz allem kämpfte er sich weiter, immer daran denkend, dass die Zeit gegen ihn lief.

Gerade wollte er seinen – nicht existenten – Plan noch mal überdenken, da erblickte er plötzlich ein Tier, halb Adler, halb Löwe, dass vor einer Höhle stand. Ein Greif. James grinste.