Sleeping Beauty
Vorsichtig ging James auf den Greifen zu und lies ihn dabei nicht eine Sekunde aus den Augen. Das Tier beobachtete ihn ebenfalls sehr genau, ließ ihn jedoch passieren und die Höhle betreten. Darin war es dunkel und James' Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Dann konnte er im hinteren Teil drei Personen ausmachen. Ganz rechts lag der kleine Junge, Marcels Bruder, ganz links das schwarzhaarige Mädchen, bei dem James mittlerweile sicher war, dass sie ebenfalls eine Durmstrang war und ihren Namen ebenfalls in den Kelch geworfen hatte.
Und, so erinnerte er sich, es war die Freundin Anastasias, die auf dem Weihnachtsball einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. In der Mitte der beiden lag Lily. James trat langsam auf sie zu und hörte, wie der Greif hinter ihm in die Höhle trat.
Er verspannte sich, aber das Tier schien ihn gar nicht angreifen zu wollen. Es tat lediglich das, was es tun sollte. Es bewachte den Schatz, den es bewachen sollte. Punkt.
James trat also zu Lily und beugte sich zu ihr herunter, aus den Augenwinkeln den Greif beobachtend. Der wirkte zwar ziemlich griesgrämig, blieb aber, wo er war.
Gerade wollte James Lily hochheben, da hörte er neben sich ein Geräusch. Marcels Bruder hatte sich gedreht. James trat zu ihm hin, um zu sehen ob es dem Jungen gut ging, aber gerade, als er eine Hand ausstreckte, spürte er plötzlich einen scharfen Schmerz im Arm.
Der Greif stand neben ihm und funkelte ihn an. „Viech", zischte James, verstand aber, was der Greif ihm klar machen wollte. Er durfte seinen ‚Schatz' mitnehmen, sollte aber die anderen gefälligst in Ruhe lassen.
„Episkey", murmelte James also den Heilzauber, den Lily ihm beigebracht hatte und sofort schloss sich die Wunde, die der Schnabel des Greifen ihm zugefügt hatte. Ein „scourgify" und auch das Blut verschwand, dann wandte James sich wieder seiner Geisel zu, die, wie die anderen, friedlich schlief.
Vorsichtig hob er Lily hoch und stellte erleichtert fest, dass sie verhältnismäßig leicht war. Natürlich hätte er sie auch schweben lassen können, aber dazu hätte er seinen Zauberstab verwenden müssen und das war nicht klug.
Er trug Lily also aus der Höhle und tatsächlich ließ der Greif ihn ungehindert passieren, folgte ihm dann und postierte sich wieder vor der Höhle. James dagegen machte sich auf den Rückweg und hoffte darauf, dass irgendein Wunde geschehen und ihn rechtzeitig zurück sein lassen würde.
Doch das Wunder ließ sich nicht blicken und zum Glück auch kein anderes Ding, so dass er für die nächsten Minuten gut vorwärts kam. Zwischendurch begegnete er zwar noch etwas, was Lilys Stimme mit „Erkling" titulierte, aber durch einen Schlag auf den Kopf, wie sie es ihm riet, setzte James das Ding schnell außer Gefecht.
Danach ging es weiter, immer nach Süden und immer so schnell, wie es gerade möglich war.
Drei Doxies kreuzten als nächstes seinen Weg, aber indem James wieder dem Rat von Lilys Stimme („Lähm sie einfach. So schwer ist das nicht.") folgte, war auch dieses Hindernis schnell beseitigt.
Langsam begann James zu glauben, dass sein größter Feind wirklich weniger die Kreaturen, als das Zeitlimit war. Denn rein gefühlsmäßig würde James sagen, dass bereits drei Viertel der Zeit um waren. Wenn nicht sogar noch mehr.
Der Gedanke spornte ihn weiter an und er beeilte sich so sehr, dass er das nächste Wesen erst bemerkte, als es beinahe zu spät war. Es war eine Spinne. Eine große Spinne. Sehr groß eigentlich. Um nicht zu sagen ‚riesengroß'. James wich zurück, doch das Biest hatte ihn bereits entdeckt.
„Hallo", klickte es.
„Ähm", James sah sich möglichst unauffällig um, „hallo."
Lilys Stimme hatte längst erkannt, was das da war: „Eine Acromantula. In den sehr, sehr, sehr unwahrscheinlichen Fall, dass du einer begegnen solltest, habe ich nur einen Tipp für dich: Bete. Bete für ein Wunder. Oder du wirst Spinnenfutter." James grinste gequält. Tolle Aussichten waren das.
„Was machst du hier?", wollte die Spinne wissen. Anscheinend schien sie in geselliger Laune zu sein. Und in redseliger.
„Ich versuche ein Turnier zu gewinnen", gab James zurück.
„Ein Turnier?", erkundigte sich die Acromantula und schaffte es beinahe, neugierig auszusehen.
„Ja", James nickte, „ich muss sie hier" – er deutete auf Lily – „nach Hogwarts bringen. Und ich habe nur noch wenig Zeit."
„Und dann kriegst du was genau?", fragte die Spinne.
„Ähm… einen Pokal, Geld und ewigen Ruhm", erwiderte James, nachdem er entschieden hatte, dass es unnötig war, zu erwähnen, dass dann immer noch eine Runde anstand.
„Du bekommst das, wenn du sie zu dieser Schule bringst?", vergewisserte sich sein Gesprächspartner in dem Moment. James nickte stumm und drückte Lily unbewusst fester an sich.
„Ich schlage dir einen Deal vor", fuhr die Spinne fort, „du gibst mir sie und bekommst dafür dein Leben. Na, ist das nichts?" James starrte sie an und begann dann, zurückzuweichen.
„Nein, ich glaube nicht", dann begann er zu rennen. Wohl wissend, dass seine Chancen denkbar klein waren.
Tatsächlich hörte er, wie sich die Spinne Sekunden später ebenfalls in Bewegung setzte. Und, dass sie weitaus schneller war, als er. Trotz seiner Kondition, die er dank Quidditch aufgebaut und immer für ziemlich gut gehalten hatte, würde sie ihn in einigen Sekunden eingeholt haben. Und das Lilys Körper ihn noch weiter behinderte, half da auch nicht viel.
In dem Moment, in dem die Spinne beängstigend nah kam, entdeckte James eine schmale Lücke im Gebüsch und hetzte hindurch. Hinter ihm hörte er, wie die Spinne unverhohlen fluchte und begann, sich einen Weg frei zu arbeiten.
James rannte einfach weiter, ohne darauf zu achten, wohin. Nordosten, wie er sein Glück kannte. Weg von Hogwarts, was ungefähr südwestlich von ihm lag. James rannte weiter und bemerkte die Wurzel nicht, die in seinem Weg lag. Sekunden später war er gestolpert und lag ausgestreckt auf dem Waldboden, Lily einen Meter entfernt.
Schnell rappelte James sich auf, hob das Mädchen wieder hoch und wollte seinen Weg fortsetzen, da bemerkte er etwas, das ihn stoppen ließ.
Ein Hippogreif stand einige Meter entfernt. Ein hübsches Rapp-Exemplar. Und er hatte die Vorderbeine eingeknickst. Anscheinend hatte er James' Hinfallen als Verbeugen gedeutet und machte nun ebenfalls einen Diener.
James hörte die Spinne hinter sich näher kommen und entschied blitzschnell. Er lief auf den Hippogreif zu, hob Lily hinauf und stieg selbst hinter auf, dann bedeutete er dem Tier, los zu fliegen.
Der Hippogreif tat, wie ihm geheißen, rannte los und hob kurze Zeit später vom Boden ab. Ein Blick zurück zeigte James die Acromantula, die wütend irgendetwas klickte.
„Nach Hogwarts", brüllte er dem Hippogreif gegen den Wind zu und hoffte, dass das Tier ihn verstanden hatte. Anscheinend hatte es, denn es änderte seinen Kurs und flog geradewegs auf die Schlosstürme zu, die in der Ferne sichtbar waren. James hielt Lily noch etwas fester und erlaubte sich wieder ein Grinsen.
Nur wenige Minuten später setzte der Hippogreif den Sinkflug an und James konnte deutlich die Zuschauertribünen und die Monitore entdecken.
Einer zeigte Anastasia, in Decken gewinkelt und offensichtlich wieder zurück, der andere Marcel, wie er durch den Wald strich und der letzte ihn und Lily, auf dem Rücken des Hippogreifs.
Was James jedoch in Eile versetzte, war die Uhr, die besagte, wie kurz davor die Zeit war, abzulaufen. Kaum, dass der Hippogreif den Boden berührt hatte, sprang James ab, Lily immer noch auf dem Arm und rannte so schnell wie ihn seine – zugegebenermaßen doch sehr zittrigen – Beine ihn tragen wollten und konnten zur magisch ins Gras gezogenen Start- und Ziellinie.
Das Jubel seiner Mitschüler hörte er kaum, ebenso wenig die Stimme seines Vaters, die irgendetwas sagte. Was aber zu ihm durchdrang, war das Ticken der Uhr. Und dann die Zuschauer, die den Countdown runter zählten.
„Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei…" In dem Moment setzte James den Fuß über die Ziellinie und der Jubel kannte keine Grenzen mehr.
James jedoch sah sofort zu Lily, deren Augen sich in dem Moment geöffnet hatten, in dem er die Ziellinie passiert hatte.
„Hallo Schlafmütze", grinste er und ließ sie herunter, so dass sie wieder auf ihren eigenen Beinen stehen konnte. Trotz allem blieben seine Arme um ihre Taille – selbstverständlich nur um sie zu stützen – und ihre um seinen Hals – ebenfalls nur aus rein praktischen Gründen.
Lily blinzelte und schien dann zu begreifen, was los war. Sie sah von James zu der jubelnden Menge, wieder zu James, dann zu der Uhr und wieder zu ihm. Langsam breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
„Du hast es geschafft?", hakte sie nach. James nickte und grinste noch breiter: „Ja, so kann man es nennen. Auch wenn ich dich beinahe einer Acromantula zum Fressen gegeben hätte. Im Tausch gegen mein eigenes Leben. Aber nur beinahe."
„Na, da bin ich ja erleichtert", scherzte Lily und strahlte ihn an. Dann, bevor James etwas sagen konnte, streckte sie sich und küsste ihn. Einfach so.
James blieb der einzige, der die Aufgabe komplett bewältigte. Marcel überschritt die Zeit um zwanzig Minuten und brach kurz nach seiner Ankunft zusammen. Maurice, sein kleiner Bruder, war zum Glück nur leicht verletzt.
Anastasia hatte es nicht geschafft, ihre Geisel zu befreien und hatte nach ca. 45 Minuten gerettet werden müssen. Lesja Jechanurow, die Geisel, war von Schutzzauberern befreit worden.
„Kommen wir nun zu Punktevergabe", verkündete Mr. Potter irgendwann, „Miss von Jawlensky hat es leider nicht geschafft, ihre Geisel zu retten und bekommt nur 25 Punkte. Ihr Gesamtergebnis beträgt somit 116 Punkte.
Mr. Couperin hat zwar seine Geisel gerettet, jedoch mit erheblicher Zeitüberschreitung und kriegt dafür 35 Punkte, womit er insgesamt 110 Punkte hat. Mr. Potter ist es als einzigem gelungen, seine Geisel zu retten, ohne zu Zeit dabei zu überschreiten. Er hat nun, zusammen mit 50 neu verliehenen Punkten, ebenfalls 116 Punkte."
Die Hogwartsschüler jubelten ihrem Champion so laut sie konnten zu, doch der hörte das gar nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen ‚Schatz' zu küssen.
