Damals
„Und du gehst jetzt mit ihm? So ganz richtig?", wollte Bertha zum ungefähr hundertsten Mal wissen. Lily lachte und beantwortete die Frage, ebenfalls zum hundertsten Mal, mit einem Nicken.
„Na, dass ich den Tag noch erleben darf…", neckte Emmy die Rothaarige, aber Lily nahm es mit Humor. Es hätte schon mehr als ein paar Neckereien bedurft, um sie wütend zu machen. Dafür war sie viel zu gut drauf.
„Ich verstehe dich nicht", warf Sara von der Seite ein, „ich meine… James? Musste das sein?"
„Wo ist dein Problem, Mrs. Fawcett?", erkundigte Lily sich scheinheilig und kämpfte ein Grinsen nieder.
„Genau", hieb Candy in dieselbe Kerbe, „was ist denn mit dir und Tim?" Sara lief augenblicklich feuerrot an.
„Ähm… nichts?", versuchte sie sich heraus zu reden. Doch wie es nur natürlich ist war es dafür längst zu spät.
„Ist es dir etwa peinlich?", Emmy hat ihr neues Opfer gefunden.
„Nein", Sara schüttelt wild den Kopf, „aber da ist wirklich nicht… viel." Und das Grinsen, das die anderen vier tauschten, sagte Sara, dass sie verloren hatte.
„Also, wir haben uns an Weihnachten… na ja, geküsst halt", gab Sara etwas stockend zu.
Lily grinste diabolisch: „Ich weiß. James und ich haben euch gesehen."
Sara wirbelte herum: „Ihr habt WAS?"
„Euch gesehen", erwiderte ihre Freundin trocken, „und du solltest mir besser danken. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätte James einen auf großen Bruder gemacht und sonst was mit deinem Zukünftigen angestellt."
„Er ist nicht mein Zukünftiger", zischte Sara, aber natürlich war es sinnlos. Die anderen grinsten sich nur wieder an und Sara war beinahe dankbar, als Lily sich irgendwann erhob.
„Ich muss los", erklärte sie, „James wartet."
Emmy stieß einen viel sagenden Pfiff aus. „James wartet", wiederholte sie und die Betonung ihrer Worte ließ keinen Zweifel daran, worauf James ihrer Meinung nach wartete.
Lily verdrehte nur die Augen, griff nach ihrem Umhang und verschwand mit einem halbherzigen Wink nach draußen. Ihre Freundinnen drehten sich wieder zu Sara um.
„Na, dann erzähl mal", forderte Candy auf und grinste.
„Hey." James dreht sich um und sein Gesicht hellte sich auf, als er Lily erkannte.
„Tut mir Leid, dass ich zu spät bin, aber…", begann sie, kam aber nie dazu, es ihm zu sagen.
„Macht nichts", James winkte ab und grinste, „jetzt bist du ja da."
„In der Tat", erwiderte Lily lachend, „und wo gehen wir hin?"
„Ich dachte an einen Spaziergang um den See", schlug er vor.
Lily hob eine Augenbraue: „Es ist kalt!"
„Das stimmt wohl", James nickte bedächtig, „aber ich wäre ein schlechter Gentleman, wenn ich zulassen würde, dass du frierst."
„Spinner", bemerkte Lily, lachte aber und ließ zu, dass seine Arme sich um sie schlossen und er sie nach draußen zog.
„Außerdem", murmelte James in ihr Ohr, „hat die Kälte auch was für sich: Wir sind ganz alleine hier draußen. Und du weißt, wie selten das in Hogwarts der Fall ist."
„Stimmt auch wieder", gab Lily zu und lächelte ihn an. James grinste zurück.
Ein paar Minuten lang gingen sie schweigend nebeneinander her, sein Arm noch immer um ihre Taille gelegt, ihr Kopf auf seiner Schulter.
„Was ist los?", fragte James, als Lily irgendwann leise lachte.
„Ich musste nur gerade dran denken, wie McGonagall mir gesagt hat, dass ich deine Geisel bin", erwidert Lily grinsend, „ich habe sie erstmal nur angestarrt. Weil, es war ja schon irgendwie sehr merkwürdig. Ich meine, mir war ja klar, dass ich dir wichtig bin, aber so sehr…! Das war schon eine ziemlich Überraschung. Aber keine schlechte."
„Mir ging es ähnlich", gab James zu, „ich meine, ja, ich wusste auch, dass du mir die Welt bedeutest, aber als es hieß, ich müsste den Menschen retten, der mir am wichtigsten ist und ich gucke hoch und sehe ausgerechnet dich auf dieser Leinwand…"
Er brach ab und lachte leise. Lily lächelte und kuschelte sich näher an ihn.
„Aber es war eine gute Überraschung, oder?", vergewisserte sie sich etwas unsicher. Anstatt zu Antworten küsste er sie einfach. Und das schien Antwort genug.
„Du, James?", fragte Lily nachdem sie eine Weile schweigend am See entlang gegangen waren, „darf ich dich mal was fragen?"
„Natürlich", James grinste amüsiert und sah auf sie herab, „worum geht's?"
„Um die Dementoren", gab Lily ohne Umschweife zu. Sie spürte, wie sich seine Haltung versteifte.
„Warum setzten sie dir so zu? Was hast du so Grauenvolles erlebt?", fragte sie trotzdem weiter, vorsichtig jedoch.
„Todesser", erwiderte James kurz angebunden, nahm seinen Arm von ihren Schultern und trat an das Seeufer, wand ihr den Rücken zu.
Lily machte einen Schritt auf ihn zu, stoppte dann, ging noch einen weiteren, zögerlich, streckte die Hand nach ihm aus, zog sie wieder weg, berührte ihn nicht.
„Todesser", wiederholte James, lachte humorlos und spuckte ins dunkle Wasser, „Todesser."
Lily fröstelte und zog ihren Umhang fester um sich. Irgendetwas an der Art, wie er dieses Wort, dieses einzelne Wort, aussprach, wie er da stand, den Blick auf das Dunkle Wasser gerichtet, irgendetwas daran machte ihr Angst.
Dann, ganz plötzlich, war der Spuk wieder vorbei und James drehte sich wieder zu ihr um.
„Komm her", forderte er sie auf und streckte einen Arm nach ihr aus. Folgsam (vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben) kam Lily näher und ließ zu, dass er sie an sich zog und sein Kinn auf ihrem Kopf platzierte. Beide schwiegen.
„Es war Weihnachten 1968. Ich war neun", begann James plötzlich, „Sara acht. Wir waren wie immer auf dem Ball im Ministerium. Sara durfte das erste Mal mit und war furchtbar aufgeregt. Mum auch. Ständig hat sie mir eingeschärft, auf Sara aufzupassen.
Ich war nicht gerade begeistert. Wollte lieber mit meinen Freunden spielen. Eigentlich schien alles normal zu sein. Bis irgendwann, gegen Mitternacht die Todesser gekommen sind. Es war ihr erster offizieller Angriff.
Plötzlich ging alles drunter und drüber. Überall haben sie gekämpft und es war voller Blut und ein paar Leichen lagen herum und dann war da dieses grauenvolle Lachen…", James fröstelte bei dem bloßen Gedanken und zog Lily näher zu sich.
„Dad hat mir gesagt, ich soll Sara nehmen und mich verstecken. Er hat mir gesagt, ich müsste stark sein, und Mum hat geweint und Sara hatte eine solche Angst und ich hab's einfach versucht.
Sie haben uns gefunden. Vier von ihnen. Haben mich erkannt. An den Haaren, woran auch sonst. Mich haben sie dann auch zuerst gefoltert. Wollten wissen, ob ich dem Ruf meiner Familie gerecht werde. Dabei war ich doch erst neun. Erst neun…
Es war der schlimmste Schmerz, den ich jemals gefühlt habe. Cruciatus. Aber alles, woran ich denken konnte war, dass ich Sara beschützen musste. Also habe ich versucht durchzuhalten. Hat aber nicht lange geklappt.
Irgendwann haben sie sich sie vorgenommen. Haben sie aber nicht selbst gefoltert. Oh nein, sie haben es mich machen lassen. Imperius. Ich habe mich so sehr gehasst, weil ich gemacht habe, was sie wollen, weil ich nicht stark genug war, nicht so stark wie mein Vater es von mir wollte."
Für einen Moment schwieg James, sein Blick verloren in der Leere, dann sammelte er sich wieder: „Ich hab den Fluch tatsächlich abgeschüttelt gekriegt. Hat sie aber nur noch wütender gemacht. Ich schwöre, die wären zu allen fähig gewesen. Zu allem.
Aber sie waren dabei, zu verlieren. Ihre Kumpanen sind einer nach dem anderen appariert. Sie sind dann auch verschwunden. Haben mir vorher noch irgendeinen Fluch auf den Hals gehetzt. Hat mir den ganzen Rücken aufgeschlitzt. Der Arzt im Mungo's hat später gesagt, ich wäre beinahe verblutet. War mir aber herzlich egal.
Sie haben nämlich Sara mitgenommen. Haben sie gepackt, dabei war sie doch bewusstlos, mich angegrinst und sind appariert. Ihr Gedächtnis haben sie später gelöscht. Sie erinnert sich an nichts mehr. Ist zwei Tage später auch von Auroren befreit worden. Aber mitgenommen haben sie sie trotzdem.
Nur Sekunden später waren meine Eltern da. Mum hat geweint und geschluchzt und war so verzweifelt. Und Dad… ich konnte ihn nicht ansehen. Habe ja versagt. Er hat gesagt, ich soll auf sie aufpassen, soll stark sein und ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht…"
„Du warst neun!", warf Lily ein und sah hoch, zwang ihn, sie anzusehen, „was hättest du den tun sollen?" James zuckte mit den Schultern, wand den Blick ab.
„Keine Ahnung, Irgendetwas. Ist auch egal. Du verstehst es ja doch nicht", wischte er ihren Einwand grob beiseite.
„Nein, wahrscheinlich nicht", gab Lily zu, „aber ich kann es versuchen. Ich kann versuchen, dir zu helfen."
„Wer sagt, dass ich deine Hilfe brauche?", schnappte James und trat von ihr weg.
„Hilfe brauchst du. Und meine hast du schon einmal angenommen. Sie hat dir etwas genützt. Also", herausfordernd sah Lily zu ihm hoch.
„Ich wüsste nicht, was du für mich tun könntest", wehrte er ab. „Ich bedeute dir anscheinend etwas", bemerkte sie, „sonst wäre ich jetzt nicht hier." James lachte und es ließ Lily einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
„Ich habe mit Sirius gewettet, dass ich bis zum Ende des Schuljahrs dich und den Pokal kriege. Ich mag Trophäen nun mal", seine Stimme war blanker Hohn. Lily zuckte zurück.
„Das meinst du nicht", wisperte sie, „das ist nicht dein Ernst. Sag, dass es nicht dein Ernst ist!"
James sah sie nur kurz an, hob eine Augenbraue und drehte sich dann um, um zum Schloss hinauf zu gehen.
„Weißt du, was dein Problem ist?", schrie Lily ihm hinterher, „du musst immer alles können, musst immer alles am besten können, darfst niemals versagen, niemals verlieren. Du denkst, du hättest damals versagt und jetzt hast du das Gefühl, das irgendwie wieder gut machen zu müssen.
Deshalb dieser Ehrgeiz beim Quidditch und im Turnier, deshalb dieser krankhafte Beschützerinstinkt Sara gegenüber, deshalb dieses Verlangen, beliebt, geachtet und gefürchtet zu sein und deshalb diese wahnsinnige Besessenheit, was mich anbelangt!"
James wirbelte herum, kam mir großen Schritten zurück, blieb vor ihr stehen. „Was hast du gesagt?", zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Du hast mich gehört", erwiderte Lily, selber um Beherrschung ringen, „du hast mich gehört und du hast mich auch sehr gut verstanden."
„Ich habe kein… Problem", presste er hervor.
Lily lachte trocken: „Doch, du hast ganz offensichtlich eins. Du willst es dir nur nicht eingestehen."
Dann, ganz plötzlich, wurde ihr Stimme weicher: „Die meisten Menschen wären an dem kaputt gegangen, was du erlebt hast. Sara wäre, hätten sie nicht ihre Erinnerung gelöscht.
Wenn es bei dir nur einen übersteigerten Ehrgeiz und ein etwas zwanghaftes Kontrollverhalten auslöst, dann beweißt das mehr als alles andere, dass du doch stark bist. Kaum jemand kann so etwas überstehen, nicht in dem Alter. Und ich weiß, dass ich es nicht gekonnt hätte."
James sagte nichts, sah zu ihr hinunter und dann, ganz plötzlich, beugte er sich vor und küsste sie. Nicht sanft und vorsichtig wie sonst, sondern hart, drängend, beinahe grob. Lily seufzte leise. Eben so plötzlich, wie er sie geküsst hatte, riss James sich auch wieder los, sah auf sie herunter, sagte aber nichts.
„Es gibt keine Wette, oder?", fragte Lily stattdessen leise.
James schüttelte den Kopf: „Nein, es gibt keine Wette. Und du bist auch keine Trophäe. Zur Hölle, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich dich liebe."
