Basierend auf den Romanen von Joanne K. Rowling.
Kapitel 3
Weder Sirius noch James brach das Schweigen, welches sich die nächsten drei Tage lang wie ein bleierner Nebel zwischen sie legte. Sirius war zusätzlich entschlossen, James möglichst keines Blickes zu würdigen. Während der nächsten Unterrichtsstunden setzte er sich mit seinen Freunden im Schlepptau möglichst weit nach vorn, dennoch glaubte er, James´ Blicke im Rücken zu spüren. Er spürte sie während des Unterrichts, in der Bibliothek und im Gemeinschaftsraum. Und dennoch: Jedes Mal, wenn er in der Erwartung aufsah, James Augen zu begegnen, schaute dieser in eine andere Richtung.
Es war ein rastloses Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Sirius war klar, dass er dieses Versteckspiel nicht lange durchhalten würde, und irgendetwas sagte ihm, dass es James ebenso erging. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen. Irgendwann würden sie wieder miteinander reden. Die Frage war nur, ob sie sich dabei versöhnen oder gegenseitig verhexen würden.
Kalte Luft fegte in die Eingangshalle, als Sirius an einem stürmischen Nachmittag das große Schlossportal aufstieß. Die Septembersonne drang kaum durch die dicke graue Wolkenschicht am Himmel. Zusammen mit Frank und Remus schlenderte Sirius den grasbewachsenen Abhang zu den Gewächshäusern hinunter, während der heulende Wind um ihre Köpfe pfiff und an ihren Haaren und Umhängen zerrte.
„Wie gut, dass wir heute Kräuterkunde haben", bemerkte Remus. Er wirkte wieder einigermaßen gesund, viel gesünder jedenfalls als bei Sirius´ Besuch im Krankenflügel; dennoch hüllte er sich fest in seinen Umhang. „Im Gewächshaus wird es zumindest warm sein."
Frank reckte den Kopf. „Was ist denn da hinten los?" Sein ausgestreckter Finger wies auf eine Gruppe von Schülern, die allesamt um einen weit ausladenden, knorrigen Baum herum standen. Mit dem Wind wehten gedämpfte, hektische Anfeuerungsrufe zu ihnen hinüber.
Auch die beiden anderen hoben ihre Köpfe. „Lasst uns hingehen und nachschauen", schlug Sirius schließlich vor.
Sie änderten ihre Richtung und steuerten mit schnellen Schritten auf die Schülermenge um den Baum zu, Sirius vorneweg, dessen Neugierde geweckt war. Beim Näherkommen erkannte er, dass sich die Krone des Baumes bewegte. In wilder Aufruhr peitschten ihre Äste durch die Luft, verhakten sich ineinander und schlugen unter geräuschvollem Krachen auf die Erde. Ein einzelner Schüler tänzelte zwischen den umherwirbelnden Ästen umher und versuchte, sich weiter zum Stamm vorzuarbeiten, begleitet vom Jubeln und Klatschen seiner Kameraden.
„Was ist das für ein Baum?", fragte Sirius im Gehen. Seine Miene war eine Mischung aus Überraschung und Faszination.
„Die Peitschende Weide", erwiderte Remus keuchend, der ebenso wie Frank leichte Mühe hatte, mit Sirius´ langen Schritten mitzuhalten. „Sie wurde erst dieses Jahr gepflanzt."
Sirius, Remus, und Frank mischten sich unter die Schülergruppe, die vor allem aus den Gryffindors und Hufflepuffs bestand, mit denen sie gleich Kräuterkunde haben würden. Vereinzelt waren auch ein paar Erstklässler aus Slytherin und Ravenclaw sowie einige ältere Schüler darunter. Eine Gruppe von Mädchen stand in der ersten Reihe und kreischte jedes Mal entsetzt auf, wenn der Schüler um ein Haar von einem surrenden Zweig getroffen wurde.
Sirius schaute eine Weile zu, dann blickte er sich fragend um. Florence, eine Zweitklässlerin, fing seinen Blick auf. „Das Spiel heißt Fang-die-Weide", erklärte sie. „Wer sich dem Stamm am weitesten nähern kann, gewinnt. Bisher hat es noch niemand geschafft, den Stamm zu berühren. Wie sieht es mit euch aus?"
Im selben Moment zerschnitt ein dumpfer Schlag die Luft. Nicht wenige schrieen, als ein dicker Ast in die Magengrube des Schülers rammte, der sogleich taumelnd und mit leicht geröteten Wangen zurückwich.
„Das waren fünf Fuß vor dem Stamm!", rief Florence laut. „Der Rekord liegt nach wie vor bei einem Fuß. Los, zeigt, wie weit ihr kommt", grinste sie und nickte den drei Neuankömmlingen zu.
Sirius grinste zurück. „Von mir aus ..."
Unter den erwartungsvollen Augen seiner Mitschüler ging er auf die Peitschende Weide zu. Während der kurzen Pause hatte sich der knorrige Baum ein wenig beruhigt, fing aber sofort wieder wie wild an zu peitschen, kaum, dass Sirius einen Fuß unter seine Krone gesetzt hatte. Rasch musste er sich ducken, als ein kahler Ast über seinen Kopf wischte. In der Gruppe brandete Applaus auf.
Sirius stellte jedoch rasch fest, dass der Kampf mit der Weide sehr viel leichter ausgesehen hatte, als er eigentlich war. Im Vergleich zu ihm selbst war der vorige Schüler äußerst klein gewesen. Je mehr Angriffsfläche dem Baum geboten wurde, desto besser konnte er treffen; und Sirius´ Kopf war der Krone so nah, dass er ihren Schlägen kaum weit genug ausweichen konnte. Nach gut einer Minute erwischte ihn ein Ast direkt an der Brust. Sirius wurde zurückgeschleudert und landete der Länge nach im feuchten Gras.
„Das waren sieben Fuß!", kommentierte Florence gebieterisch.
Hastig rappelte sich Sirius auf und wischte Grashalme und Erdklumpen von seinem Umhang. Remus und Frank schoben sich durch die Menge zu ihm hindurch.
"Sieben Fuß!", wiederholte Remus mit dem Anflug eines Lächelns. „Miserabel, Sirius!"
Sirius verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. „Mach´s besser, du Angeber!", konterte er.
Remus machte es tatsächlich besser – wenn auch nicht sehr viel. Mit wachsamen Augen ging er auf die Weide zu und wich ihren Attacken geschickt aus. Nach zwei Minuten wurde jedoch schließlich wie Sirius von einem pfeifenden Ast zur Seite gestoßen.
„Fünf Fuß, Remus!", rief Florence. „Den Rekord hält immer noch Peter mit einem Fuß Abstand. Außer ihm hat es niemand näher als fünf Fuß geschafft!"
„Wenigstens eine Sache, zu welcher dieser kleine Trottel taugt!", knurrte Snape direkt hinter Sirius. Ein paar Slytherins, die um in herumstanden, verfielen in zustimmendes Gelächter.
„Warum zeigst du nicht, was du kannst, Snape?"
Irritiert blickte Severus auf und suchte nach dem Sprecher. James stand inmitten einiger Gryffindors in der ersten Reihe, hatte sich zu Snape umgedreht und reckte auffordernd das Kinn. Auch Sirius blickte ihn an. James strich sich durch das strubbelige Haar, das daraufhin noch ein wenig mehr zu Berge stand, und grinste Severus erwartungsvoll zu. „Was ist denn, Snape?", fragte er munter.
Sirius wandte sich nach Snape um und sah, dass dessen schwarze Augen zu Schlitzen verengt waren. „Ich stehe nicht auf solch alberne Spielchen, Potter!", erwiderte er kalt. Schon wollte er sich umdrehen und mit seinem Freunden im Schlepptau davon schlurfen, doch ebenso wie im Hogwarts-Express ließ James die Sache nicht auf sich beruhen.
„Och, hat der kleine Severus etwa Angst?", höhnte er laut. Nun war es James´ Gefolge, das in Gelächter ausbrach. Die Slytherins, mit ihnen Snape, blieben abrupt stehen und drehten sich zornig um.
„Ich warne dich, Potter ...", begann Snape mit einem kaum hörbaren Zischen. Ehe er den Satz jedoch beenden konnte, mischten sich auch die anderen ein.
„Große Klappe und nichts dahinter!", spottete Edgar Bones aus der zweiten Reihe.
„Ich wette, er schafft es nicht mal bis auf zehn Fuß zum Stamm", rief ein braunhaariges Ravenclaw-Mädchen und stieß kichernd ihre Freundinnen an.
Snape warf ihnen einen vernichtenden Blick zu. Als wolle sie die Gruppe zur Ruhe ermahnen, hob Florence Achtung heischend ihre Hand. „Wenn du vier Fuß schaffst, Snape, bist du besser als Potter", verkündete sie mit lauter Stimme.
Ihre Worte erzielten die gewünschte Wirkung. Einer von Snapes Freunden erteilte ihm einen auffordernden Schubs, und der Anreiz, James in irgendetwas zu schlagen, schien bei Snapes Entscheidung offenbar zu überwiegen, so dass er sich schließlich widerwillig durch die sensationslüsterne, klatschende Menge nach vorn schieben ließ.
„Ich hoffe, die Weide spießt ihn auf!", flüsterte Sirius an Remus gewandt. Er war zwar nicht unbedingt sicher, ob er James den Triumph gönnen würde, jedoch umso sicherer, dass Snape eine ordentliche Lektion benötigte. Seit seiner Fahrt im Hogwarts-Express hatte er Abneigung gegen Snape empfunden.
Mit skeptischer Miene näherte sich Snape der Weide. Eine Weile blieb er stehen und beobachtete die raschelnden, leicht hin und her baumelnden Äste. Als schließlich erneut Gelächter hinter ihm ertönte, machte er einen wütenden und zugleich entschlossenen Schritt nach vorn – und wurde prompt von einem Ast am Kopf getroffen.
James lachte so laut, dass einige Erstklässler um ihn herum erschrocken zusammenfuhren. „Nun, Snape, ich denke, das waren – was meinst du, Florence? Zwanzig Fuß? Oder, gut, sagen wir fünfzehn?"
Die Zornesröte schoss Snape ins Gesicht. Er blickte James an, als ob er sich am liebsten erwürgt hätte. Erneut machte er einen Schritt nach vorn – noch entschlossener diesmal – und arbeitete sich mit hastigen, ärgerlichen Bewegungen langsam weiter zum Stamm vor. Jedes Mal, wenn ihn ein Zweig streifte, stieß er zornig mit dem Ellenbogen nach ihm.
Gemeinsam mit allen anderen beobachtete Sirius Snapes Kampf mit der Weide. Auf James´ Kommentar hin hatten viele gejohlt, gelacht und Snape ausgebuht, doch nach seinem ersten, kläglichen Versuch schien Snape vom Ehrgeiz gepackt worden zu sein. Je dichter Snape an den Stamm gelangte, desto mehr senkte sich der Lärmpegel. Edgar stieß einen leisen Pfiff aus und Gideon, der schräg vor Sirius stand, starrte Snape stumm und mit offenem Mund an. Einen Moment lang sah es wirklich so aus, als ob Snape James Leistung übertreffen würde, bis –
„Der macht noch Kleinholz aus der Weide!", murmelte Remus an Sirius´ Seite.
In seiner kochenden Wut hatte Snape heftig nach einem Ast getreten, woraufhin das Geräusch von splitterndem Holz ertönte. Unter Snapes Fuß brach der lange Ast fast vollständig vom Baum ab. Als wolle er sich rächen, schlug der Baum nur noch heftiger aus und versetzte Snape mit seinen langen Zweigen einen Peitschenhieb gegen das Schienbein.
„Pass auf, Severus!", kreischte eine Erstklässlerin aus Slytherin panisch.
Snape und die Weide jedoch schlugen nur noch heftiger aufeinander ein. Als sich ein dicker Ast der Länge nach vor Snapes Brust schob und ihn zurückdrängte, zückte Snape kurzentschlossen seinen Zauberstab und richtete ihn drohend auf die Weide.
Florence schüttelte missbilligend den Kopf. „Nicht zaubern, Snape!", rief sie streng. „Das ist gegen die Spielregeln!" Doch gleich darauf stieß sie einen erschrockenen Schrei aus. Der Ast, der eben noch von Snapes Zauberstab bedroht wurde, wickelte sich unter lautem Ächzen um den Körper seines Gegners. Snape zappelte in seinem Griff wie ein Kaninchen in der tödlichen Umarmung einer Schlange.
„Snape, steck den Zauberstab weg!", brüllte Florence, aber ihre Mitschüler machten einen derartigen Lärm, dass ihre Worte verschluckt wurden. Einige Mädchen, vor allem jene aus Slytherin, kreischten ängstlich auf, wieder andere riefen Snape zu, er solle den Baum in Brand stecken. Die Gryffindors, Hufflepuffs und Ravenclaws jedoch, und diese waren in der Überzahl, bogen sich vor Lachen – Wenn auch nicht so stark wie die Weide, die soeben ihren langen Stamm zur Seite geneigt und Snapes Füße vom Boden gehoben hatte.
Snapes Gesichtsfarbe verwandelte sich in ein tiefes Dunkelrot. Wie ein Wahnsinniger schlug er auf den störrischen Ast ein, der ihn umklammert hielt, wobei seine Miene halb Wut, halb Panik offenbarte. Schließlich schien der Baum ein Nachsehen zu haben. Abrupt lockerte er die Umklammerung, Snape fiel zwei Meter tief und landete unter tosendem Gelächter direkt vor den Füßen seines Publikums.
„Nun, ich glaube, die vier Fuß können wir gelten lassen", murmelte Florence leise. Sie war noch immer ein wenig blass im Gesicht, doch ihre Mundwinkel zuckten.
Mit gefährlich blitzenden Augen richtete sich Snape auf. „Das warst du, Potter!", zischte er.
„Was soll ich gewesen sein?" Amüsiert blickte James ihn an, noch immer schien er von seinem Lachanfall vollkommen erschöpft zu sein.
Snapes Miene blieb jedoch kalt. „Du hast die Weide verhext!"
„Ich habe – was?" Ungläubig lachte James auf, einige Umherstehende mit ihm.
„Ich weiß genau, dass du die Weide verhext hast!", erwiderte Snape unbeirrt. „Und das wirst du mir büßen, Potter!"
„Was ist hier passiert?", fragte eine tiefe Stimme. Professor Ivy, der Lehrer für Kräuterkunde, drängelte sich stirnrunzelnd an seinen Schülern vorbei und blieb vor Snape und James stehen. Besorgt musterte er die blauen Flecken in Snapes Gesicht, die die Peitschende Weide hinterlassen hatte.
„Krankenflügel, Snape!", sagte er bestimmt. „Und an alle anderen – ich wünsche, dass Sie diesem Baum in Zukunft mit äußerster Vorsicht begegnen. Mit der Peitschenden Weide ist nicht zu spaßen!"
„Haben Sie diesen Baum gepflanzt, Professor?", fragte Frank neugierig.
„Ja, in der Tat." Professor Ivy strich sich über seinen langen, wehenden Bart und ließ ein Seufzen hören. „Auf Anordnung des Schulleiters. War ein hartes Stück Arbeit, das kann ich Ihnen sagen. Und deswegen wäre ich dankbar, wenn niemand diese Weide beschädigen würde. Nun ja, wie Sie selbst festgestellt haben, weiß sie sich allerdings selbst ganz gut zu verteidigen. Ich hoffe, dass Ihnen das Missgeschick ihres Mitschülers eine Lehre war." Er warf einen letzten Blick auf Snape, der sich noch immer mit James zankte, und schüttelte tadelnd den Kopf.
„Ich kann immer noch nicht verstehen, was sich Dumbledore dabei gedacht hat", hörte Sirius eine Viertklässlerin sagen. „Kaum ist er Schulleiter, lässt er diesen gemeingefährlichen Baum pflanzen! Wenn ihr mich fragt, ist er vollkommen verrückt!"
Professor Ivy wandte sich von der Weide ab und schlug den Weg zum Gewächshaus ein. „Mitkommen, Gryffindors und Hufflepuffs!", rief er über die Schulter.
Noch immer kichernd und schwatzend folgten ihm seine Schüler; sie kamen nur langsam voran, da sie sich gegen den kalten Wind anstemmen mussten. Sirius und Remus tauschten ein Grinsen.
„Das geschah Snape vollkommen Recht", freute sich Sirius. „Er hat wohl nicht damit gerechnet, an einen Gegner zu geraten, der zurückschlägt."
„Und dann zu behaupten, James hätte die Weide verhext", erwiderte Remus. „Armselig, wenn du mich fragst."
Warme, feuchte Luft drang ihnen entgegen, als sie das Gewächshaus Nummer drei betraten. Sirius schälte sich aus seinem Umhang, dabei warf er einen Blick in die leere Innentasche. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. „Mein Zauberstab!"
„Was?" Remus wischte sich zerstreut das Haar aus den Augen, das der Wind zerzaust hatte, und blickte Sirius fragend an.
„Mein Zauberstab, er ist nicht mehr da." Hastig durchsuchte Sirius sämtliche Innentaschen seines Umhangs, doch es blieb dabei. Sein Zauberstab war verschwunden.
„Vielleicht hast du ihn im Klassenzimmer liegen lassen", erwiderte Remus und ließ seine schmuddelige Tasche zu Boden gleiten.
„Nein, kann nicht sein. Ich hatte ihn beim Mittagessen noch, das weiß ich genau. Ich muss ihn bei der Peitschenden Weide verloren haben – als sie mich zurückgeschleudert hat – ah, meine Mum wird mich umbringen!" Sirius raufte sich die Haare und warf einen unschlüssigen Blick zur Tür.
„Kann sie dir keinen neuen kaufen?", fragte Remus mit hochgezogenen Augenbrauen. „Tut mir leid, ich meine nur – sie wird es sich doch wohl leisten können."
„Nein, du kennst sie nicht. Sie ist ebenso geizig, wie sie reich ist. Wenn sie erfährt, dass ich es in innerhalb einer Woche geschafft habe, meinen Zauberstab zu verlieren ..."
„Dann holst du ihn besser, bevor er von der Weide zermalmt wird!" Remus lächelte ihm zu. „Ich sage Professor Ivy, dass dir schlecht war und du in den Krankenflügel musstest."
Sirius erwiderte sein Lächeln dankbar. Rasch hob er seine Tasche vom Boden auf, warf den Umhang über und glitt unbemerkt zur Tür. Einen Moment später war er bereits draußen und stapfte eilig zur Peitschenden Weide zurück.
Der grasbewachsene Abhang, eben noch von einer Schülerschar bevölkert, war nun beinahe leer. Beim Näherkommen jedoch erkannte Sirius zwei einsame Gestalten, die sich offenbar stritten. Sie standen auf halber Strecke zwischen Weide und Schloss; der Wind riss an ihren schwarzen Haaren, während sie einander anbrüllten und drohend die Fäuste erhoben. Sirius konnte ihre Worte kaum verstehen. Es war jedoch nicht schwer zu erraten, weshalb sich James und Snape noch immer in den Haaren lagen. Den Kopf nach ihnen gewandt, schlenderte Sirius bis zur Peitschenden Weide, wurde langsamer und sah sich schließlich suchend nach seinem Zauberstab um.
Tatsächlich wurde er fündig, nachdem er den Baum beinah zur Hälfte umrundet hatte. Das helle Eschenholz hob sich deutlich vom Gras ab und berührte mit seinem langen Ende beinahe den Weidenstamm. Von Sirius´ Standort aus betrachtet wirkte der Stab unbeschädigt, zumindest war er noch in einem Stück. Vielleicht war er so nahe neben dem Stamm gelandet, dass ihn die peitschenden Äste nicht erreichen konnten? Doch wie sollte Sirius ihn nun erreichen, wenn ihm die Äste den Weg versperrten?
Peter wäre jetzt sicher eine enorme Hilfe gewesen, aber dieser saß mit seinen Klassenkameraden im Gewächshaus. Was Sirius brauchte, war irgendein langer, abgebrochener Ast, mit dem er nach seinem Zauberstab angeln konnte. Kurzentschlossen ging er bis zum Rand des Verbotenen Waldes, schlich eine Weile zwischen den Bäumen umher und brach schließlich einen der kahlen Äste einer ausladenden Buche ab.
Als er unter den Baumwipfeln des Waldes heraustrat, den langen Ast locker in der rechten Hand, blieb sein Blick erneut an James und Snape haften. Inzwischen beschränkten sich die beiden nicht mehr auf zornige Beleidigungen. Snape erteilte James einen heftigen Stoß, der ihn einen Schritt zurück taumeln ließ, woraufhin James Snape sogleich erbost am Kragen seines Umhangs packte. Mit einem Wutschrei griff Snape nach James Handgelenken und riss sie von seinem Kragen los. Der schwarze Stoff, in den sich James´ Fingernägel gekrallt hatten, löste sich in Fetzen auf.
Einen Augenblick lang durchzuckte Sirius der Gedanke, ob er James vielleicht beispringen sollte. Aber warum überhaupt? James hatte ihm unterstellt, dass er ihm nachgeschlichen wäre, dass er gelogen hätte. Und außerdem war kaum anzunehmen, dass es James recht gewesen wäre, wenn Sirius sich einmischte. James war nicht Peter und durchaus in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Gerade versetzte er Snape einen Kinnhaken und Sirius sah, dass Blut durch die Luft spritzte; anschließend machte James wutentbrannt auf dem Absatz kehrt und marschierte mit wild flatterndem Umhang in Richtung Gewächshäuser. Sirius wollte sich gerade abwenden, als er aus den Augenwinkeln vernahm, wie Snape seinen Zauberstab zog –
„Furnunculus!"
Die Warnung, die Sirius auf der Zunge gelegen hatte, kam zu spät. Snapes Fluch hatte getroffen und Sirius sah, wie sich James abrupt zusammenkrümmte. Einen Augenblick später sank er mit schmerzverzerrter Miene auf die Knie. Sein Gesicht und seine Hände waren übersäht mit roten, blutigen Furunkeln, die sich immer weiter ausbreiteten.
Es war weniger James´ Schmerzensschrei als Snapes triumphierendes Gelächter, dass Sirius in Zorn versetzte. Seine Finger schlossen sich so fest um den Ast in seiner Hand, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Na, wie gefällt dir das, Potter?", kreischte Snape spöttisch, während James zu seinen Füßen kauerte und vor Schmerzen den Zauberstab fallen ließ.
Sirius beugte sich vor und versuchte, an seinen eigenen Zauberstab zu kommen. Angriffslustig peitschte der Wipfel der Weide. Ein Zweig zischte über sein Haar, doch Sirius achtete nicht darauf. Ungeduldig zog er seinen Zauberstab zu sich heran, bis er ihn schließlich in den Händen hielt, und trat ohne Zögern auf Snape zu.
"Von hinten angreifen! Nennst du so etwas mutig, Snape?"
Snape wirbelte herum. Anscheinend hatten bisher weder er noch James etwas von Sirius´ Anwesenheit bemerkt. Doch anstatt zu antworten, richtete Snape abrupt seinen Zauberstab gegen Sirius. „Furnunculus!", brüllte er erneut.
Sirius duckte sich gerade noch rechtzeitig. Nur knapp verfehlte ihn der Fluch und versenkte lediglich sein Haar. Wütend hob er seinen eigenen Stab und sprach den ersten Zauberspruch aus, der ihm auf die Schnelle einfiel. „Vingardium Leviosa!"
Snape wich nicht weniger knapp aus als Sirius, aber der Zauber ging daneben. „Furnunculus!", kreischte Snape, während er wie wahnsinnig mit dem Zauberstab fuchtelte. „Furnunculus! FURNUNCULUS!"
Im selben Moment spürte Sirius einen brennenden Schmerz an Gesicht und Händen und konnte einen überraschten Aufschrei nicht unterdrücken. Snapes Fluch hatte ihn mitten an der Stirn getroffen. Krampfhaft hielt Sirius seinen Zauberstab umklammert, er wusste, wenn er ihn fallen ließ, würde Snape ebenso über ihn triumphieren wie zuvor über James. Doch die Furunkeln wuchsen mit ungeheurer Geschwindigkeit und breiteten sich immer weiter aus. Sirius fühlte das Brennen im ganzen Gesicht und wehrte sich vergeblich dagegen, dass ihn die scheußlichen Schmerzen schließlich auf die Knie zwangen.
Die Augen auf den Grasboden gerichtet, hörte Sirius Snapes falsches Lachen und zwang sich, den Kopf zu heben. Grimmiger Hohn spiegelte sich auf Snapes Gesicht. Sirius war klar, was es für ihn bedeuten musste, gleich zwei Gryffindors (und dazu noch die Klassenbesten) aufs Kreuz zu legen, wahrscheinlich malte er sich bereits aus, wie er vor seinen Freunden damit prahlen könnte. Aber das Lachen würde ihm schon noch vergehen. Sirius hob den Arm und versuchte, auf Snape zu zielen – doch seine schmerzzitternde Hand machte jedes Zielen unmöglich. Kraftlos ließ Sirius die Hand sinken, begleitet von Snapes Gelächter.
„Petrificus Totalus!", sagte plötzlich eine Stimme direkt hinter Snape.
Überrascht fuhr Snape herum. Noch während er dies tat, kam er mitten in der Bewegung ins Straucheln und kippte kopfüber vor Sirius Augen ins Gras. Nicht minder überrascht, blickte Sirius auf – geradewegs in James braune Augen, die ihn erschöpft anblitzten. Noch immer war sein Gesicht von wuchernden Furunkeln übersäht. Doch Sirius glaubte zu erkennen, dass ihn James unter seinen Furunkeln zum aller ersten Mal, seit sie einander kannten, kaum merklich anlächelte.
oOo
Sirius saß auf der Fensterbank und schaute mit vernebeltem Blick nach draußen. Nun war er bereits das dritte Mal im Krankenflügel, die anderen beiden Male jedoch war er selbst kerngesund und nur zu Besuch bei Remus gewesen. Was dieser wohl sagen würde, wenn Sirius ihm von ihrem triumphalen Dreier-Duell berichtete? Er fragte sich bloß, wo Snape diesen komischen Furunculus gelernt hatte. Ihm war nicht klar gewesen, wie gut sich Snape mit Flüchen auskannte, aber irgendwie passte es nur allzu gut in das Bild, das Sirius inzwischen von ihm gewonnen hatte ...
Das Klicken einer Türklinke riss Sirius aus seinen Gedanken. Mit verwuschelten Haaren, das Gesicht wieder furunkelfrei, kam James in den Raum und trat die Tür so heftig mit dem Fuß zu, dass sie in den Angeln erzitterte. „Oh, ich bin ja so ein Idiot!"
Sirius hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Wenn James Worte eine Entschuldigung darstellen sollten, so würde er schon deutlicher werden müssen, ehe er selbst, Sirius, sich dazu bequemen würde, auf ihn einzugehen.
Doch James ließ sich nur auf ein benachbartes Bett sinken und schüttelte den Kopf. „Ich habe Madam Pomfrey erzählt, dass ich Snape verhext habe!", schimpfte er ärgerlich. „Kannst du dir das vorstellen? Es ist mir einfach so rausgerutscht. Natürlich ist sie sofort hinausgerannt, um ihn zu befreien, dabei hätte er noch schön eine Stunde lang in der Kälte rumliegen können, wenn es nach mir ginge ..."
Noch immer gab Sirius keine Antwort, sein Gesicht blieb regungslos. James hob den Kopf und blickte ihn an. „Hätte ich bloß vorher nachgedacht!", maulte er. „Ich hätte Madam Pomfrey einfach sagen können, dass wir beide uns duelliert hätten!"
„Was auch gar nicht so abwegig gewesen wäre, nicht wahr?" Sirius´ Lippen hatten sich kaum bewegt, doch seine Worte erklangen deutlich und schneidender, als er vorgehabt hatte.
Ein wenig verwirrt zog James dir Stirn kraus, dann erschien ein entschuldigendes Lächeln auf seinem Gesicht. „Tut mir leid", erwiderte er langsam, „aber ich hab dich wirklich für ein arrogantes ... ähm ..."
„... Scheusal gehalten?", half Sirius nach.
Verstohlen lächelte James ihn an und nickte. Sirius konnte nicht verhindern, dass er das Lächeln erwidern musste, jedoch nur für eine Sekunde. Im nächsten Moment wurde er wieder ernst. „Ich dich ebenso", gab er dumpf zurück.
„Jedenfalls", sagte James, schlug sich auf die Knie und stand auf, „danke, dass du mir helfen wolltest!"
„Ich hätte dasselbe für jeden anderen getan", brummte Sirius und verschränkte trotzig die Arme.
James lehnte sich neben ihm gegen die Fensterbank. „Bist du mir damals wirklich nicht nachgeschlichen?", fragte er zögernd. „Am Abend des ersten Schultags, meine ich."
„Ich habe zufällig deine Schritte gehört, aber ich wusste nicht, dass du es warst. Das habe ich schon gesagt."
James nickte und starrte nachdenklich vor sich hin. „Du zauberst wirklich gut", sagte er nach einer Weile. „Ich wette, dein Fluch hätte Snape entwaffnet, wenn du nur ein bisschen gründlicher gezielt hättest."
Schulterzuckend blickte Sirius ihn an. Er wollte eine gleichgültige Miene aufsetzen, doch schließlich war James´ Grinsen zu ansteckend. „So etwas musst du gerade sagen. Du zauberst weitaus besser als ich."
James schüttelte leicht den Kopf, dann hielt er Sirius die Hand hin. „Freunde?", fragte er, noch immer lächelnd. Ein Hauch von Unsicherheit wehte in seiner Stimme.
Langsam streckte Sirius die Hand aus. Doch mit einem Mal verblasste auch der letzte Groll, den er noch gegen James hegte, und er ergriff seine Hand fest. „Freunde!"
Abrupt verzog James das Gesicht. „Autsch! Du zerquetscht mir die Hand!"
„Oh, tut mir leid!"
James prustete los, dann stieß er Sirius an. „Ich denke, du bist wirklich in Ordnung, Mr. Black!"
„Schon gut", murmelte Sirius, und wäre James vor Erleichterung plötzlich am liebsten um den Hals gefallen. Es war nur ein Gedanke (und es dauerte lange, bevor er ihn James gegenüber äußerte), doch irgendetwas sagte ihm, dass James ein Freund war, wie er einen besseren niemals wieder finden würde.
Ende - Danke fürs Lesen :)
