Da ist auch schon das fünfte Kapitel. Viel Vorwort gibt es diesmal nicht. Ich wünsche Euch einfach nur viel Spaß beim Lesen.
Chapter 5: Fluchtversuch
Der Regen trommelte ununterbrochen auf das Dach und gegen die Fensterscheiben. Dunkle Schlieren bildeten sich und allmählich wusch der Regen den Staub von den Scheiben. Die Sicht verbesserte sich aber nicht. Noch immer war alles grau. Nur lag es jetzt nicht mehr am Schmutz, der sich über lange Zeit auf den Fenstern abgesetzt hatte.
Irgendwo im Dunkel der Halle tropfte Wasser durch ein Loch in der Decke und bildete ein kleines Rinnsal. Das Wetter und die anhaltenden Düsternis schienen dafür Sorge zu tragen, dass die Zeit langsam dahin floss wie zäher Sirup. Seit Tagen, so kam es der jungen Frau vor, saß sie hier fest. Dabei waren gerade einmal sechzehn Stunden seit ihrer geplatzten Verabredung vergangen. Sechzehn Stunden und doch eine halbe Ewigkeit.
Als Kazuha gegen fünf Uhr aus einem unruhigen Schlaf auf dem kalten, harten Hallenboden erwacht war, hatte sie neben sich eine Schachtel mit gekochtem Reis und eine Flasche Wasser gefunden. Der Reis war bereits kalt, dennoch hatte sie ihn begierig verschlungen. Kaum war sie mit ihrer kargen Mahlzeit fertig bereute sie es, so hastig gegessen zu haben. Was würde sie tun, wenn sie noch länger hier gefangen wäre? Würde der Mann in Schwarz ihr weiterhin etwas zu essen bringen oder müsste sie hungern?
So entschloss sie sich wenigstens das Wasser besser einzuteilen und genehmigte sich nur einen kleinen Schluck, obwohl ihre Kehle brannte und nach mehr Flüssigkeit zu schreien schien.
Kazuha stellte die Flasche neben sich und blickte sich um. Von ihrem Entführer war weit und breit nichts zu sehen. Merkwürdig. Hatte er sich so gut in den Schatten verborgen, dass sie ihn nicht ausmachen konnte? Oder rechnete er nicht damit, dass sie sich befreien und fliehen würde?
Sie entschied sich dafür dies herauszufinden. Leise stand sie auf, nahm ihre Tasche und die Flasche mit Wasser und schlich sich vorsichtig an den Kisten entlang, die überall in der Halle standen. Sie war bereits mehr als einhundert Meter gegangen, ohne dass jemand sie bei ihrem Fluchtversuch stoppte. „Beobachtet er mich etwa nur?", überlegte Kazuha. Oder war dieser Ort so abgelegen, dass sie nicht weit kommen würde und es für diesen Kerl in Schwarz ein Leichtes wäre sie wieder einzufangen? Spielte er vielleicht sogar mit ihr? Kazuha blickte sich um. Nein. Es schien sich niemand in unmittelbarer Nähe aufzuhalten. Wahrscheinlich ist der Kerl eingepennt, sprach sie sich selbst Mut zu und setzte ihren Weg in die Freiheit, sie sie hoffte, fort. Sich immer im Schatten der Kisten haltend erreichte sie schließlich eine Stahltür.
Kazuha's Herz pochte ihr bis zum Hals als sie die rechte Hand auf die Türklinke legte. Langsam und darauf bedacht bloß kein Geräusch zu machen drückte sie die Klinke nach unten, die Augen geschlossen. „Bitte quietsch nich'", flehte sie in Gedanken an. Und die Tür ließ sich tatsächlich ohne Geräusche öffnen. Und, noch wichtiger und zugleich unerwartet, ohne dass jemand auftauchte und Kazuha zurück in der Halle zog.
Überrascht von der ungewöhnlichen Leichtigkeit ihrer Flucht stieß Kazuha die Tür nach außen einen Spalt auf, schlüpfte hindurch und ließ die Tür leise ins Schloss gleiten. Unwillkürlich seufzte die junge Frau auf. Sie hatte es geschafft zumindest der dunklen Halle zu entkommen.
Vor der Halle jedoch empfing sie der strömende Regen, der den sandigen Boden in eine morastige Oberfläche verwandelt hatte. Auch hier draußen konnte Kazuha keinen Mann in Schwarz entdecken. Überhaupt konnte sie kaum etwas sehen und erst auf den zweiten Blick erkannte sie den Grund dafür: Eine etwa drei Meter hohe Mauer versperrte die Sicht sowohl nach links als auch gerade aus.
„Das nennt man dann wohl vom Regen in die Traufe kommen," seufzte Kazuha. Doch zu ihrer Rechten blitze die Hoffnung auf eine erfolgreiche Flucht in Form der leuchtenden Skyline Osakas auf. Durch den niederprasselnden Regen konnte die junge Frau die Stadt lediglich verschwommen sehen, doch nun vermochte sie zu erahnen, wohin sie verschleppt worden war. So wie Osaka vor ihr lag musste sie sich westlich der Stadt befinden.
Während die junge Frau sich immer wieder umschauend und mit wachsamen Ohren an der Halle entlang in Richtung Stadt schlich, grübelte sie über ihren Standort. Bisher hatte sie kein Firmenlogo oder einen Schriftzug bemerkt, der Aufschluss über ihr „Gefängnis" gegeben hätte. Doch jetzt konnte Kazuha in etwa abschätzen, wo sie sich befand und, für sie noch wichtiger, wie sie von hier fliehen konnte.
Nach etwa zweihundert Metern hatte sie das Ende der Halle erreicht und fand sich nun auf einem als Parkplatz gekennzeichneten Gelände wieder. Ein Drahtzaun grenzte das Areal, das ungefähr die Größe eines halben Fußballfeldes besaß, zur Zufahrtsstraße hin ab. Und jetzt konnte Kazuha sich auch an die Gegend erinnern. Die Straße führte an mehreren alten und zum Teil seit Jahren verlassenen Gebäuden vorbei von der Stadt ans Meer. Heiji liebte es diese Strecke mit seinem Motorrad zu fahren wenn er seine Ruhe brauchte, oder den Drang hatte seiner überschüssigen Energie Luft zu machen. Dafür war diese Gegend ideal. Niemand lebte hier und die meisten Firmen hatten dicht gemacht. Es gab also keine Menschenseele, die sich am Lärm oder an der hohen Geschwindigkeit stören würde. Von Zeit zu Zeit hatte Heiji sie mitgenommen, doch am Liebsten fuhr er alleine. Er wollte sie nicht dabei haben und Kazuha konnte sich denken warum. Obwohl Heiji ein guter Fahrer war und im Normalfall die Verkehrsordnung beachtete, würde Kazuha alles was sie besaß darauf verwetten, dass ihr Sandkastenfreund in dieser Gegend und ohne sie in seinem Rücken jegliche Regel in den Wind schrieb und fuhr wie ein Verrückter.
„Ob er das nach dem Unfall auch noch macht?", fragte sich die junge Frau. Sofort schüttelte sie energisch den Kopf. Das war jetzt wirklich nicht die Zeit über Heiji's Gewohnheiten weiter nachzudenken. Sie hatte wichtigeres zu tun.
Auf dem Parkplatz stand ein Auto. Fast hätte sie es nicht bemerkt. Der Fahrer hatte es an der Seitenwand der Halle geparkt und die Schatten verbargen es hervorragend.
„Gut, wenn Schatten ein ganzes Auto verschwinden lassen können, warum nicht auch mich?" Mit wachsender Hoffnung ihrem Entführer zu entkommen schlich sich Kazuha geduckt an der Wand entlang, bis sie noch etwa fünfzig Meter vom Auto trennten und sie sich genau gegenüber des offenen Tores befand. Wenn sie sprinten würde könnte sie sicher entkommen, überlegte sie, doch dann fiel ihr Blick wieder auf das Auto. Eine Stimme in ihrem Innern flüsterte ihr zu sie sollte doch einfach das Auto nehmen. Damit könnte sie schneller von hier verschwinden, die Polizei alarmieren und ihren Vater finden. Ohne bewusst eine Entscheidung gefällt zu haben bewegte sie sich erst zwei, dann drei, dann vier Schritte auf den Wagen zu. Und bevor sie sich versah stand sie neben der Fahrertür. Ihre Hand hatte sich bereits nach dem Griff ausgestreckt, als Kazuha zusammenzuckte. Das kann doch nicht funktionieren! Wieder schüttelte sie den Kopf. Bisher war alles zu einfach gegangen. Niemand hatte ihren Fluchtversuch bemerkt, so schien es. War es nicht zu leichtsinnig, den Motor zu starten. „Wenn der Schlüssel überhaupt da ist", murmelte Kazuha.
Die forsche Stimme meldete sich wieder zu Wort und zog sie auf: „Du willst doch jetzt nicht einen Rückzieher machen? So weit kommen und dann den Feigling spielen? Also echt, so was hätt' ich nicht von dir gedacht!"
Kazuha konnte sich nicht helfen, aber die Stimme klang wie Heiji und sie hasste es, wenn er sie Feigling nannte.
Rasch zog sie am Türgriff und zum zweiten Mal an diesem Morgen war sie überrascht, dass die Tür nicht verschlossen war. Kazuha huschte ins Wageninnere. Es war ein neuer und schicker Wagen, die Armaturen verchromt und der Geruch von neuem, sauberem Leder stieg ihr in die Nase. Sie blickte sich um und konnte im Zwielicht erkennen, dass alles im Auto silbern blitze oder schwarz war.
„Wie passend", entfuhr es Kazuha, die sich an die Kleidung ihres Entführers erinnert wurde. „Die Lieblingsfarbe wäre hiermit geklärt."
Sie wandte sich dem Cockpit zu und ließ einen unsicheren, suchenden Blick über die Armaturen schweifen. Wo war der Schlüssel? In Filmen gab es immer ein Ersatzschlüssel irgendwo im Wagen. Kazuha klappte den Sonnenschutz auf der Fahrerseite und dann auf der Beifahrerseite herunter in der stillen Hoffnung, der Zündschlüssel würde ihr in den Schoss fallen. Doch nichts dergleichen geschah. Auch die Fächer in den Türen waren bis auf ein paar Straßenkarten und eine Sonnebrille leer.
„Toll, warum können Verbrecher nicht alle die Wagenschlüssel stecken lassen?", fluchte Kazuha und zog, schon ohne jegliche Hoffnung auf Erfolg, die Klappe des Handschuhfachs auf. Was sie dort fand verschlug ihr den Atem. Zwar hatte sie wenn sie ehrlich war eine Waffe in einem solchen Auto erwartet, aber gleich drei? Und dann die ganzen Straßenkarten. Kazuha zog ein paar heraus. Osaka, Tokyo, Kyoto. Und zwischen einer Karte stecken Flugtickets. Neugierig nahm die junge Frau sie in die Hand. New York – Tokyo. Als Ankunftsdatum war der vergangene Montag eingetragen und ausgestellt war das Ticket auf den Namen „John Thomas". Ob das der Kerl in Schwarz war? Aber das hieße dann, dass er erst vor zwei Tagen aus New York gekommen war.
Egal! Darüber konnte sie sich später den Kopf zerbrechen, oder besser die Polizei. Kazuha warf die Karten und das Ticket zurück ins Handschuhfach. Klirr. Was war das? Kazuha beugte sich über die Mittelkonsole. Irgendwas war auf den Boden gefallen. Da! Glitzerte dort nicht etwas unter dem Beifahrersitz hervor?
Kazuha streckte ihre linke Hand aus und schloss sie um das Etwas. Sie hob es hoch und als sie ihre Hand öffnete um den Gegenstand näher betrachten zu können musste sie sich schnell die rechte Hand vor den Mund halten.
Das glitzernde Etwas war nichts anderes als der Zündschlüssel. Kazuha hätte am Liebsten laut aufgeschrieen vor Freude darüber, doch das würde sie sich besser verkneifen bis sie sicher zu Hause war.
Kazuha wollte gerade den Schlüssel ins Zündschloss stecken, als die Fahrertür aufgerissen wurde und bevor sie noch irgendetwas tun konnte hatten sie starke Arme gepackt und aus dem Wagen gezerrt. All das ging zu schnell, und selbst ihre Aikido-Fähigkeiten konnten ihr nicht helfen. Ein schwarzer Schatten riss ihren rechten Arm nach oben und verdrehte ihn. Knack. Feuer durchzuckte Kazuha's Arm. Ein Schrei hallte durch die Nacht und Kazuha erwachte aus ihrer Trance. Der Schmerz in ihrer rechten Schulter lähmte sie fast, doch das hier kannte sie. Sie befand sich in einem Kampf! Unfair, ja, aber ein Kampf! Und darauf war sie vorbereitet.
Der Schatten schrie, rief einen Namen den sie nicht kannte, aber niemand schien zu reagieren. Die Stimme des Schattens wurde lauter und ungeduldiger. Der offensichtliche Ärger über seinen Komplizen machte die Gestalt, nach der Stimme ein Mann, für einen Augenblick unaufmerksam. Und genau diesen Bruchteil einer Sekunde brauchte Kazuha. Blitzschnell, die schmerzende Schulter ignorierend, wirbelte sie herum. Ihre Hände fanden ihre Ziele ganz von alleine, legten sich fest wie Handschellen um die Handgelenke des Angreifers. Nun hatte auch er begriffen, dass seine Gefangene alles andere als wehrlos war. Wütend schrie er noch lauter nach seinem Komplizen und versuchte gleichzeitig sich dem Griff der jungen Frau zu entwinden. Kazuha nutze seine Kraft gegen ihn und schleuderte ihn in einer Drehung zu Boden. Wieder ertönte ein Knacken. Doch diesmal war es nicht Kazuha, die den Schmerz spürte. Durch ihre Technik war es Kazuha gelungen dem eisernen Griff des Mannes zu entkommen. Dieser lag auf dem Boden und hielt sich seinen Arm. Doch Kazuha beachtete ihn nicht weiter. Sie rannte! Rannte so schnell ihre Beine sie trugen und schaffte es das offene Tor zu erreichen, ehe ihr Gegner sich aufrappelte. Unentschlossen blickte die junge Frau nach rechts, dann nach links. Wo sollte sie entlang laufen. So gut kannte sie sich hier nicht aus und wenn sie sich verlaufen würde wäre sie eine leichte Beute für den Kerl.
Ein peitschender Knall nahm ihr die Entscheidung ab. Ein Blick über ihre unverletzte linke Schulter verriet ihr den Ursprung. Der Angreifer hatte sich halb aufgerichtet und zielte mit einer Waffe auf sie. Peng. Ein zweiter Schuss. Dann ein dritter. Kazuha duckte sich und rannte in die Richtung, von der sie glaubte, sie würde sie am Schnellsten in Sicherheit bringen. Ohne sich ein weiteres Mal umzusehen lief sie die Straße entlang, bog hin und wieder in Seitenstraßen ein, achtete aber darauf, dass sie nicht zu weit von der Hauptstraße abkam. Und dann hörte sie es. Ein Motor! Der Kerl hatte also die Verfolgung aufgenommen! Gehetzt sah Kazuha sich um. Sie brauchte ein Versteck. Und zwar ein verdammt gutes!
Ein kleineres Haus zu ihrer Linken sah verheißungsvoll aus. Die Fenster waren leer und ebenso schmutzig wie alle anderen um sie herum auch. Hier würde er sie nie finden. Dies war ein einziges Labyrinth. Selbst sie, die ihr ganzes Leben in Osaka verbracht hatte kannte nicht alle Winkel der Stadt. Wie sollte sich dann jemand, der erst kürzlich aus den Staaten gekommen war und mehr als fünf Stadtpläne in seinem Auto hatte, hier, in dieser verlassenen Gegend, zurechtfinden?
So, das wars schon wieder. Wie hat es Euch überhaupt gefallen?
Das nächste Kapitel wird wieder etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, aber dafür feiert der Meisterdetektiv seine Rückkehr in die Geschichte. Also bis zum nächsten Mal,
Melanie
