Chapter 9: Auf der Suche und noch ein Einbruch

Entgeisterung und Entsetzten zeigten die Augen des Busfahrers, als eine junge Frau zustieg. Das T-Shirt, das sie trug war schmutzig und zerrissen, doch sein Augenmerk wurde von dem roten Fleck an ihrer Seite wie magisch angezogen. Das konnte doch nur Blut sein, oder? Er ließ seinen Blick zum Gesicht der Frau wandern und sah sie an, als würde er so eine Antwort finden, doch sie zeigte lediglich einen gültigen Fahrschein vor und ging schweigend an ihm vorbei in den hinteren Teil des Busses.

Er verfolgte ihre Bewegungen im Rückspiegel und betrachtete sie als sie sich auf einem Platz in der letzten Reihe niederließ. Wer war dieses Mädchen? Und was war mit ihr geschehen?

Er war sich sicher, dass es Blut war, das an ihrem T-Shirt klebte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es ihr eigenes Blut, so wie sie aussah, müde, mit Schrammen im Gesicht und dunklen Ringen unter den Augen, die von zu wenig Schlag kündeten.

Als der Busfahrer seinen Blick vom Rückspiegel und dem Mädchen, das sich darin spiegelte, losriss und wieder auf die Straße richtete, waren seine Gedanken immer noch bei diesem seltsamen Fahrgast. Er konnte sich nicht erinnern, etwas über eine junge Frau in den Nachrichten gehört zu haben, doch das war auch kein Wunder. Schließlich beherrschte seit dem gestrigen Tag nur eine Meldung die Medien: Der Tot eines hochrangigen Kommissars hielt die Stadt in Atem und wie es schien zeigten nicht nur die lokalen Reporter Interesse daran, sondern auch welche aus den umliegenden Städten und auch aus Tôkyô.

Sollte er zur nächsten Polizeistation fahren und das Mädchen dort abliefern? Wenn sie vermisst wurde wäre dies der richtige Weg und dort würde man sie auch mit allem versorgen, was ihr fehlte. Unwillkürlich glitt sein Blick von der Straße zum Rückspiegel und er betrachtete die junge Frau, die nun zusammengekauert auf ihrem Platz saß. Wie alt sie wohl war? Die Kleider die sie trug kannte er von seiner eigenen Tochter, auch wenn diese nicht blutbefleckt und zerrissen waren. Also wäre sie in etwa so alt wie Kaori, vielleicht ein wenig jünger. Achtzehn oder neunzehn?

Er musste an seine Tochter denken und dies vereinfachte seine Entscheidung deutlich. Er würde das Mädchen an der nächsten Polizeistation in die Obhut der Beamten geben. Wenn sie vermisst wurde, so würden die Polizisten sie wieder zurück zu ihrer Familie bringen, die, und da war sich der Fahrer sicher, schon auf sie warten würde.

„Und das ist alles? Du hast nichts vergessen?" Shinichi blickte seinen Freund, der vor ihm saß, fragend an. Es war wichtig, dass er wirklich jedes Detail wusste, auch wenn Heiji von seiner Fragerei bereits sichtlich entnervt war. Auch war es nicht einfach die Geschehnisse wieder und wieder durch zu gehen. Heiji tat ihm aufrichtig leid. Er hatte schwere Stunden hinter und vermutlich auch noch vor sich. Wenn wirklich die Männer in Schwarz ihre Finger mit im Spiel und den Kommissar ermordet hatten, dann war dies ein gefährliches Terrain. Diese Kerle waren skrupellos und würden nicht zögern, Kazuha, wenn sie sich in ihren Händen befand, zu töten, sollte nur der geringste Verdacht bestehen, dass ihnen jemand auf den Fersen war. Die Geschichte war noch nicht ausgestanden und Shinichi hatte Angst, dass seinem Freund noch schlimmes bevorstand, ehe sie die Mörder und Entführer gestellt hatten. Er hoffte nicht nur um Heijis, sondern auch um Kazuhas Willen, dass alles ein gutes Ende nehmen würde, aber er war Realist genug, um die Situation richtig einzuschätzen.

Shinichi betrachtete zum wiederholten Male seinen Freund, der vor ihm saß und die Tasse Tee mit beiden Händen umklammert hielt. Seit sie das Café betreten hatten hatte Heiji kaum ein Wort gesagt. Mit Müh und Not hatte Shinichi die notwendigen Informationen aus ihm heraus bekommen, mehr aber auch nicht. Würde Heiji es verkraften, wenn Kazuha etwas passiert war, wenn sie verletzt oder noch schlimmer, wenn sie tot war? Nein! Mit Sicherheit nicht. Er musste an Ran denken, die mit Sonoko in Urlaub gefahren war und nichts von alle dem wusste. Niemals würde er darüber hinweg kommen, wenn ihr etwas zustoßen würde. Niemals! Er wusste nicht, wie er reagieren würde, wäre er in einer solchen Situation. Damals, als diese Kerle ihn geschrumpft und damit auch Ran in Gefahr gebracht hatten, hatte er manchmal gedacht, dass er es nicht mehr aushalten würde. Doch nun wurde ihm klar, wie gering doch seine Sorgen im Vergleich zu denen Heijis waren. Er hatte Ran um sich gehabt und hatte so einen gewissen Einfluss darauf, dass die Männer in Schwarz ihr nicht zu nahe kamen, auch wenn er im Körper eines Grundschülers nicht allzu viel hätte ausrichten können. Heiji aber hatte nicht einmal eine Ahnung, wo seine Freundin im Moment war. Er konnte ihr nicht beistehen und zumindest versuchen sie zu beschützen.

„Was hast du nun vor?", riss Heijis Stimme ihn aus seinen Gedanken. Shinichi sah von der Tischplatte auf, die er die letzten Minuten eingehend betrachtet hatte, als gäbe es dort etwas Besonderes zu entdecken.

„Mhm…ich bin mir noch nicht sicher, wo wir anfangen sollen. Nach allem was du gesagt hast wird es schwer sein an Neuigkeiten von der Polizei zu kommen. Aber ohne haben wir zu wenige Anhaltspunkte für Ermittlungen", seufzte Shinichi. Dieser Fall war wirklich schwer.

„Wir könnten am Platz anfangen", schlug Heiji vor.

„Ich denke nicht, dass das uns weiter hilft. Es ist schon zu viel Zeit vergangen."

„Ich weiß", kam es leise von Heiji und Shinichi überkam ein schlechtes Gewissen. Es schien ihm, als habe er dem jungen Mann die Hoffnung genommen, doch es würde absolut nichts bringen, sich den Platz anzusehen. Sie würden dadurch nur Zeit verlieren. Kostbare Zeit. Auch Heiji schien dies zu wissen denn er schlug vor: „Ich kann versuchen, in das Haus zu geh'n. Da müsste es doch was geben, meinste nich'?"

In das Haus des Kommissars? Aber hatte Heiji nicht gesagt, dass es unmöglich wäre dort hineinzugelangen, weil überall noch Polizisten herumschwirrten?

„Du willst da hin? Ich dachte das würde nicht gehen."

Nachdenklich blickte Heiji auf, senkte dann wieder seinen Blick auf die Tasse, die er immer noch in Händen hielt und sprach mit leiser aber fester Stimme: „Es ist aber die einzige Möglichkeit, die uns bleibt. Und wenn wir's geschickt anstell'n merkt keiner was. Ich komm ins Haus, ohne dass es jemand sieht."

Shinichi wusste nicht, was er von diesem Vorschlag halten sollte. Sicher, es war seltsam in ein fremdes Haus einzusteigen, auch wenn Heiji die Sache anders sah und es für ihn wie ein zweites Zuhause war, aber er sah auch ein, dass sie sonst keine Möglichkeit hatten an Informationen zu kommen. Vielleicht konnten sie dort Hinweise auf die Ereignisse finden, die sich dort abgespielt hatten.

„Gut. Wir gehen dort hin", sagte Shinichi schließlich und trank einen Schluck von seinem Tee.

Noch einige Zeit saßen sie stumm da, jeder in die eigenen Gedanken vertieft, bis die Kellnerin an ihren Tisch kam und fragte, ob sie noch etwas bestellen wollten. Sie verneinten, bezahlten die Rechnung und machten sich dann zu Fuß auf den Weg zu Kazuhas Haus.

Der neue Wagen, der langsam durch die grauen Straßen des Industriegebiets fuhr, wollte nicht so recht in diese Gegend passen. Zwischen all den fast schrottreifen Autos fiel der glänzend schwarze Lack auf und zog die Blicke der Arbeiter auf sich, die vereinzelt zwischen den Lagerhallen und Fabrikgebäuden zu sehen waren.

„Verdammt", fluchte der Fahrer. „Warum muss ich auch mit der Karre los! Hätte ich doch gleich ein Neonschild drauf bauen können! Aber nein! Ich musste ja sofort raus!"

Genervt steckte er sich eine neue Zigarette an und lenkte den Wagen in eine Straße, die er nun bereits zum zehnten Mal durch fuhr.

„Was mache ich überhaupt noch hier? Die Kleine ist sicher nicht mehr hier! Aber wenn ich hier noch ein paar Mal vorbei komme wird selbst der größte Depp mitbekommen haben, dass ich mich nicht einfach nur verfahren habe!", murmelte er wütend, als er an der Halle vorbei fuhr, vor der ihm bei seiner drittletzten Runde ein Mann gefragt hatte, was er denn suche. Er hatte den Namen einer Firma genannt, an der er auf seiner Tour schon vorbei gekommen war und der Mann hatte ihm den Weg dorthin erklärt. Als er aber einige Zeit später wieder an der Firma vorbei gefahren war hatte der Mann noch immer draußen gearbeitet und gefragt, ob er die Halle nicht gefunden hatte. Als der Wagen nun an der Halle vorbei fuhr war der Mann nirgendwo zu sehen und der Fahrer atmete erleichtert auf. Was wäre, wenn der Mann Verdacht schöpfen würde? Er konnte sich im Moment keine unbequemen Fragen leisten, sonst würde er in der Gunst seines Partners noch weiter sinken, was dann zur Folge haben würde, dass sich dieser an höherer Stelle beschweren würde. Und das würde dann alles andere als gut ausgehen. Zwar zogen Fehler nicht immer Konsequenzen nach sich, aber er hatte in diesem Auftrag schon zu viele gemacht.

Und dabei hatte alles so gut angefangen. Es war ein Kinderspiel gewesen, die Kleine zu entführen und in die Lagerhalle zu bringen, doch als sie sich befreien und türmen konnte hatte sich alles gedreht. Sein Partner, ohnehin nicht der geduldigste und umgänglichste, hatte ihm die Schuld daran gegeben, dass das Mädchen sie überrumpeln und fliehen konnte und ihn dann dazu verdonnert sie wieder herzubringen.

Nun fuhr er schon seit gestern Abend immer und immer wieder diese Gegend ab, obwohl er nicht daran glaubte, dass sich das Mädchen noch hier versteckte. Sicherlich war sie in die Stadt geflohen, aber sein Partner hatte ihm praktisch verboten dort nach ihr zu suchen. Das wollte er selbst übernehmen und, so vermutete der Fahrer, die Lorbeeren einheimsen, wenn er sie fand.

Zur gleichen Zeit hielt ein roter Wagen vor dem Haus der Toyamas. Ein Mann in einem schwarzen Mantel stieg aus und ging auf das Haus zu. Als er die Eingangstür erreichte blickte er sich kurz nach allen Seiten um, griff in seine Manteltasche, zog ein winziges Werkzeug heraus und setzte es am Türschloss an. Mit einem leisen Klicken öffnete sich das Schloss und der Mann sah sich noch einmal um, bevor er die Tür nach innen drückte und wie ein Schatten im Haus verschwand.