Chapter 10: Auf der Treppe

Schweigend hatten Shinichi und Heiji den Weg zum Hause Toyama zurückgelegt, wobei der junge Mann aus Tôkyô seinem Freund von Zeit zu Zeit einen besorgten Blick von der Seite zuwarf. Heiji jedoch schien dies nicht zu bemerken. Er war in seine eigenen Gedanken vertieft und nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen war auch ihm unbehaglich zumute, wieder in das Haus des Kommissars zurück zu kehren, wenn auch aus einem anderen Grund als Shinichi.

Als sie das Haus erreichten fiel Shinichi der rote Sportwagen auf, der davor parkte. Es war ein brandneues Model aus Europa, unglaublich schnell und teuer. Der junge Mann aus Tôkyô hatte erst neulich einen ausführlichen Bericht darüber gelesen, aber nicht daran geglaubt so bald eines davon vor sich zu sehen.

Staunend blieb er stehen und bewunderte für einen Moment den Wagen und überlegte, wem das Auto gehören mochte. Dem Kommissar sicherlich nicht, dafür dürfte selbst das Gehalt eines so hochrangigen Polizisten nicht ausreichen.

"Na ja, vielleicht ein Nachbar", dachte Shinichi, als sein Blick auf das Nummernschild fiel. Eine ausländische Kennung? Vielleicht ein Bekannter, der zu Besuch ist und gleich sein neuestes Spielzeug mitgebracht hatte? Shinichi gab auf. Es spielte für ihren Fall schließlich keine Rolle, wer sich so einen Wagen leisten konnte. Als er sich von dem Auto abwand und aufblickte entdeckte er, dass Heiji bereits zum Haus vorgegangen war und dort auf ihn wartete.

"Weißt du wem das Auto gehört?", fragte Shinichi, als er neben Heiji trat. Heiji blickte einen Moment auf den strahlend roten Lack und schüttelte dann den Kopf.

"Nee, hab ich noch nie geseh'n."

Dann ging er um das Haus, wie er es schon vor fast zwei Tagen getan hatte. Shinichi folgte ihm, behielt aber im Gegensatz zu Heiji das Haus im Auge. Er hatte zwar bisher weder einen Polizeiwagen noch einen Polizisten gesehen, aber war es nicht möglich, dass sich noch ein oder zwei Beamte im Haus aufhielten, um noch nach Spuren zu suchen?

Auf der Rückseite des Hauses stoppte Heiji und seine Augen wanderten das Gitter, das an der Wand befestigt war, hinauf. Er legte eine Hand daran, zögerte dann aber eine Minute, ehe er, den Blick starr auf das Fenster im ersten Stock, an welchem das Gitter vorbei führte, gerichtet, hinauf kletterte.

Heiji war schnell und Shinichi musste unwillkürlich darüber staunen. Sein Freund war wie ausgewechselt. Die traurige Schwerfälligkeit, mit der er sich die ganze Zeit über vorwärts geschleppt hatte, war von ihm abgefallen. Dieser junge Mann, der dort vor seinen Augen so behände das Gitter hinauf kletterte, war wieder der Heiji, den er kannte. Aber als Heiji das Fenster erreicht, es geöffnet hatte und sich nach Shinichi umsah, waren seine Augen noch immer ohne jeden Ausdruck.

Heiji bedeutete Shinichi wortlos ihm zu folgen und verschwand dann lautlos durch das Fenster ins Innere des Hauses. Shinichi stieß einen traurigen Seufzer aus und folgte dann seinem Freund, wenn auch nicht mit dessen Leichtigkeit und Lautlosigkeit. Erschrocken zuckte er zusammen, als das Gitter bedrohlich knarrte, schaffte es aber in das Zimmer, in dem Heiji auf ihn wartete.

Es war ein schönes Zimmer, hell und freundlich, aber eindeutig das eines Mädchens. Kazuhas Zimmer. Shinichis blick streifte die Bilder auf dem Tisch. Von jedem lächelte ihm die Vermisste zu, manchmal alleine, oder mit einer Gruppe Jugendlicher, doch die meisten Bilder zeigten sie zusammen mit Heiji, der ihr auf einem Bild sogar den Arm um die Schultern gelegt hatte und sie an sich zog.

"Habe ich da etwas verpasst?", fragte Shinichi sich, während sein Blick von dem Bild zu Heiji und zurück wanderte.

Bevor Shinichi jedoch weiter darüber nachdenken konnte wurde er von Heiji an den eigentlichen Grund ihres Aufenthaltes erinnert.

"Wir sollt'n unten anfangen, oder?", fragte Heiji und blieb unsicher an der Tür stehen, die Hand auf der Klinke. Shinichi nickte und Heiji öffnete daraufhin die Tür, wenn auch widerwillig. Er wartete bis Shinichi in den Flur getreten war, verließ dann selbst das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Die Polizei hatte wirklich gründliche Arbeit geleistet. Sie mussten während ihrer Untersuchungen jedes Staubkorn in diesem Raum, wenn nicht sogar im gesamten Haus, auf den Kopf gestellt haben. Aber gefunden hatten sie nichts, dafür hatte er gesorgt. Ein selbstgefälliges Grinsen lag auf seinen Lippen. Ja, er hatte jeden Hinweis, der auf seine Spur führen könnte, sorgsam beseitigt, ehe er dieses Haus wieder verlassen hatte. Die Polizei und ganz besonders dieser Hattori konnten noch so lange suchen, sie würden niemals herausbekommen, dass er den Kommissar in seinem eigenen Arbeitszimmer ermordet hatte. Niemals!

Aber er war nicht da, um nach Hinweisen auf den Mord oder das Verschwinden der Tochter des Kommissars, die er übersehen hatte, zu suchen. Er wollte nur herausfinden, ob die Kleine, die ihnen entwischt war, auf ihrer Flucht hier gewesen war. Dass sie sich hier verstecken würde hatte er nicht angenommen, so dumm konnte die Tochter eines Polizisten nicht sein, aber er hatte trotzdem in allen Räumen nachgesehen.

Das Mädchen jedenfalls hatte er nicht vorgefunden, doch er traute es ihr durchaus zu, dass sie es geschafft hatte, hierher zu kommen und eine Nachricht zu hinterlassen, ehe sie wieder verschwand. Und diese mögliche Nachricht war es, was ihn dazu veranlasst hatte zuerst in diesem Haus zu suchen. Nur wusste er nicht genau, was er eigentlich suchte, Hatte sie eine Email abgeschickt, oder ganz altmodisch einen Zettel geschrieben? Zunächst hatte er vermutet, dass sie die Polizei alarmiert hätte, oder aber zur nächsten Polizeistation gegangen wäre, so wie er es in ihrer Situation getan hätte. Sein Informant, der sich unter den in diesem Fall ermittelnden Beamten befand, hatte ihm aber versichert, dass nichts dergleichen geschehen war.

Von dieser Tatsache überrascht hatte er einige Zeit benötigt, ehe ihm wieder einfiel, dass wahrscheinlich nicht nur die Polizei nach dem Mädchen suchte. Ihr Freund, dieser Detektiv, versuchte sicherlich selbst die Vermisste zu finden.

"Ob er in seiner Verfassung klar denken kann?", murmelte der Mann und blickte auf den Schreibtisch.

"Der Anblick hat ihn ja sehr mitgenommen."

Gehässig grinste er. Sein Informant hatte ihm alles über den Abend berichtet, an dem der Kommissar gefunden worden war. Und die ausführliche Beschreibung hatte es ihm leicht gemacht, sich die Szenerie genau vorzustellen. Er konnte sehen, wie der junge Detektiv bleich und nicht ansprechbar von Otaki nach draußen geführt, von den Sanitätern versorgt und schließlich von seinem Vater nach Hause gebracht wurde.

So schnell hatte er sich bestimmt nicht von diesem wahrgewordenen Alptraum erholt. Und dann noch die Nachricht, dass seine heißgeliebte Freundin verschwunden ist...

"...der kann mit Sicherheit keine Ermittlungen anstellen. Also keine Gefahr", schloss der schwarz gekleidete Mann seine Überlegungen und verließ das Arbeitszimmer.

Als er auf den Flur hinaus trat blieb er einen Moment stehen. Wo sollte er noch nach der möglichen Nachricht suchen? Im Zimmer des Mädchens hatte er schon alles durchsucht, nur an die Emails auf ihrem Computer war er nicht gekommen, hatte aber dafür gesorgt, dass ein Spezialist der Organisation sich darum kümmerte.

"So ein Aufwand!", schimpfte er laut. Nur weil sein unfähiger Partner die Kleine entkommen lassen hatte! Aber das würde Konsequenzen haben! Nicht nur, dass er sauer war, weil sein Partner ihm mit seiner Inkompetenz den Aufstieg in der Hierarchie versaut hatte. Nein! Er ärgerte sich auch über sich selbst. Schließlich war er es gewesen, der seinen Partner ausgesucht hatte. Damals war er ihm als zuverlässig erschienen und bei ihren bisherigen Aufträgen hatten sie sich perfekt ergänzt. Und dann das! Die Wut begann in ihm zu kochen, brodelte und stieg immer höher, bis sie aus ihm heraus brach: Er donnerte seine Faust so fest gegen die Wand, dass der Aufprall wie ein Paukenschlag durch das stille Haus dröhnte und der Schmerz sich bis in seinen Arm fortpflanzte.

"Was war das?", schoss es Heiji und Shinichi durch die Köpfe und sie blieben bei dem lauten Schlag wie erstarrt stehen. Doch schon zwei Herzschläge später waren beide zu der Erkenntnis gelangt, dass dieses Poltern nur zwei Ursachen haben konnte. Zum einen war es möglich, dass etwas umgefallen war, aber nach der Lautstärke zu urteilen musste es schon etwas Schweres gewesen sein. Und schwere Dinge hatten nicht unbedingt die Angewohnheit einfach umzufallen, ohne dass sie gestoßen wurden. Das ließ nur einen logischen Schluss zu: Sie waren in diesem Haus nicht die Einzigen!

Als Shinichi seinem Freund ins Gesicht sah, konnte er auch bei diesem den Schrecken lesen, den diese Erkenntnis ausgelöst hatte. Aber noch etwas zeigte sich dort: Der alte Heiji war wieder zurück! Die Traurigkeit und die Mutlosigkeit, die noch vor wenigen Sekunden wie ein grauer Schleier über Heiji gelegen hatten, waren verschwunden und die grünen Augen blitzten so, wie sie es immer taten, wenn der junge Mann in einem Fall steckte und höchste Vorsicht geboten war.

"Was glaubst du?", flüsterte Shinichi und deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe.

"Von der Polizei isses keiner. Die wären mit 'nem Wagen da und den hätt' ich erkannt", antwortete Heiji ebenso leise.

"Außerdem hätten wir die schon früher gehört", stimmte Shinichi ihm zu.

"Bleibt wohl nur noch eine Möglichkeit, was?", meinte Heiji und in seinen Augen schimmerte es herausfordernd. Dann wandte er sich ab und machte einen hastigen Schritt zur Treppe. Shinichi reagierte schnell. Er packte seinen Freund am Arm ehe dieser außer Reichweite war und flüsterte in mahnendem Ton:

"Bist du wahnsinnig? Du kannst doch nicht einfach da runter gehen!"

Ob es seine Worte waren, oder sein eindringlicher Blick, konnte Shinichi nicht sagen, aber Heiji begriff, dass er fast einen großen Fehler begangen hätte. Er schloss die Augen, atmete einige Male tief ein und Shinichi konnte fühlen, wie der junge Mann sich etwas entspannte. Erleichtert ließ er Heijis Arm wieder los. Es war wichtig, dass sie nun überlegt handelten, denn wenn sich einer der Täter im Haus herumtrieb war dies eine gute Möglichkeit Antworten zu bekommen. Auch Heiji schien dies erkannt zu haben, doch das Adrenalin schoss noch immer durch seine Venen und er konnte nur mit Mühe den Drang nach unten zu stürmen und notfalls mit Gewalt an Antworten zu kommen unterdrücken.

Shinichi betrachtete seinen Freund besorgt, doch dieser signalisierte ihm mit einem Nicken, dass alles in Ordnung war und er sich auf ihn verlassen konnte.

"Ich werd' mich beherrschen", flüsterte der junge Mann und Shinichi beließ es dabei.

Leise näherten sich beide der Treppe und versuchten eine Blick auf den Flur im Erdgeschoss zu erhaschen. In dem kleinen Abschnitt, den sie von ihrer Position aus einsehen konnten, war niemand.

"Ob er im Arbeitszimmer ist?", fragte sich Heiji, sprach den Gedanken aber nicht aus.

Gemeinsam schlichen die beiden Detektive die Treppe hinunter, ihre Muskeln und Nerven zum Zerreißen gespannt und bereit in der nächsten Sekunde entweder auf den Einbrecher zu stürzten, oder in Deckung zu gehen.

Keiner der beiden hatte es laut ausgesprochen, aber jeder wusste, dass sie die gleiche Vermutung hatten. Sollte es sich bei dem Einbrecher tatsächlich um den Mörder Toyamas oder seinen Komplizen handeln, würde der sicherlich auch jetzt eine Waffe bei sich tragen und davon Gebrauch machen. sie mussten sehr vorsichtig sein und schnell reagieren, wenn sie nicht wie der Kommissar mit einer Kugel im Körper enden wollten.

Sie erreichten das untere Drittel der Treppe und befanden sich nun in einem für sie günstigen Winkel. Dicht an die Wand gepresst konnten sie den gesamten Flur bis zum Arbeitszimmer einsehen, ohne dabei selbst entdeckt zu werden. Und obwohl sie damit gerechnet hatten stockte den beiden jungen Detektiven der Atem, als sie den Mann entdeckten, der mit dem Rücken zur Treppe im Flur stand.

Die schwarze Kleidung brachte bei Shinichi unangenehme Erinnerungen zurück. Der Mantel! Einen solchen Mantel hatte auch Gin getragen, als er ihm damals im Tropical Land zum ersten Mal begegnet war. Doch die Haare waren dunkler und kürzer geschnitten als die des Killers und Shinichi atmete mit einer gewissen Erleichterung aus. Bisher hatte er unbewusst damit gerechnet, dass Gin und sein Partner Vodka hinter der Sache steckten. Aber auch mit Vodka hatte dieser Mann keine Ähnlichkeit. Er war schlank und etwas größer als Shinichi und Heiji. Die Haare deuteten daraufhin, dass es ein Ausländer war.

„Ein Ausländer? Dann ist das sein Auto!"

Shinichi fügte die Puzzelteile zusammen und ein Seitenblick zu Heiji genügte, um festzustellen, dass dieser das Gleiche dachte wie er.

Was sollten sie nun tun? Ihr Verdacht hatte sich allem Anschein nach bestätigt. Die Männer in Schwarz steckten wirklich hinter alle dem und das war, weiß Gott, kein gutes Zeichen!

Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich die Hand.

„Verdammt! Schon wieder der Arm", fluchte er während seine Hand den schmerzenden Arm hinauf zur Schulter strich. Nie hätte er gedacht, dass dieses Gör ihn überwältigen konnte.

„Schlampe! Dafür wirst du mir bezahlen! Das schwöre ich dir!", schimpfte er und drehte sich um. Es half alles nichts. Er würde sich später an dem Mädchen rächen und ihr zeigen, was er mit Leuten machte, die sich gegen ihn wehrten. Aber nun musste er unbedingt herausfinden, ob sie in diesem Haus eine Nachricht hinterlassen hatte. Doch wo sollte er suchen? Er war schon in jedem Zimmer gewesen, hatte alles auf den Kopf gestellt, aber ohne etwas zu finden.

„Also das Ganze noch mal von vorne", murmelte er, drehte sich Richtung Treppe und wollte gerade auf diese zu gehen, als das Klingeln seines Handys ihn innehalten ließ. Schnell hatte er das kleine Telefon aus seiner Manteltasche gefischt und nahm das Gespräch entgegen.

„Das war knapp! Verdammt knapp!", schoss es Heiji durch den Kopf als das Handy den schwarz Gekleideten daran hinderte sie zu entdecken. Dennoch wagte er nicht auszuatmen. Shinichi ging es genauso. Er stand neben Heiji an der Wand und versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen.

Der Schock war den beiden Detektiven ins Mark gefahren und ließ sie nur langsam wieder zur Ruhe kommen, während sie nun ihre Aufmerksamkeit den Worten widmeten, die der Mann mit seinem Gesprächspartner wechselte.

Es war schwierig zu verstehen, um was es bei dem Telefonat ging. Die jungen Männer verstanden nur Bruchstücke und konnten sich aus dem kurzen Gespräch nichts zusammenreimen.

„Gut. Wenn du etwas Neues hörst meldest du dich, Mezcal", verabschiedete der Mann sich und steckte das Handy in die Tasche zurück.

Erschrocken wechselten die Detektive einen Blick. Sie saßen nach wie vor in der Falle. Es war einfach unmöglich die Treppe unbemerkt hinauf zu schleichen. Also würden sie sich der Begegnung stellen müssen!

Heiji sah sich nach etwas um, das er als Waffe benutzen konnte, fand aber nichts. Shinichi hatte mehr Glück. Zwei Stufen über sich fand er eine Plastikflasche gefüllt mit Wasser.

„Besser als nichts", dachte er sich und griff nach der Flasche. Sie war nicht sehr voll, aber mit einem kräftigten Tritt in Bewegung versetzt würde sie den Kerl in Schwarz wenigstens einen Moment ablenken, so dass der Überraschungseffekt auf ihrer Seite war. Mit der Flasche in der Hand und auf die Entdeckung vorbereitet stand Shinichi neben seinem Freund.

Doch der Mann blieb stehen und ein Grinsen verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze. Dann drehte er sich um und ging auf die Haustür zu. Während er die Tür öffnete, nach draußen trat und die Tür hinter sich zuzog, nahm er sein Handy erneut aus dem Mantel, tippte eine Nummer ein und wartete, vor dem Haus stehend, darauf, dass sein Partner abnahm.