Chapter 11: Dunkle Stunden

Zufrieden lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Nun hatten sie die Geschehnisse wieder im Griff! Sie würden ihren ursprünglichen Plan zwar etwas abändern müssen, doch das waren, im Vergleich zu den Problemen, die sie erwartet hätten wenn der Auftrag komplett gescheitert wäre, Nichtigkeiten.

Das Gefühl, dass er die Dinge wieder ins Lot gebracht hatte, ließ ihn wohlig schaudern, obwohl er streng genommen überhaupt nichts getan hatte. Doch das wollte er so nicht hören.

Er blickte durch die Glasscheibe, die sein Büro von dem nächsten trennte und seine Augen ruhten auf der Gestalt, die dort auf einem Stuhl saß. Sie musste müde sein, auch wenn sie ihm den Rücken zuwand und er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Doch ihre Haltung sprach für sich. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf hatte sie nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem Mädchen auf dem Photo, das sich in der Akte auf seinem Schreibtisch befand. Und wäre er nicht so abgebrüht, würde sie ihm Leid tun. In ihrem Zustand gehörte sie in ein Krankenhaus, aber nicht in ein Büro des Polizeipräsidiums. Doch er fühlte nichts außer Genugtuung. Sie befand sich wieder in Reichweite und das ohne dass sie die Gefahr auch nur ahnte.

Sobald die Befragung zu Ende war, so hatte man ihm gesagt, sollte sie ins Krankenhaus gebracht werden. Die Schusswunde an ihrer Seite hatte sich ein Arzt bereits angesehen und soweit versorgt, aber das Mädchen würde noch einmal genauer untersucht werden müssen. Geschickt hatte er es geschafft in die Gruppe zu kommen, die das Mädchen im Krankenhaus schützen sollte und er war fest entschlossen, die erst beste Gelegenheit, die sich ihm darbot, zu nutzen. Wie genau er das anstellen wollte wusste er noch nicht, aber er war nicht umsonst an dieser Mission beteiligt. Seine Fähigkeit zu improvisieren hatte ihm Ansehen verschafft und sie würde ihn auch diesmal nicht im Stich lassen.

„Bis dahin", so überlegte er, „ werde ich mich noch etwas ausruhen."

Ohne den Blick von seiner Beute zu lassen stand er auf und verließ sein Büro.

Kazuha konnte sich nicht erinnern, sich in ihrem gesamten Leben schon einmal so müde und leer gefühlt zu haben. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und Tränen und ihr Körper schrie nach Ruhe, nach Schlaf. Doch es sah nicht so aus, als würde sie das bald bekommen. Seit drei Stunden saß sie nun in diesem Büro und wurde von Otaki und Hattori befragt. In einer Ecke des Raums saß eine Frau mit grauen Haaren, die sich als Psychologin vorgestellt hatte und die sie während des Gesprächs mit wachsamen Augen beobachtete. Immer wieder trafen sich ihre Blicke mit denen Kazuhas. Die Frau gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit und Kazuha wusste, sie würde nicht zulassen, dass ihr in diesem Raum noch mehr Leid zugefügt wurde. Die letzten Stunden waren schon schwer genug gewesen.

Eigentlich hatte er vorgehabt, das Mädchen, das ganz hinten in seinem Bus saß und eingeschlafen war, an der nächsten Polizeistation in die Obhut der Beamten zu geben, doch als er an einer Kreuzung halten musste und auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Polizeiwagen parkten sah, entschied er sich, die Polizisten in dem Auto zu fragen, ob sie diese Aufgabe übernehmen würden.

Vielleicht wissen sie ja etwas über eine Vermisste", überlegte er und lenkte sein Gefährt an den Straßenrand.

Zum Glück saß in dem Bus nur noch ein älteres Ehepaar, so dass es darüber keine Beschwerden, sondern nur verwunderte Blicke gab.

Es geht gleich weiter", sagte er Fahrer, als er den Gang entlang lief.

Bei dem Mädchen angekommen, legte er ihr eine Hand auf die Schulter und rüttelte sie sanft wach.

Komm. Da draußen sind Polizisten, die dir helfen werden", erklärte er ihr, als sie die Augen öffnete und fragend in sein Gesicht blickte. Mit Hilfe des Busfahrers stand sie auf, zuckte aber sofort zusammen, als der Schmerz sich von der Wunde ausbreitete und durch ihren Körper schoss.

Kazuha wäre mit Sicherheit in den Sitz zurück gefallen, hätte der Mann sie nicht festgehalten. Mit ihm als Stütze schaffte sie es aus dem Bus auszusteigen und auf den belebten Bordstein hinaus zu treten.

Gemeinsam überquerten sie die Straße und gingen auf das als Polizeiwagen gekennzeichnete Fahrzeug zu.

Der Busfahrer klopfte an die Fensterscheibe der Beifahrerseite und als der Beamte aufblickte deutete er mit dem Kopf auf das Mädchen an seiner Seite. Der Polizist sah sie einen Moment an, tippte dann seinen Kollegen neben sich an und beide sprangen wie vom Blitz getroffen aus dem Wagen. Sie bestürmten den Busfahrer mit Fragen, wollten wissen, wo er das Mädchen gefunden hatte und vieles mehr.

Während einer der Polizisten, ein grauhaariger Mann Mitte vierzig, sich Namen und Adresse des Busfahrers notierte und ihn bat, sich am gleichen Tag noch auf dem Polizeipräsidium einzufinden, telefonierte der andere über das Funkgerät im Wagen.

Ja, sie ist es wirklich! Es ist Toyama-sans Tochter!", versicherte er seinem Gesprächspartner.

Sie hat eine Schusswunde an der Seite. Aber sie blutet nicht mehr."

Nein, sonst scheint sie unverletzt."

In Ordnung, Inspektor Otaki."

Ja, wir bringen sie sofort ins Präsidium", versprach er und beendete die Verbindung.

Sein Kollege verabschiedete sich gerade von dem Busfahrer und setzte sich dann zurück ins Auto. Besorgt blickte er über die Schulter zu Kazuha, die mittlerweile auf der Rückbank saß.

Die Kleine tat ihm leid, so wie sie dort saß, zugleich war er, ebenso wie sein Kollege, der den Wagen nun geschickt durch den Verkehr lenkte, erleichtert und froh, dass Kazuha noch am Leben war. Denn, auch wenn niemand der ôsakaer Polizei es zugeben wollte, sie alle hatten schon das Schlimmste befürchtet.

Kazuha nahm all das nur durch einen Schleier aus Müdigkeit und Schmerz wahr. Alles schien ihr so unrealistisch. Man hatte sie entführt, angeschossen und verfolgt, doch sie konnte nichts davon glauben, obwohl die Wunde an ihrer Seite deutlich zu spüren war. Die letzten Stunden waren wie ein Traum, aus dem sie hoffte, bald zu erwachen.

Auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums warteten bereits mehrere Polizisten auf sie. Kazuha erkannte nur Otaki wieder. Neben ihm stand ein Mann, den die Aufschrift auf seiner Jacke und der Koffer in seiner Hand als Arzt auswiesen. Und da war auch eine Frau, die seitdem nicht mehr von ihrer Seite gewichen war und zu der Kazuha sofort Vertrauen hatte.

Otaki half Kazuha aus dem Wagen und führte sie durch endlose Gänge in einen Raum, dessen Wände weiß gekachelt waren. Die einzigen Gegenstände waren eine Liege unter dem hohen Fenster auf der einen Seite des Raumes, ein schmaler Schrank auf der Seite gegenüber, sowie ein Tisch mit zwei Stühlen in der Mitte des Raumes. Alles fühlte sich kalt an, so als würde dieses Zimmer nur selten benutzt.

Otaki führte Kazuha durch den Raum zur Liege und bedeutete ihr, sie solle sich setzten. Der Arzt stellte seinen Koffer auf den Boden neben der Liege, öffnete ihn und wandte sich dann an Kazuha.

Ich werde mir die Wunde an Ihrer Seite ansehen, Fräulein Toyama", erklärte er sein Handeln, als er verschiedene Dinge aus seinem Koffer nahm.

Frau Magami", dabei neigte er den Kopf in Richtung Tisch, wo die Frau stand, die Kazuha aufmunternd zulächelte, „wird hier bei dir bleiben."

Dann drehte er sich zu Otaki um, der neben der Liege stehen geblieben war, bereit Kazuha zu stützen, sollte es auch nur den geringsten Anschein haben, dass sie Hilfe brauchte.

Inspektor Otaki, wenn Sie so freundlich wären draußen zu warten?"

Dem Inspektor war deutlich anzusehen, dass er dieser Aufforderung nur ungern nachkam, als er den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.

Kazuha konnte es sich nicht erklären, aber sie fühlte sich mit diesen beiden fremden Menschen im Raum alleine nicht unwohl. Im Gegenteil, auf eine seltsame Art spürte sie, dass sie nun in Sicherheit war und alles gut werden würde.

Doch sie hatte sich getäuscht.

Der Arzt besah sich die Schusswunde und verband sie, nachdem er sicher war, dass es nur ein Streifschuss war und keine weitere Gefahr von der Wunde ausging. Die restliche Untersuchung zeigte nur, dass Kazuha in den letzten beiden Tagen zu wenig Nahrung und Schlaf bekommen hatte, doch dies war angesichts der Situation nicht verwunderlich.

Nachdem der Arzt seine Sachen wieder in den Koffer gepackt und sich von Kazuha mit Genesungswünschen verabschiedet hatte, verließ er das Zimmer und traf im Flur auf den unruhig wartenden Otaki.

Ist alles in Ordnung?", wollte er wissen, als sich die Tür hinter dem Arzt schloss.

Ja, soweit geht es ihr gut…den Umständen entsprechend."

Aber die Schusswunde..?"

...ist nur ein Streifschuss. Kein Grund zur Sorge. Was mir jedoch mehr Kummer macht sind die Dinge, die noch auf sie warten. Wollen Sie es ihr denn jetzt schon sagen?"

Otaki schwieg einen Augenblick. Er wusste, dass es kein guter Zeitpunkt war, Kazuha mit einer solchen Nachricht zu konfrontieren, aber es würde niemals einen „richtigen" Zeitpunkt geben.

Sie muss es erfahren. Und besser, wir sagen es ihr, als dass sie es von irgendjemandem erfährt. Frau Magami ist auch hier. Sie wird Kazuha-chan helfen", antwortete der Inspektor.

Wie Sie meinen. Aber sorgen Sie bitte dafür, dass sie so bald wir möglich etwas Warmes zu essen bekommt. Viel trinken sollte sie auch und Schlaf wäre ebenfalls wichtig. Ansonsten steht alles hier", sagte der Arzt und reichte Otaki ein Blatt Papier, auf dem er, neben dem vorläufigen Untersuchungsergebnis, vermerkt hatte, welche Medikamente zu nehmen wären.

Falls es noch Fragen gibt rufen Sie mich bitte an", bat er und verabschiedete sich von Otaki, der dem Arzt noch für einen Augenblick nachsah und dann den Raum betrat, in dem Kazuha war.

Sie hatte sich in der Zwischenzeit den frischen Pullover und die saubere Jeans angezogen, die ihr Frau Magami gegeben hatte und saß nun mit der Psychologin am Tisch.

Kazuha-chan, es tut mir leid, aber wir können dir das jetzt nicht ersparen", begann die Frau, als sie Otakis unsicheren Gesichtsausdruck wahrnahm.

Otaki war von der Direktheit Frau Magamis überrascht, doch er wusste auch, dass sie Opfer eines Verbrechens befragen mussten, sobald diese dazu fähig waren. Kazuha war verletzt, müde und Otaki hätte nichts lieber getan, als das Mädchen nach Hause zu bringen, damit sie etwas essen, baden und sich ausruhen konnte, doch die Befragung war wichtig.

Wir gehen jetzt nach oben in mein Büro. Dort bekommst du etwas zu essen. Ich gebe zu, die Köche in unserer Kantine sind nicht mal halb so gut wie Frau Hattori, aber das Essen schmeckt ganz gut."

Otaki lächelte Kazuha aufmunternd zu und gemeinsam machten sich die drei nach oben auf.

Im Büro angekommen, schickte Otaki einen jungen Mann los, um in der Kantine Essen zu holen. Dann nahm er aus einem Schrank eine Flasche Wasser und drei Gläser, schenkte alle drei voll und reichte je eins an Frau Magami und Kazuha weiter. Das Dritte stellte er auf den Schreibtisch, doch anstatt zu trinken griff er zum Telefon, tippte eine Nummer ein und wartete, dass abgehoben wurde. Er brauchte nicht lange zu warten.

Hier ist Otaki. Wir wären jetzt soweit."

Gut, bis gleich", beendete er das kurze Telefonat.

Kazuha fragte sich, mit wem er telefoniert hatte, musste aber nicht lange auf eine Antwort warten, als nur wenige Minuten später Herr Hattori das Büro betrat.

Aber halt! Wenn Otaki ihn angerufen und herbestellt hatte, warum dann nicht auch ihren Vater? Oder war der etwa zu Hause?

Nein! Kazuha konnte sich das nicht vorstellen! Und dann war da ja auch noch dieser seltsame Anruf! Erst jetzt fiel er Kazuha wieder ein und dabei war doch alles nur wegen dieses Anrufs geschehen.

Kommt mein Vater auch?", wollte sie nun wissen. Die Veränderung, die sie in Herrn Hattoris Augen auf diese Frage sah, verwirrte sie, so dass sie ihren Blick auf Otaki richtete. Doch dessen Gesicht spiegelte nur den Ausdruck seines Vorgesetzten wieder. Kazuha wusste nicht, was es bedeuteten sollte. Sie hatte die beiden noch nie so gesehen.

Herrn Hattori kannte sie zwar als ernsten Mann, doch nun war da etwas anderes, etwas, das seine Augen so dunkel machte und ihm eine traurige Aura gab.

Was ist denn? Kommt mein Vater später?" wollte sie nun mit Nachdruck wissen, doch weder Otaki noch Herr Hattori antworteten ihr. Beide blickten Frau Magami, die am Fenster stand und die Szenerie mit wachsamen Augen beobachtete, an. Erst als diese nickte räusperte sich Herr Hattori.

Nun…Otaki, bitte sorgen Sie dafür, dass niemand herein kommt", wandte er sich an den Inspektor, der daraufhin das Büro verließ, um der Aufforderung nach zu kommen. Irgendwie fühlte er sich erleichtert, dass er jetzt nicht dabei sein musste. Er war nie gut darin gewesen, Menschen zu sagen, dass jemand, der ihnen nahe stand, den sie gemocht oder sogar geliebt hatten, nicht mehr existierte. Eine solche Nachricht einem Fremden zu überbringen fiel ihm schon schwer, wie sollte er es dann erst Kazuha beibringen? Er kannte sie schon, seit sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und sei war ihm ans Herz gewachsen.

Doch sie musste es erfahren. Sie durfte nicht weiter im Unklaren gelassen werden. Das hatte er doch vor kurzem erst dem Arzt gesagt!

Im Büro hatte sich Herr Hattori auf die Schreibtischkante gesetzt, so dass er direkt vor Kazuha saß. Er suchte nach Worten, mit denen er dem Mädchen die Nachricht so schonen beibringen konnte, wie nur möglich. Ihr erwartungsvoller und besorgter Blick machte es ihm nicht leicht.

Kazuha-chan…", begann er, stoppte aber wieder, als er in Kazuhas Gesicht eine Veränderung wahrnahm. Sie war nur winzig klein und fast unmerklich, aber er kannte diesen Ausdruck. Es war, als würde der Schleier der Unklarheit gelüftet und das schwere Tuch der Erkenntnis und der Trauer gesenkt.

Wie viele Male hatte er das schon miterlebt? Wie oft hatten Angehörige und Freunde ihm die Wahrheit schon an den ersten Worten, oder nur den Nennung ihres Namens, angemerkt?

Ihre Gesichter waren immer die gleichen und es war , als könnte man sehen, wie diesen Menschen ein Teil aus ihrer Seele gerissen wurde, wenn sie erkannten, endgültig erkennen mussten, dass eine geliebte Person nie wieder zu ihnen zurück kehren würde.

Dein Vater wird sterben!"

Die Worte, die ihr die unbekannte Stimme am Telefon an den Kopf geworfen hatte, hallten durch ihre Gedanken, doch nun waren sie bittere Realität und nicht, wie sie angenommen hatte, ein schlechter Scherz. Kazuha konnte sich nicht erklären, warum sie wusste, dass ihr Vater wirklich tot war. Sie wusste es einfach. Der Tonfall, in dem Herr Hattori ihren Namen ausgesprochen hatte und der Ausdruck in seinen Augen, mit dem er sie dabei ansah, waren alles, was sie die Wahrheit erkennen ließ.

Ihr Vater war tot und damit alles, was sie ein Zuhause genannt hatte. Natürlich, die Familie Hattori war für sie da gewesen und würde auch jetzt nicht von ihrer Seite weichen, aber es machte doch einen Unterschied.

Ohne es zu merken rannen Tränen Kazuhas Wangen hinab und tropften auf ihre Hände, die zitternd in ihrem Schoß gefaltet lagen. Sie hatte keine Kraft mehr, nicht einmal mehr genug, um aufzuspringen und der Welt ihre Trauer entgegenzuschreien. Stumm saß sie auf dem Stuhl und weinte. Sie merkte nicht, dass Frau Magami sie in die Arme genommen hatte und auch nicht, dass sich Herr Hattori mit dem Handrücken über seine Augen fuhr und die Tränen wegwischte, die sich dort bildeten.

Nachdem Kazuha sich ausgeweint hatte, oder besser gesagt, sie keine Tränen mehr hatte und still im Büro saß, bedeutete Frau Magami Herrn Hattori, dass sie nun mit der Befragung beginnen konnten, diese aber möglichst kurz halten sollten, damit Kazuha bald die Ruhe bekommen würde, die sie nun so dringend benötigte.

Nun, eineinhalb Stunden später, waren Otaki und Hattori fertig, jedoch ohne eine wirkliche Spur zu haben. Kazuha hatte ihnen zwar eine Beschreibung ihrer Entführer geben können, aber da sie die beiden nur für wenige Augenblicke in der Seitenstraße Ôsakas und dann wieder bei ihrer Flucht in der Nacht gesehen hatte, waren die angefertigten Phantombilder nicht sehr aufschlussreich.

Tapfer hatte sich das Mädchen den Fragen gestellt, doch als es nun still im Büro wurde kamen die verdrängten Worte Herrn Hattoris wieder. Ihr Vater war tot. Er würde nie mehr nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen und sie dankbar anlächeln, wenn sie ihm eine Tasse frischen Tees reichte. Nie mehr würde er ihr geduldig zuhören, wenn sie wieder einmal Streit mit Heiji gehabt hatte und er würde auch nicht mehr zusehen können, wenn sie in der Schule ein Theaterstück aufführten.

Wieder traten ihr Tränen in die Augen und verschleierten ihren Blick. Seit sie erfahren hatte, dass ihr Vater ermordet worden war, hatte sie alles um sich herum seltsam gedämpft und doch irgendwie klar wahrgenommen. Sie hatte die Fragen verstanden, die ihr vorwiegend von Hattori und Frau Magami gestellt wurden, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie wissen wollten. Alles war wie in einem Traum geschehen, von dem man, wenn man am nächsten Morgen aufwacht, nicht mehr weiß, was genau geschehen war, doch das komische Gefühl nicht loswird, dass es schrecklich war.

Wie von weitem hörte sie Frau Magamis Stimme, die mit Hattori sprach, doch sie schenkte den Worten keine Beachtung. Kazuha war in einer anderen Welt, sie spürte nichts mehr, nicht einmal die Schusswunde fühlte sie. Nichts, was um sie herum geschah drang in ihr Bewusstsein ein und so brauchte Otaki auch einige Anläufe, bis das Mädchen auf seine Stimme reagierte.

Verwirrt sah sie zu dem Mann auf, der an ihrer Seite stand und ihr eine Hand auf den Arm gelegt hatte. Seine Lippen bewegten sich, aber Kazuha hörte zunächst nicht, was er sagte.

„…zuha?…fahre dich ins Krankenhaus."

Langsam drangen die Worte zu ihr durch, gedämpft, wie durch dicke Vorhänge. Mühsam erhob sie sich und nahm Otakis Arm gerne als Stütze an.

Als der Inspektor und Kazuha das Büro verlassen hatten wandte sich Frau Magami an den Hauptkommissar.

„Ich nehme an, Sie werden sich nun um Kazuha kümmern?"

Er war mehr eine Feststellung als eine Frage, denn zweifelsfrei würde die Familie Hattori, die Kazuha von klein auf kannte und der das Mädchen voll und ganz vertrauen konnte, sich ihrer annehmen. So wartete Frau Magami auch nicht auf eine Antwort Hattoris, sondern sprach gleich weiter.

„Ich denke, es ist das Beste, wenn sie nicht lange im Krankenhaus bleibt. Höchstens bis morgen früh, dann sollte Kazuha in eine vertraute Umgebung zurück. Ich selbst werde das mit ihrem Arzt besprechen."

Als sie von Herrn Hattori ein bestätigendes Nicken erhielt fuhr sie fort.

„Außerdem wäre es gut, wenn jemand bei ihr bleiben könnte, den Kazuha gut kennt, damit sie diese Nacht nicht alleine ist. Könnten Sie sich darum kümmern?"

„Ja. Meine Frau oder mein Sohn werden bei Kazuha bleiben. Ich wollte ihnen sowieso noch sagen, dass wir Kazuha gefunden haben und es ihr gut geht. Jedenfalls soweit dies in dieser Situation möglich ist", antwortete Hattori und griff, wie zur Bekräftigung seiner Worte, zum Telefonhörer.

Während er die ihm vertraute Nummer über die Tasten eingab verabschiedete er sich von Frau Magami. Während er die ihm vertraute Nummer über die Tasten eingab verabschiedete sich Frau Magami und ließ ihn alleine im Büro zurück.

Bereits nach dem zweiten Klingeln wurde abgenommen und Shizukas Stimme drang an sein Ohr. Sie musste neben dem Telefon auf Nachrichten gewartet haben, denn sonst war sie um diese Zeit immer in der Küche und benötige immer einige Sekunden, ehe sie am Telefon war.

"Ich bin es Shizu", meldete sich Hattori. Das Atemgeräusch seiner Frau, das ihn über die Telefonleitung erreichte, verriet ihm ihre Anspannung. Seit fast zwei Tagen bangte Shizuka um Kazuha, so wie viele andere auch, doch für sie war Kazuha mehr als nur die Tochter eines Bekannten oder eines Arbeitskollegen. Shizuka hatte das Mädchen vom ersten Moment an ins Herz geschlossen und nach dem Tod Kazuhas Mutter waren ihre mütterlichen Gefühle nur noch stärker geworden. Deshalb wollte Herr Hattori sie nicht länger im Unklaren lassen.

"Wir haben Kazuha", sagte er und fügte in einem beruhigenden Ton hinzu: "Es geht ihr gut. Otaki ist jetzt mit ihr auf dem Weg ins Krankenhaus, aber keine Angst, Shizu, es ist nur zur Kontrolle."

Für einen Augenblick war die Leitung still, dann hörte Hattori ein merkwürdiges Geräusch, ein Schluchzen, wie er bemerkte, als seine Frau mit weinerlicher Stimme antwortete.

"…zum Glück…ich freue mich so", brachte sie unter Tränen der Erleichterung hervor.

Herr Hattori wusste nicht, was er tun sollte. Am Liebsten hätte er seine Frau in die Arme genommen, doch das würde er später nachholen müssen.

"Shizu?", begann er mit einer sanften Stimme, die er nur selten hören ließ.

"Hör mir bitte einen Moment zu, ja? Kazuha ist jetzt im Krankenhaus und wird auch bis morgen früh doch beleiben müssen. Unsere Psychologin meinte, es wäre gut, wenn jemand bei Kazuha sein könnte, den sie gut kennt."

"…kein Problem. Ich mache mich sofort auf den Weg", erklärte Shizuka und griff schon nach ihrer Tasche, die neben dem Telefon stand. Ihre Stimme hatte sie noch nicht wieder ganz unter Kontrolle, aber das Schluchzen hatte bereits nachgelassen.

"Gut. Kannst du auch Heiji Bescheid sagen?", bat Hattori seine Frau.

"Ja, ich rufe ihn sofort an. Kazuha-chan wird sich sicherlich freuen, wenn er mitkommt."

"Ja, das wird sie", erwiderte Hattori und verabschiedete sich von Shizuka.

Kaum hatte Shizuka das Gespräch mit ihrem Mann beendet, wählte sie auch schon die Handynummer ihres Sohnes. Am Morgen war er wieder aufgebrochen, nachdem er am vergangenen Tag kein Glück bei seiner Suche nach Kazuha gehabt hatte. Eigentlich hatte Shizuka ihn nicht wollen gehen lassen, er schien ihr zu

durcheinander und krank vor Sorge um seine Freundin, aber der junge Detektiv aus Tôkyô, der am Abend zuvor mit dem Flugzeug angekommen war, hatte ihr versprochen, auf Heiji zu achten. Shizuka kannte diesen Shinichi Kudô zwar bereits von einem früheren Besuch, aber damals war sie ihm nur flüchtig begegnet, als er Heiji und Kazuha getroffen hatte. Dennoch vertraute sie ihm. Er würde schon aufpassen, dass Heiji nichts Dummes tat. Nur deshalb hatte sie ihren Sohn heute Morgen mit dem jungen Mann ziehen lassen.

Nachdem der schwarz gekleidete Mann das Haus so überraschend verlassen hatte und die beiden Detektive ihre Verwunderung darüber überwunden hatten, waren sie die restlichen Stufen hinab und den Flur entlang zur Haustür gehastet. Durch den Spion, der in das Holz eingelassen war, konnten sie beobachten, wie der Mann in den roten Sportwagen stieg, den Shinichi zuvor bewundert hatte, und dann damit wegfuhr.

Enttäuschung machte sich breit. Heiji und Shinichi hatten keine Möglichkeit, dem Wagen zu folgen und damit war ihnen auch der Mann entkommen. Frustriert fuhr Heiji sich durch die Haar. Sie waren so knapp davor gewesen, den Entführern auf die Spur zu kommen und dann das! Mitfühlend legte Shinichi seinem Freund eine Hand auf die Schulter.

"Wir finden Kazuha! Lass den Kopf nicht hängen."

Es waren gut gemeinte Worte der Aufmunterung, mehr nicht, das war auch Shinichi selbst bewusst. Er wusste schließlich selbst am Besten, wie schwer es war, den Männern in Schwarz auf die Schliche zu kommen. Wenigstens hatten sie nun Gewissheit, dass es sich bei den Tätern um Mitglieder dieser mysteriösen Organisation handelte, denn der Name, den dieser unbekannte Mann in seinem Telefonat benutzt hatte, war der eines alkoholischen Getränkes aus Mexiko. Mezcal. Es musste ein Deckname sein und die Organisation hatte, neben ihrer Schwäche für schwarze Kleidungsstücke, einen Faible für Codenamen dieser Herkunft. Gin, Vodka, Pisco, Kir, Vermouth und all die anderen Mitglieder, denen Shinichi schon begegnet war, sie alle hatten diese Gemeinsamkeit.

"Und was sollen wir jetzt machen? Hier werden wir nichts finden", klagte Heiji mit Resignation in der Stimme. Er fühlte sich mies, konnte er doch keinen Hinweis auf Kazuhas Verbleib finden. Er hatte versagt!

Bevor er sich weiter Vorwürfe machen konnte, riss ihn das Klingeln seines Handys aus den negativen Gedanken. Schlecht gelaunt fischte er es aus seiner Jackentasche. Wahrscheinlich war es sein Vater, der ihn nun endgültig zurück pfiff, oder jemand anderes wollte irgendetwas Belangloses von ihm.

"Ja", meldete sich Heiji und bemühte sich nicht einmal, seinen Unmut zu verbergen.

"Hei-chan, ich bin's", antworte ihm die Stimme seiner Mutter. Sie schien in Eile zu sein, denn ihr Atem ging schnell und die Worte waren abgehackt. Normalerweise hätte Heiji das ignoriert, schließlich könnte schnelles Treppensteigen die Ursache dafür sein, doch nun, in dieser besonderen Situation, schärften sich seine Sinne sofort und seine Muskeln spannten sich an. Shinichi, der neben ihm stand, war diese Veränderung nicht entgangen. Was war geschehen?

"Dein Vater hat soeben angerufen. Sie haben Kazuha-chan", überbrachte Shizuka die gute Nachricht.

"Es geht ihr gut, Heiji!"

Der junge Mann hörte die Worte, konnte sie aber nicht sofort begreifen. Kazuha war wieder da? Und es ging ihr gut?

Shinichi, der nicht gehört hatte, war Shizuka gesagt hatte, blickte Heiji fragend an, erhielt aber keine Antwort, sondern bekam das Handy in die Hand gedrückt. Verwirrt hielt er es an sein Ohr.

"Hier spricht Kudô Shinichi, wer ist da bitte?" fragte er.

Shizukas Stimme war die Überraschung über den Wechsel ihres Gesprächspartners anzumerken, doch Heijis Mutter fing sich schnell.

"Hallo Kudô-kun, ich bin es, Heijis Mutter", antwortete sie dem Detektiv.

"Ich habe es Heiji gerade schon gesagt", fuhr sie mit freudiger Stimme fort.

"Mein Mann hat gerade angerufen und gesagt, dass sie Kazuha gefunden haben und es ihr gut geht."

Nun konnte Shinichi Heijis Reaktion verstehen. Er blickte seinen Freund an, der nun nicht mehr verwirrt oder ungläubig dreinblickte, sondern dessen Augen nun Erleichterung ausstrahlten. Heiji wirkte gelöst und Shinichi musste unwillkürlich lächeln.

"Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Kazuha. Inspektor Otaki hat sie in ein Krankenhaus gebracht und mein Mann meinte, es wäre gut, wenn wir bei ihr sind. Bitte komm mit Heiji auch dort hin", meldete sich Shizuka wieder zu Wort.

"Kazuha ist bestimmt froh, wenn er ihn der Nähe ist."

Shizuka nannte ihm noch den Namen des Krankenhauses und Shinichi versprach, sich mit Heiji auf den Weg zu machen, dann legten beide auf.

Heiji, der sich in der Zwischenzeit wieder gefangen hatte und den Rest des Gespräches mitverfolgt hatte, nahm das Handy, das Shinichi ihm reichte, in Empfang und steckte es in die Tasche zurück.

"Das Krankenhaus ist in der Nähe des Polizeipräsidiums. Wir brauchen also schon ´ne Weile", erklärte er Shinichi, als sie das Haus verließen und sich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle machten.

Shinichi nickte. Er wusste nicht einmal, wo genau das Krankenhaus lag, also ging er einfach neben Heiji her und beobachtete seinen Freund aus dem Augenwinkel. Es war unverkennbar, wie erleichtert Heiji auf die Nachricht seiner Mutter reagiert hatte. Shinichi selbst war froh, dass es Kazuha gut ging, aber er wusste auch, dass seine Gefühle nicht mit denen Heijis vergleichbar waren.