6. Gefangen II

"Holt ihn an Bord!"

Die Bestimmtheit der kraftvollen Stimme ließ keine Zweifel, dass der Mann, dem sie gehörte, es gewohnt war seit Jahren Befehle zu erteilen und keinen Widerspruch oder gar Verweigerung duldete. Minuten später stand ein neuer Passagier an Deck, in Ketten gelegt und gefangen. Gefangen auf dem verhassten Schiff der Royal Navy. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass Norrington sie auf dieser einsamen Insel aufspüren würde? Nahezu bei Null hatte sie gelegen. Ein friedliches Leben mit Rum und einer jungen Frau, die bestimmt ihre Reserviertheit vergessen hätte irgendwann, war ihm bevorgestanden. Zumindest für ein paar Tage hätte er es genießen können, ehe sie jämmerlich verhungert wären.

Aber nein, sie hatte es nicht hinnehmen können. Nein, dieses Frauenzimmer hatte den ganzen Rum verbrannt. Und nun stand er hier. Gefangen wie ein Leibeigener, in Ketten gelegt wie ein Tier, entwaffnet - und er konnte im Augenblick nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass sie Port Royal und den Galgen erreichen würden.

"Nun, da Miss Swann endlich von dem zweifelhaften Genuss eurer Gesellschaft erlöst wurde und sich wieder in sicheren Händen befindet, werdet ihr eurer gerechten Strafe zugeführt, sobald wir Port Royal erreicht haben."

Den Kopf in Demut und Bescheidenheit gesenkt, wagte der Pirat einen leisen Widerspruch, begleitet von einem unschuldigen Blick aus dunkel umrandeten Augen. "Ihr sorgt euch um die falsche Person, Commodore. Die Missy hätte mich eher gelyncht und an einer Palme aufgehängt, als dass ich es geschafft hätte sie zu v... " Die Spitze des blanken Schwertes, das sich gegen seine Kehle drückte, ließ ihn sofort inne halten.

"Auch ein gemeiner Pirat sollte auf seine Wortwahl achten, Mr. Sparrow."

"Aye, Commodore... Aber, wenn ihr mir noch eine kleine Bemerkung erlauben wollt...?"

Jack konnte nur auf die Neugier und das Wohlwollen Norringtons hoffen, der Elizabeth die Bitte nach der Black Pearl zu suchen, um Will zu retten, ohne mit der Wimper zu zucken, verwehrt hatte, bevor sie der erste Offizier der Dauntless unter Deck gebracht hatte, wo sie ein heißes Bad und frische Kleider erwarteten. Dem Commodore lag nichts das Geringste an einem Menschenleben, so lange es ihm nichts nützen konnte auf seinem Weg. Vermutlich hätte er sich einen Dreck um Elizabeth geschert, wäre sie nicht die Tochter des Gouverneurs gewesen. Jack konnte sich gut vorstellen, wie es um die Zuneigung und Liebe des Commodores bestellt war. Doch konnte er daran keinen weiteren Gedanken verschwenden, denn tatsächlich wandte sich Norrington noch einmal zu ihm um. Wartend. Und jetzt war die einzige Möglichkeit, um ihn noch umzustimmen. Um zu erreichen, dass der Offizier die Pearl suchte... um Will zu retten, wenn sie nicht schon zu spät kommen würden.

Jack gönnte sich noch einen Moment des Erstaunens über sich selbst. Er wollte hier wirklich etwas völlig Uneigennützes tun? Er versuchte wirklich, Wills Haut zu retten ohne auch nur den kleinsten Vorteil für sich zu entdecken. Egal. Sein Schicksal war besiegelt. Die schweren Ketten würde man ihm vermutlich nicht mehr abnehmen, bis es am Galgen baumelte und mit ihnen war eine Flucht unmöglich. Jack hatte den jungen Turner in sein Herz geschlossen. Erinnerungen an gemeinsame Tage mit seinem Vater waren wieder wach geworden. Die drängende Stimme Norringtons riss ihn aus seinen Gedanken.

"Nun, Pirat, was noch?"

"Die Pearl... Ihr wollt sie wirklich nicht verfolgen, Commodore? Stellt euch vor, was für ein Ruhm, wenn ihr die Seeleute vor der Black Pearl befreit hättet. Welche Dankbarkeit, nicht nur von der Bevölkerung, würde euch zu Hause erwarten? Bestimmt... eine baldige erneute Beförderung? Ihr findet ja nicht nur gewöhnliche Schurken auf der Pearl, nein, sondern Barbossa, einen der gefürchtetsten und grausamsten Piraten, die es gibt. Und noch dazu diesen Will Turner, der nicht nur seinen Stand vergisst und eurer Missy... ehm... Miss Swann den Hof macht, sondern zu allem Überfluss noch zum Piraten geworden ist. Eine weitere Bedrohung für die Sicherheit der Seewege."

Norrington schien in der Tat nachzudenken, was er tun sollte. Doch bevor Jack Hoffnung schöpfen konnte, liess ihn ein amüsiertes, aber kaltes Lachen ihn zusammen zucken. Der Offizier kam langsam auf ihn zu und musterte ihn noch einige Sekunden mit einem überlegenen Blick.

"Mr. Turner... eine Bedrohung der Seewege? Verzeiht meine Erheiterung, Sparrow, aber ich habe gesehen wie ihr Port Royal verlassen habt. Dieser Bursche ist nichts als ein Tölpel, der das Glück hatte mit zwei geschickten Händen gesegnet zu werden. Ein Schmid. Ich zittere vor Angst... Führt ihn ab."

Jack stemmte sich gegen die zwei Männer, die ihn unter Deck bringen wollten. Es musste jetzt funktionieren. Jetzt oder nie. Unter Fluchen und Schimpfen bot er seine ganze Kraft auf, über die er noch verfügte. Es gelangt ihm sogar, sich loszureißen, doch kam er nicht weit. Sofort wurden Bajonette auf ihn gerichtet und einer der Soldaten griff nach der Kette um seine Knöchel und riss Jack hart zurück. Doch Jack wollte nicht aufgeben. Noch nicht. Ihm bedeutete der Junge zu viel.

"Nur ein Schmid, Commodore? Nun, das mag heute auf ihn zutreffen, aber was ist morgen? Vergesst nicht, dass er immerhin einen Piraten aus dem Gefängnis befreit hat. Dass er der Navy - euch! - ein Schiff gekapert hat. Und dass er an Bord von Barbossa ist, zweifelsohne ein guter Lehrer, wenn es um Piraterie geht. Nicht schlecht für einen Tölpel, wie ihr sagt."

Jack wusste, dass es gefährlich war was er tat. Nicht für ihn, nein. Er war ein Pirat und trug das Mal dafür auf seinem Körper. Nie mehr würde er etwas anderes sein können, selbst wenn er wollte. Aber Will... der Junge war kein Pirat. Vielleicht konnte er nicht einmal ein Guter werden, egal wie sehr er es auch versuchte hätte. Doch das war die einzige Möglichkeit Norrington dazu zu bringen, die Pearl, Barbossa und somit auch Will zu verfolgen und den Welpen möglicherweise zu retten, wenn sie nicht ohnehin schon zu spät kamen. Jack konnte nur darauf hoffen, dass Norrington einsehen würde, dass Will kein Pirat war, wenn er dann an Bord der Dauntless war. Weshalb Norrington das einsehen sollte, vermochte auch er nicht zu sagen. Der Plan war aus einer reinen Notlage und aus Mangel an Zeit entstanden. Alles was er wusste, war: besser Norrington als Barbossa.

"Glaubt nicht, dass ich nicht wüsste was ihr hier versucht, Mr. Sparrow. Es ist kein Geheimnis, dass Piraten in der Wahl ihrer ... Liebschaften nicht zimperlich sind. Dennoch, ich gebe zu, euer Gedankengang ist nachvollziehbar und die Gründe, die ihr mir nennt nicht ganz von der Hand zu weisen. Und dennoch will solch eine Entscheidung gut überlegt sein. Ihr werdet bessere Überzeugungsarbeit leisten müssen. Auf ein Wort... in meine Kabine."

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hm... irgendwie ist mir der gute Commodore Norrington entglitten und gar nicht so geworden, wie ich ihn sehe, aber nun ja. Für die Geschichte mag es ja passen. Ich bitte um Verzeihung dafür –g-