Einige Tage später wusste er dann mit Sicherheit, dass Lisa zurück in Berlin war. Es war ein Mittwoch gewesen. Rokko hatte einen langen Arbeitstag hinter sich gehabt und kam gerade von der Präsentation eines neuen Schokoriegels, für den er sich das Konzept erdacht hatte, zurück. Er war so müde, dass er seine Augen kaum noch offenahlten konnte und auf der Straße schon beinahe in ein Fahrrad gelaufen war. Er gähnte. Rokko war müde und erschöpft. Nach der letzten Präsentation hatte er sich eigentlich eine Auszeit nehmen wollen. Doch zu viel Zeit zum Nachdenken war auch nicht so toll, wie er sich das gedacht hatte. Sich in die Arbeit zu stürzen, war für ihn die beste Medizin, um nicht immer wieder an Lisa denken zu müssen. Er überlegte, ob er mal wieder zu seinen Eltern fahren sollte. Raus aus der Stadt, ab nach Pinneberg. Über diese Idee musste er trotz seiner Müdigkeit lachen. Als ob er sich dort entspannen könnte! Lächerlich.
Rokkos Briefkasten quoll über mit Werbeprospekten und den kostenlosen Stadtzeitungen. Warum glaubten die Austräger eigentlich, dass sie ihm fünf Exemplare in den Briefkasten stecken mussten? Kopfschüttelnd entnahm er die Zeitungen. Dabei fiel etwas aus dem Stapel. Vermutlich nur ein Prospekt. Rokko hob es auf und ließ vor Schreck die Zeitungen fallen. Er hielt ein Foto von sich und Lisa in der Hand. Es war ebenso abgegriffen wie der Brief vor ein paar Tagen. Er starrte lange darauf. Es war ein Schnappschuss vom Minigolfplatz. Rokko hatte damals eine Wegwerfkamera gekauft. Für dieses Foto hatten sie sich eng aneinander gestellt, Wange and Wange und Rokko hatte den Arm weit ausgestreckt, damit sie beide gut zu sehen waren. Lisa hatte das Foto später bei ihm entdeckt und es mitgenommen, weil sie noch gar kein Foto von ihm hatte. Sie hatte das Foto geküsst, in ihren Terminkalender gesteckt und mit einer Büroklammer befestigt. Den Abdruck von der Klammer konnte man noch sehen. Rokko fuhr mit den Fingern darüber. Langsam hob er alle Zeitungen auf und ging in seine Wohnung. Er ließ sich auf sein Sofa fallen und starrte wieder auf das Foto, das von glücklicheren Tagen erzählte. Er drehte das Foto. Auf der Rückseite oben links in der Ecke hatte Lisa in ihrer geschwungenen Handschrift damals geschrieben: Rokko und Lisa, März 2006 und hatte ein Herzchen dahinter gemalt. Doch was darunter stand, konnte nur wenige Tage alt sein.
Rokko, wir müssen reden.
Lisa
Sie hatte eine Adresse darunter geschrieben.
Lisa war zurück in Berlin und sie wollte ihn sehen. Oder besser: sie wollte mit ihm sprechen. Rokko fragte sich, wie oft sie vielleicht schon vor seiner Tür gestanden hatte. Was hatten sie schon zu bereden? Wollte sie sich dafür entschuldigen, dass sie ihm das Herz gebrochen hatte? Rokko wusste nicht, ob er sie wirklich wiedersehen wollte. Er brauchte Zeit. Zeit, darüber nachzudenken. Eine Woche lang schrieb er immer wieder pro und kontra-Listen (Pro: Du wirst sie immer lieben. Kontra: Sie hat dir zwei mal das Herz gebrochen. Pro: Sie hat den ersten Schritt gemacht. Kontra: Willst Du das überhaupt noch? und so weiter und so weiter...), hatte Nächte lang wach gelegen und immer wieder zwei Fragen im Kopf gehabt: Was wollte sie besprechen und war er bereit dazu?
Weil er wusste, dass er nicht mehr zur Ruhe kommen würde, ohne wenigstens die Antwort auf eine der Fragen zu bekommen, machte er sich am Sonntag, also zehn Tage nach dem Fotofund im Briefkasten bereit, Lisa entgegen zu treten. Es war gegen 14 Uhr, als er mit Schatten unter den Augen vor der Wohnung stand, die sie als Adresse angegeben hatte. Auf dem Klingeschild stand 'L.+ J. Plenske' in Lisas Handschirft. Langsam fuhr er mit einem Finger darüber und drückte dann die Klingel. Einmal. Zweimal. Als er sich gerade wieder umdrehen und gehen wollte, öffnete sich die Tür. Rokko schloss kurz die Augen und sah dann direkt in Lisas Gesicht. Sie sah noch genau so aus wie vor fünf Jahren. Rokko sah sie an, konnte nichts sagen, weil sich sein Herz zusammenzog. Lisa versuchte zu lächeln.
"Schön, dass du gekommen bist", sagte sie leise und mit gebrochener Stimme, als sie die Tür weit für ihn öffnete und zur Seite trat, um ihn in ihre Wohnung zu lassen.
