Rokko lief eilig am Spreeufer entlang. Er wollte den Kopf frei kriegen. Er sprintete ein paar Meter, ging dann wieder, sprintete von neuem. Dann blieb er stehen, starrte von einer Brücke hinunter in die Spree und konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war. Er war Vater. Janosch, sein Sohn, SEIN SOHN, war bereits 4 Jahre alt. Rokko wusste noch sehr genau, wann es passiert war...
Damals hatte er Lisa gerade den Ring seiner Großmutter angesteckt und sie hatten sich gegenseitig gesagt, dass sie sich liebten. Beim Abendessen hatte Lisa immer wieder seine Hand genommen, seine Finger mit ihren veschränkt, hatte ihn immer wieder unter dem Tisch mit ihrem Fuß sanft angestoßen, woraufhin er sie verliebt angesehen und Lisa sich, ebenso verliebt, lächelnd auf die Unterlippe gebissen hatte.
Als sie das Wolfhardts verlassen hatten, hatte Rokko Lisa angeboten, sie noch nach Göberitz zu bringen. Aber Lisa hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und ihn zu sich gezogen, um ihn erst sanft, dann leideschaftlicher zu küssen. Rokko hatte seine Arme um ihre Hüfte geschlungen, um sie noch näher bei sich zu haben. Als sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten, hatte Lisa geflüstert, dass sie gern noch mit zu ihm kommen würde.
An diesem Abend hatten sie sich lang und zärtlich geliebt. Allein die Erinnerung daran brachte ihn zum Lächeln. Lisa war danach in seinen Armen eingeschlafen, hatte noch geflüstert, dass sie Rokko über alles liebte ("und ich werde dich bis an mein Lebensende lieben, mein Robert") und er hatte noch lange lächelnd wach gelegen und ihr später den Brief geschrieben, den er vor wenigen Tagen vor seiner Wohnungstür wiedergefunden hatte. Dass die Liebe von Lisas Seite so schnell vergessen worden war... damit hatte er in dieser Nacht nicht gerechnet. Wie hatte er sich so in ihr täuschen können? Aber das war die Nacht, in der sie Janosch gezeugt hatten.
Rokko seufzte und steckte seine Hände tief in seine Manteltaschen. In der rechten Tasche stieß er auf einen kleinen Gegenstand. Er umfasste ihn mit seinen Fingern und holte ihn aus der Tasche. Ein Spielzeugauto. Ein kleines rotes Spielzeugauto. Janosch musste es ihm in den Mantel gesteckt haben.
"Janosch... ich werde für dich da sein", lächelte Rokko, während er das Auto in seiner Hand drehte. "Ich will der beste Papa sein, den du dir wünschen kannst."
Bereits am nächsten Tag machte er sich wieder auf zu Lisas Wohnung, erblickte sie und Janosch jedoch schon auf dem kleinen Spielplatz auf dem Weg dorthin. Lisa saß eingemummelt in ihren Mantel allein auf einer Bank, Janosch kletterte mit zwei anderen um die Wette. Rokkos Schritte verlangsamten sich, als er sah, dass Lisa ihn bemerkt hatte. Er war noch wenige Meter von der Bank entfernt. Lisa sah ihn unentwegt an. Rokko steuerte geradewegs auf sie zu und setzte sich neben sie.
"Ich will für Janosch als Vater da sein", eröffnete er das Gespräch und sah dabei zu seinem Sohn, der immer noch die Seile wie ein Pirat hinauf kletterte.
Lisa nickte. "Okay. Das freut mich." Sie versuchte ein Lächeln. "Vielleicht möchtest du uns besuchen kommen. Ich zieh mich zurück, bin aber da, wenn du Hilfe brauchst."
"Das wäre schön", lächelte nun Rokko zum ersten Mal und sah in Lisas traurige, blaue Augen. "W-weiß er, dass ich sein Vater bin?"
"Ja. Natürlich", versicherte ihm Lisa und wollte noch etwas sagen: "Rokko, ich wollte nie-"
"Lass uns jetzt nicht darüber sprechen. Ein ander Mal?" unterbrach er sie. Egal, was sie jetzt sagen wollte, er wollte es nicht hören. Rokko wollte zunächst nur für Janosch da sein.
"Ja, klar", nickte Lisa. Dann stand sie auf und rief nach Janosch. Der Kleine kam sofort angerannt und sprang seiner Mama in die Arme. Lisa setzte sich mit Janosch neben Rokko und drehte sich zu ihm. "Janosch, mein Liebling, ich habe dir doch von deinem Papa erzählt." Janosch nickte und sah seine Mama erwartungsvoll an. Lisa strich ihm durch seine braunen Locken und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. "Janosch, das ist dein Papa Rokko. Er kommt uns jetzt öfter besuchen."
Janosch sah Rokko lange an und legte seinen Kopf schief. Dann lächelte er und streckte ihm die Hand entgegen. Rokko nahm seine Hand und zog Janosch in eine sanfte Umarmung. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, als er seinen Sohn, der seine kleinen Hände um seinen Hals klammert, zum ersten Mal in die Arme schloss.
"Papa, weinst du?" fragte Janosch, als er die Tränen im Gesicht von seinem Papa bemerkte und sah ihn ganz traurig an. "Janosch war ganz lieb", beeilte sich der Kleine zu sagen.
Rokko wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und strahlte ihn an. "Nein, Papa weint nicht. Papa freut sich darauf, ganz viel Zeit mit dir zu verbringen."
Lisa hatte die Szene ebenfalls mit Tränen in den Augen beobachtet. Als Rokko dies bemerkte, reichte er ihr sein Taschentuch, wie er es immer getan hatte, wenn Lisa weinte. Zögernd und mit zitternder Hand hatte sie es angenommen und damit ihre Tränen getrocknet. Mit einem "Danke" gab sie ihm das Taschentuch zurück und stand dann auf. Sie nahm Janoschs Hand und sah Rokko an. "Wir wollen jetzt nach Hause. Möchtest du mitkommen?"
"Ja, das möchte ich", antwortete Rokko lächelnd und nahm Janoschs andere Hand. So gingen die drei zu Lisas Wohnung. Janosch fand es großartig, mit zwei Eltern durch die Straßen laufen zu können. Endlich konnte er sich wie die anderen Kinder mit "Eins, zwei, drei, Hopsassa!" in die Luft schleudern lassen. Und es gefiel ihm gut.
