"So, noch die hier und dann bist du fertig", lachte Rokko und zog seinem Sohn die schwarze Augenklappe über. "Und jetzt üben wir noch ein paar Piratensätze. Sag: 'Arrrrrrrrrrrrrrrr'"

"Arrrrrrr!"

"Gut so! Und grimmig gucken! Guck, so: Arrrrrrrrrrrr!" grummelte er und kniff seine Augen und seinen Mund zusammen.

Lisa stand lachend in der Tür und beobachtete, wie Rokko und Janosch sich für die Halloween-Feier im Kindergarten bereit machten. Beide hatten sich als Piraten verkleidet: etwas zerfetzte Dreiviertelhosen, zerfetzte Hemden, ein angemalter Bart für Janosch, ein frisch gewachsener Schnurrbart für Rokko (und Lisa fühlte sich fast 6 Jahre zurückversetzt) und die Augenklappe. Außerdem hatten sie Janosch einen Plüschpapagei auf die Schulter gesetzt.

"Du bist ja noch gar nicht verkleidet", stellte Rokko fest, als er sie in der Tür erblickte. "Wir brauchen doch unsere Piratenbraut!" grinste er und machte sich daran, Janoschs Kopftuch zurecht zu rücken.

"Ich kann nicht."

Rokko gab Janosch einen Klaps und der Kleine stiefelte los, um seine Schuhe zu holen. Rokko stand auf und ging zu Lisa, die blass aussah. "Ist alles okay?" fragte er sie besorgt. Lisa musste lächeln.

"Ja, klar. Alles okay. Nur ein bisschen Bauchschmerzen. Nichts schlimmes. Allein habt ihr vielleicht auch mehr Spaß."

"Janosch wird seine Piratenbrautmama bestimmt vermissen", lächelte Rokko, machte unbewusst noch einen Schritt nach vorn und legte seine Hand auf ihren Oberarm. Lisa zuckte ein wenig zusammen - seine Hand... so warm, so zärtlich. Doch Rokko hatte das Zucken bemerkt und zog seine Hand wieder zurück. "Ähm, ja, ich bringe Janosch dann nach Göberitz?"

Lisa nickte. "Der Umzug ist gegen 6. Glaubst du, dass ihr es bis dahin schafft?"

"Natürlich", sagte er noch und wurde dann schon von seinem Sohn mitgerissen, der eben fröhlich angehüpft gekommen war. Gemeinsam mit Jansoch verließ er die Wohnung. Vor der Haustür blickte er noch mal nach oben und sah Lisa, die ihnen nachsehen wollte. Er stupste Janosch an und beide winkten ihr zu, bevor sie sich auf den Weg machten.

Wieder einmal würde er den Nachmittag mit Janosch, aber ohne Lisa verbringen. Die hatte sich in den letzten Wochen immer mehr zurückgezogen, als sie bemerkt hatte, dass die beiden auch gut alleine klar kamen. Oft hatte sie abends lange bei Kerima zu tun und Rokko kümmerte sich dann in ihrer Wohnung um Janosch, brachte ihn ins Bett und wartete, bis Lisa nach Hause kam. Meistens verschwand er dann schnell. Manchmal bat Lisa ihn aber, noch ein bisschen zu bleiben. Dann tranken sie einen Tee und unterhielten sich ein wenig - über Kerima, Rokkos Arbeit und am liebsten über Janosch. Bisher hatten sie es aber weiterhin vermieden, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Lisa hatte ein paar Versuche gestartet, doch Rokko hatte immer wieder abgeblockt. Zu sehr hatte er Angst davor, was sie ihm sagen würde.

"Papa, gehen wir einen Schatz suchen?" wollte Janosch aufgeregt wissen. Er hatte Rokkos Hand fest umklammert und hielt mit der anderen Hand seinen Säbel fest.

"Aber natürlich! Den größten Schatz, den du dir denken kannst! Goldtaler und Diamanten!"

"Und eine Krone für Mama!"

"Das auch, wenn du das willst."

Rokko atmete tief durch. Er drückte Janoschs Hand und steuerte mit ihm geradewegs auf den Kindergarten zu. Als am Eingang einer der Erzieher als Vampir hervorsprang, erschreckte sich Janosch so sehr, dass er sich fest an Rokkos Beine krallte und von ihm hochgehoben wurde.

"Papa beschützt dich", versuchte er den Kleinen zu beruhigen und flüsterte ihm dann ins Ohr, dass Vampire große Angst vor Piraten hatten, die laut brüllen konnten. Er zählte "Eins, zwei, drei!" und Janosch und Rokko brüllten laut ihr Piraten-Grummeln ("Arrrrrrrrrrrr!"). Janosch, der trotzdem noch nicht von Rokkos Arm herunter wollte, lachte wieder. Er drückte Rokko einen Kuss auf die Wange und wischte sich dann den Mund ab, weil ihn der Bart seines Papas so kitzelte. Rokko lachte und stürzte sich mit Janosch ins Getümmel. Im Laufe des Abends kidnappten sie eine Prinzessin und kämpften gegen einen König und einen Ritter. Den Schatz fanden sie auch: eine kleine Truhe voll mit Goldmünzen. Die Krone schwatzte Janosch mit Unterstützung seines Papas einer Erzieherin ab.

So stiefelten sie gegen halb 6 in Richtung Lisas Wohnung zurück, wo Rokko sein Auto abgestellt hatte. Mit dem fuhren sie fröhlich singend gen Göberitz. Rokko hatte vor ein paar Wochen ein größeres Auto gekauft und sich von seinem Mini verabschiedet. Außerdem hatte er den besten Kindersitz gekauft, den er hatte finden können. Am liebsten hätte er Janosch noch einen Helm aufgesetzt, wusste aber, dass das dann wohl doch zuviel des guten gewesen wäre.

Rokko parkte vor dem Haus der Plenskes. Alles war dunkel. Nur im Wohnzimmer brannte ein kleines Licht und am Eingang zwei selbstgeschnitzte Kürbislaternen. Als Rokko und Janosch aus dem Auto stiegen, wurde die Eingangstür eilig aufgerissen. Lisa kam mit einem "Tada!" herausgestürmt und lief auf die beiden zu.

"Arrrrrrrrrr, schöne Frau! Bereit, das Schiff zu entern?" lachte Rokko.

"Aye, aye, Captain!" salutierte Lisa und nahm Janosch auf den Arm. "Und, mein kleiner Pirat, habt ihr einen Schatz gefunden?"

"Ja! Und eine Krone für dich!"

"Eine Krone? Für eine Piratenbraut?"

"Ja, unser Sohn war fest davon überzeugt, dass du eine Krone haben musst."

Lisa lächelte verlegen, als Rokko Janosch die Krone gab und der Kleine sie ihr mit etwas Hilfe aufsetzte. "Das letzte Mal hat auch das Kleid dazu gepasst", sagte sie und sah Rokko an.

"Ja, aber als Piratenbraut kann man auch eine Krone tragen", grinste er und wuschelte seinem Sohn durch die Haare. "Gut, ich werde dann mal wieder nach Berlin zurück fahren. Sehen wir uns morgen?"

Plötzlich kullerten Janosch dicke Tränen die Wangen hinunter. "Papa", weinte er, "komm mit!" Er streckte seine kleinen Arme nach Rokko aus und Lisa reichte ihn hinüber.

"Hey, das ist doch eine gute Idee. Also, nur, wenn du Zeit hast, natürlich", sagte Lisa schnell und sah ihn bittend an.

Rokko wischte Janoschs Tränen aus dem Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. "Holst du schon mal deine Laterne aus dem Auto? Ich muss kurz mit deiner Mama reden."

Während Janosch zum Auto hüpfte, trat Rokko einen Schritt weiter an Lisa heran.

"Lisa, ich habe deine Eltern nicht mehr gesehen, seit-"

"Ich weiß", unterbach ihn Lisa schnell. "Ich würde mich trotzdem oder gerade deswegen freuen, wenn du mitkommst. Bitte? Janosch freut sich so darauf und ich... ich fänd's auch schön, mal wieder ein bisschen mehr Zeit mit dir zu verbringen."

Rokko konnte nicht anders, als ihren flehenden blauen Augen nachzugeben. "Okay."

Schon war Janosch wieder bei ihnen. Rokko schloss den Wagen ab und machte sich mit Lisa und Janosch auf den Weg zum Fackelumzug. Währenddessen sangen sie unentwegt "Ich geh mit meiner Laterne..." und Janosch war schon von weitem zu hören. Sie lachten ausgelassen, aber als sie an der Sammelstelle ankamen, wurde Rokko langsamer.

"Papa, komm, es geht los!" rief Janosch und wollte ihn mit sich ziehen.

"Ich komm gleich", versicherte Rokko ihm und Janosch rannte auf seine Großeltern zu, die ihn gerade entdeckt hatten und ihre Arme für ihn ausbreiteten. "Vielleicht war es doch keine gute Idee", wandte sich Rokko nun an Lisa. "Die Kirche, deine Eltern, du... alles kommt zurück."

"Rokko..." sagte Lisa traurig und mit zitternder Stimmer, als sie ihre rechte Hand auf seinen linken Oberarm legte. "Was damals passiert ist, tut mir wahnsinnig leid. Ich würde dir gern alles erklären... Nicht hier. Nicht jetzt. Aber vielleicht später heute Abend. Meine Eltern würden sich auch freuen, dich wiederzusehen. Bitte, komm mit."

Rokko nickte und folgte Lisa. Er streckte seine Hand Helga und Bernd zur Begrüßung hin.

"Ach, Herr Kowalski, ist das schön, dass wir Sie mal wieder sehen!" begrüßte ihn Helga überschwenglich und umarmte den überraschten Rokko auch kurz. Bernd blieb reserviert und nickte ihm nur zu, als er Rokkos Hand schüttelte. Janosch wich Rokko an diesem Abend fast nicht von der Seite und sang immerfort das Laternen-Lied. Lisa ging dicht neben ihnen, Helga und Bernd auf Lisas anderer Seite. Als Janosch dann einen kurzen Ausflug zu seinem Opa machte, rückte Lisa an Rokko heran. Leicht stieß sie ihn mit dem Ellenbogen an, damit er sie ansah. Seine Augen funkelten im Schein der Laternen und er erwiderte ihr Lächeln. Als sie nach dem Umzug zurück zum Plenske'schen Haus kamen, erkannte Rokko, dass die eine Kürbislaterne eine ganz gewöhnliche mit grauslichem Gesicht war, die andere aber irgendwas seltsames eingeschnitzt hatte. Es sah aus, als ob jemand ein wildes Muster hinein geschnitten hätte.

"Was ist das?" fragte Rokko schmunzelnd, als er darauf zeigte.

"Ein Komet!" grinste Lisa.

"Ja, die Lisa!" mischte sich Helga ein. "Sie wollte unbedingt einen Kometen in den Kürbis schnitzen. Ich weiß nicht, wie sie immer auf solche Ideen kommt."

Bernd, Helga und Janosch drängten sich an ihnen vorbei hinein ins Haus. Immerhin musste der Kleine noch was essen, bevor er ins Bett musste. Lisa sah Rokko lange an und nahm seine Hand. "Kommst du noch mit rein? Vielleicht können wir nachher reden... wenn Janosch im Bett ist?" Rokko nickte. Dann folgten sie den anderen ins Haus.

Beim Abendessen erzählte Janosch aufgeregt von der Halloween-Party im Kindergarten und wie er und sein Papa gegen den Ritter und den Vampir gekämpft und den Schatz erbeutet hatten. An diesem Abend wurde er von seinen Großeltern ins Bett gebracht, die sich immer sehr über den Besuch von ihrem kleinen Schatz freuten. Janosch gab seinen Eltern beiden einen "Gute Nacht"-Kuss und verschwand mit Helga und Bernd in der oberen Etage.

Lisa nahm einen Schluck Tee aus ihrer Tasse und sah Rokko über den Tassenrand an. Als sie sie abgesetzt hatte, wurde sie ernst. "Wollen wir jetzt reden?" fragte sie und Rokko nickte. Lisa stand auf und nahm Rokkos Hand. Sie führte ihn durch die Küche in den kleinen Anbau, der an einen Wintergarten erinnerte, wo sie sich auf die kleine Bank setzten. Lisa hatte sich seit Jahren zurecht gelegt, was sie sagen würde. Aber in diesem Moment hatte sie alles vergessen. Alle klugen Sätze, die sie sich überlegt hatte, waren weg. Lisa schaute auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß gefaltet hatte und holte tief Luft. Sie zwang sich, ihm direkt in die Augen zu sehen, damit er wusste, dass sie alles so meinte, wie sie es gleich sagen würde. "Rokko, ich muss dir so viel erzählen."