Kapitel 8

Rokko sah sie angespannt an. Doch innerlich war er ruhig. So ruhig wie lange nicht mehr, seit Lisa wieder in Berlin war.

"So viel..." setzte Lisa erneut an. "Als ich.. nein, anders." Sie nahm seine Hände in ihre und drückte sie fest. "Rokko, als du mich am Auto gefragt hast, ob ich wirklich dich heiraten will, und ich 'ja' gesagt habe - da hab ich das auch so gemeint. Ich wollte immer nur dich heiraten. Ich war mir so sicher, so sicher... Und als ich den Schuss hörte, spürte ich, dass David etwas zugestoßen war. Als er da so lag - angeschossen - da schoss es mir durch den Kopf, wie traurig ich wäre, wenn er nicht mehr da wäre. In diesem Moment, in dem alles durcheinander ging, habe ich das mit Liebe verwechselt. In meinem Kopf sah ich die Bilder von dem Traum, den ich ein Jahr lange verfolgt hatte: ein Leben mit David. Der Traum war durch die Entführung ins Wanken gekommen und als er dort verletzt lag, kam die Panik aus der Zeit der Entführung zurück und ich bildete mir ein, dass ich David heiraten müsste, um den Traum zu retten."

Rokko wandte den Kopf ab und wollte auch seine Hände von ihr ziehen, aber Lisa ließ nicht los.

"Rokko, sieh mich an, bitte", flehte sie. "Was ich in diesem Moment vergessen hatte, war aber viel schlimmer: ich hatte vergessen, was seitdem alles geschehen war, wer wirklich wichtig für mich war und wie sehr es mich verletzen würde, dich nicht in meinem Leben zu haben. Es gibt dafür keine Entschuldigung... jeden Tag, der darauf folgte, habe ich mich für mein Verhalten gehasst. Dafür, dass ich dir den Ring zurückgegeben habe. Dafür, dass ich dich wegschickte. David - das war immer mein Kleinmädchen-Traum. Aber du - du warst meine große Liebe. Du BIST meine große Liebe."

Rokko sah sie an und wusste nicht, was er davon halten sollte. Er verstand es nicht. Vor allem verstand er nicht, warum sie ihn erst so spät kontaktiert hatte, wenn sie doch vorgab, ihn zu lieben. "Aber.. warum hast du dann 5 Jahre gewartet? 5 Jahre, Lisa. Ich war die ganze Zeit in Berlin. Ich habe nicht mal meine Adresse geändert. Du wusstest genau, wo du mich finden konntest."

"Ich hatte furchtbare Angst davor, dir vor die Augen zu treten. Am Anfang wollte ich doch wenigstens versuchen, meine Ehe mit David zu retten. Nach drei Monaten war es aus. Ich weinte viel und obwohl er sich wirklich um mich kümmerte, konnte ich dich nie vergessen. Als ich erfuhr, dass ich schwanger war und mir der Arzt die ungefähre Woche errechnete.. ich wusste, dass nur du der Vater sein konntest. Und ich war froh! Rokko, ich war so glücklich. Wenigstens etwas würde mich immer an die wundervollen Wochen mit dir erinnern. Natürlich hätte ich es dir sofort sagen müssen. Du weißt nicht, wie oft ich den Telefonhörer in der Hand hatte. Ein Mal hab ich nicht gleich wieder aufgelegt. Eine Frau hatte den Hörer abgenommen und sich mit "Kowalski" gemeldet. Da legte ich doch wieder auf. Ich dachte, du hättest vielleicht eine neue Liebe gefunden. Und ich wollte das nicht auch noch kaputt machen. Du musst wissen: meine Eltern hatten sich gerade getrennt, weil mein Vater einen Sohn mit einer anderen Frau hatte und meine Mutter das nicht ertragen konnte. Ich wollte nicht, dass sich deine Freundin von dir trennt, weil du ein Kind mit mir hattest. Ich weiß, wie dumm sich das alles anhört."

Lisa liefen jetzt dicke Tränen die Wangen hinunter. Aber sie wollte noch etwas sagen, wollte sich erklären. "Rokko, ich hatte mich in etwas verrannt, in eine fixe Vorstellung, aus der ich nicht mehr heraus kam. Erst Bruno, das ist mein Halbbruder, hat mir klar gemacht, wie wichtig es für Janosch ist, dass er dich kennt. Und dass er selbst seine Mutter lange dafür gehasst hatte, dass sie ihm nie den Kontakt mit Papa ermöglicht hatte. Ich wollte nicht, dass auch noch Janosch mich hasste. I-Ich bin mir sicher, dass du mich hassen musst. Aber ich bin dir so unendlich dankbar, dass du für Janosch da bist."

"Ich wäre gern vom ersten Tag an für Janosch dagewesen", antwortete Rokko traurig.

"Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich würde es tun. Ich würde alles anders machen. Aber das geht nicht mehr. Ich habe alles falsch gemacht. Aber ich bitte dich trotzdem um Vergebung. Und vielleicht auch.." Lisa holte tief Luft. "Vielleicht auch um eine neue Chance für uns zwei, für dich und mich."

Lisa sah Rokko ängstlich an. Er entzog ihr seine Hände und blickte in die große Dunkelheit, die sich vor ihnen ausbreitete. "Lisa, ich weiß nicht, ob ich noch mal den Mut aufbringen könnte, uns beiden eine Chance zu geben. Ich hoffe, du verstehst das. Durch Janosch wirst du immer ein Teil von mir sein. Ich kann dich nicht aus meinem Leben ausschließen. Aber ich möchte mich nicht wieder Hals über Kopf in etwas mit dir stürzen, was dann doch wieder nur zu Tränen und Schmerzen führt." Er wandte sich ihr wieder zu. "Verstehst du das?" fragte er sie eindringlich und wollte ihren Blick mit seinen Augen festhalten. Lisa nickte und blickte nach unten. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und lauschten, wie der andere atmete. Lisa zog ihre Beine fest an sich und umschlang sie mit ihren Armen. Es war Rokko, der das Schweigen wieder durchbrach. "Wo ist Janosch geboren?"

"In Kanada. Toronto. Als ich im vierten Monat war, verließ ich David und ging nach Kanada. Ich wollte sehen, was wir beide zusammen erleben hätten können, wenn ich nicht..." Lisa beendete den Satz nicht, begann statt dessen einen neuen. "Janosch und ich haben bis vor drei Monaten noch dort gelebt. Er ist dort auch getauft worden: Janosch Konrad." Lisa bemerkte, dass Rokko lächelte und fuhr fort. "Er ist zweisprachig aufgewachsen, weil er dort auch in den Kindergarten ging. Ich habe in einem kleinen Modeunternehmen gearbeitet, dass wir als Zweigstelle für B-Style gekauft hatten. Bruno kam mich öfter besuchen. Wir haben viel geredet, weil wir uns auch erst kennenlernen mussten. Bruno hat mich dazu überredet, wieder nach Berlin zu kommen. Ich war ein paar Mal vor deiner Wohnung, aber du warst nie da. Er hat mich jedesmal begleitet, damit er sicher sein konnte, dass ich auch wirklich bei dir klingelte. Dann haben wir die Nachricht hinterlassen. Den Rest der Geschichte kennst du."

"Habt ihr Fotos hier aus Kanada?"

"Ja, warte, ich hol sie schnell." Lisa sprang auf und lief eilig ins Wohnzimmer, von wo sie eine große, rot-weiße Pappschachtel holte. "Hier", begann sie, als sie den Deckel öffnete, "hierin sind alle Fotos, die ich meinen Eltern geschickt habe und auch die Briefe. Hier ist ein Bild von Janosch, als er gerade 10 Tage alt war. Er hatte von Anfang an dichte, dunkle Locken auf dem Kopf." Rokko sah sich das Foto genauer an und schmunzelte über das, was auf Janoschs Strampler stand. Lisa bemerkte das und schmunzelte ebenfalls. "Eine Freundin von mir, Lindsay, hatte ein Foto von dir gesehen und fand auch, dass Janosch dir sehr ähnlich sieht. Also hat sie auf den ersten Strampler 'Rokkolito' geschrieben. Ich fand die Idee süß."

"Die Idee ist wirklich süß", meinte Rokko und bekam einen etwas melancholischen Blick. So viel Freude es ihm machte, die Fotos anzusehen, so sehr schmerzte es ihn, dass er all das nicht selbst erlebt hatte. Sie blätterten noch durch viele Fotos und Lisa erzählte ihm Geschichten von Janoschs ersten Schritten, von seinem zweiten Wort ("Rokko"), von seinem Versteck im Garten von Lindsay, von ihren Freunden in Toronto und von Janoschs Kindergarten. Als die Uhr im Flur 2 Uhr schlug, erschraken sie sich, dass es schon so spät war. Rokko wollte nach Berlin fahren, aber Lisa bat ihn, doch noch bis morgen in Göberitz zu bleiben. Auf der Couch wäre genug Platz und morgen wäre auch Bruno da, der ihn unbedingt kennenlernen wollte. Rokko willigte ein, denn er war wirklich zu müde, um jetzt noch Auto zu fahren. Lisa gab ihm eine Decke und ein Kissen und zog die Couch im Wohnzimmer für ihn aus.

"Gute Nacht", wünschte sie ihm und fügte dann noch "und Danke für das Gespräch", hinzu.

"Gute Nacht, Lisa", wünschte ihr Rokko und sah ihr nach, wie sie die Treppen hinaufstieg und in ihrem alten Zimmer verschwand, in dem Janosch bereits seit Stunden schlummerte und hoffentlich nichts von all dem ahnte, was seine Eltern in den vergangenen Jahren durchlebt hatten.