Rokko erwachte von einem warmen etwas, das sich an ihn gekuschelt hatte. Er öffnete seine Augen und sah in das strahlende Gesicht von Janosch.
"Papa!" rief er fröhlich aus und schlang seine kleinen Arme um Rokkos Hals. Der strahlte genau so wie sein Sohn und hielt ihn ganz fest.
"Guten Morgen, mein kleiner Pirat", begrüßte ihn Rokko mit noch rauher Stimme. "Ist sonst schon jemand wach? Oder hast du dich einfach hinunter geschlichen?"
"Mama ist wach."
"Ach? Und wo ist sie?"
"Hier", sagte Lisa leise und nahm die letzten zwei Stufen auf einmal. Sie trat an die Couch heran und musste unweigerlich lächeln, als sie Rokko und Janosch aneinander gekuschelt sah. "Tut mir leid, dass er dich geweckt hat. Er sollte eigentlich auf mich warten."
"Schon gut", lächelte Rokko und wollte aufstehen.
"Nein, nein, Papa", protestierte Janosch und hielt ihn fest. "Du musst mir erst eine Geschichte vorlesen."
"Du wolltest mir doch beim Frühstück machen helfen, du Held", lachte Lisa und sah Janosch gespielt empört an.
"Na gut", seufzte der Kleine und tapste hinter seiner Mama in die Küche. Rokko sah ihnen nach und musste lächeln. Als er die Decke zurückschlug, um aufzustehen, fiel sein Blick auf einen kleinen gelben Minigolfball. Er nahm ihn auf und hielt ihn sich vors Gesicht. '8.3. 2006' stand darauf. Rokko musste nur kurz überlegen, bevor er wusste, dass es der Tag gewesen war, an dem er Lisa mit auf dem Minigolfplatz genommen und ihr seine Liebe gestanden hatte. Er reckte sich ein wenig um sehen zu können, was sie und Janosch in der Küche machten. Es roch nach Eierkuchen und frischem Kaffee. Rokko hatte ein wohlig-warmes Gefühl im Bauch, was daher kam, dass er wusste: in der Küche standen sein kleiner Sohn, den er über alles liebte und Lisa - die Frau, die er wohl immer noch liebte und die ihn... ja, auch liebte? Hatte sie das am vergangenen Abend gesagt? Rokko fuhr sich durch die Locken und schwang seine Beine auf den Teppichboden. Er stand etwas unschlüssig vor der ausgezogenen Couch und seinen Piratenklamotten. Warum hatte er nicht daran gedacht, sich Wechselsachen mitzurbringen? Er hatte ja nicht damit gerechnet, dass er länger in Göberitz sein würde. Eigentlich hatte er nur Janosch herbringen wollen. Rokko seufzte und hob sein Kostüm vom Boden auf. Gerade wollte er damit im Bad verschwinden, als Lisa sich hinter ihm räusperte.
"Ja?" fragte Rokko, als er sich umgedreht hatte.
Lisa stand unschlüssig in vor ihm, bis sich auf die Lippen, sah sich mehrfach um. "Ich.. ich habe noch deine Strickjacke hier. Falls du die vielleicht gern hättest." Rokko sah sie fragend an und versuchte zu verstehen, was sie meinte. Lisa zog ihre Hände hinter ihrem Rücken hervor und streckte Rokko die grau-rote Strickjacke entgegen. Er wusste wieder, wann er sie ihr gegeben hatte. Rokko musste schlucken. Er konnte Lisa nicht in die Augen sehen, als sich ihre Finger bei der Übergabe berührten. "Ich hab sie in meinem Schrank gefunden, als ich aus Kanada zurück war. Die Jacke war noch immer da." Rokko nickte und verschwand im Badezimmer, während Lisa tief druchatmete und wieder zurück in die Küche ging.
Als Rokko aus dem Bad zurückkam, hörte er ein fröhliches "Hallo!" aus der Küche. Lisa wurde durch die Luft gewirbelt und fest umarmt. Rokko blieb in der Tür stehen und sah nun, wie der junge Mann den kichernden Janosch in die Luft hob und ausrief "Woah, mein kleiner Janosch ist ein Riese!"
"Nein, ein Pirat!" antwortete Janosch lachend.
"So, so, ein Pirat?" fragte der Mann mit einem Schmunzeln.
"Ja, Rokko und Janosch waren gestern als Freibeuter unterwegs", lächelte Lisa und nickte in Richung Tür.
"Rokko?" fragte der Mann nun mit einem noch breiteren Schmunzeln und wandte sich zu ihm um. Er setzte Janosch ab und ging auf Rokko zu. "Bruno Plenske, Lisas Bruder", stellte er sich vor und reichte Rokko seine Hand. "Und du musst der berühmte Robert Konrad Kowalski sein. Ich hab ja schon viel von dir gehört", grinste Bruno und fing sich einen kleinen Schlag auf dem Oberarm von Lisa ein. "Wolltest du etwas sagen, Schwesterchern?" wandte er sich wieder an sie.
"Nein, aber du könntest dir zur Abwechslung mal überlegen, lieber nichts zu sagen", drohte sie ihm mit einem Augenzwinkern.
"Na, es freut mich jedenfalls dich endlich kennenzulernen", meinte Bruno nun wieder an Rokko gewandt.
Der lachte erleichtert auf. "Da freu ich mich doch auch."
Nach dem Frühstück, dass man in fröhlicher Stimmung eingenommen hatte, begaben sich Bernd und Bruno nach draußen, um an ihren Mopeds rumzuschrauben. Rokko kam auf Brunos Einladung hin mit. Erst hatte er gezögert, denn Bernd musterte ihn weiterhin mit Misstrauen, aber Lisas Bruder war so offen und freundlich, dass Rokko doch mitgekommen war. Seit seiner Jugend hatte er eine Schwäche für Mopeds und das von Bruno war ein Traum: eine alte Simson, aber noch sehr gut erhalten. Bei dem Auspuffproblem konnte Rokko sogar helfen und war froh, Bernd endlich mal beweisen zu können, dass man sehr wohl mit Rokko Kowalski Pferde steheln konnte.
Schon bald gesellte sich Janosch zu ihnen und wich seinem Papa nicht mehr von der Seite. Er verfolgte sehr genau, was Rokko an Brunos Moped schraubte, während sich Bruno und Bernd mit Bernds Zweisitzer beschäftigten. Janosch legte sich genauso hin wie Rokko und guckte fachmännisch in den Auspuff. Als sie sich nach getaner Arbeit die Hände abwischten, grinste Bruno die beiden an. "Janosch sieht dir tatsächlich sehr ähnlich", stellte er fest. "Lisa hatte recht."
Janosch grinste stolz und ließ sich von seinem Papa auf den Arm nehmen, der dann mit ihm auf Bruno zu ging. Dann ließ er ihn runter und schickte ihn zu Opa Bernd, der im Schuppen zu tun hatte.
"Habt ihr euch ausgesprochen?" fragte Bruno leise und sah zum Küchenfenster. Er war froh, dass Lisa nicht mitbekam, dass sie sich allein unterhielten.
"Ja, Lisa hat mir alles erklärt letzte Nacht. Wir haben lange gesprochen." Rokko blickte wieder in die neblige Weite, die sich an diesem Herbsttag vor ihm erstreckte.
"Und.. seid ihr wieder...?" Bruno sprach nicht zu Ende, aber Rokko ahnte, was er wissen wollte.
"Wir sind nicht."
"Aber du liebst sie doch noch?"
"Woher weißt du-?" Rokko war erstaunt, dass Bruno genau zu wissen schien, was in ihm vorging.
"Ich hab euch beobachtet. Ständig guckt einer den anderen an - aber selten zur gleichen Zeit."
Rokko schüttelte den Kopf. "Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Ob wir je wieder zusammen sein werden, steht in den Sternen."
Bruno nickte. Im gleichen Moment kamen Janosch und Opa Bernd mit einem Fußball zurück aus dem Schuppen.
"Na, kleines Spielchen?" fragte Bernd und warf Bruno den Ball zu.
Schon hatten sie sich positioniert: Bruno und Bernd gegen Janosch und Rokko. Das Spiel kontne beginnen!
Derweil waren Lisa und Helga ind er Küche beschäftigt. Sie hatten noch etwas vom Kürbis vom Vortag übrig und hatten sich dazu entschlossen einen Kürbiskuchen zu backen. Der Kuchen war im Ofen und Lisa stellte sich ans Fenster, um besser sehen zu können, was draußen vor sich ging. Unbemerkt hatte sich Helga neben sie gestellt.
"Du, Lisa, der Herr Kowalski und du... geht da wieder was?"
"Mama, was soll denn bitteschön "gehen"?"
"Na, du weißt schon. Immerhin ist er Janoschs Vater... und ihr seht so süß zusammen aus."
Lisa seufzte. "Weißt du, Mama, ich liebe ihn sehr. Aber ich weiß nicht, ob er mich noch lieben kann. Das hat er gesagt. Aber das ist auch nicht schlimm. Ich würde es ja verstehen. Ich bin nur so glücklich darüber, dass er und Janosch sich schon so gut verstehen. Es ist so, als wäre Rokko von Anfang an da gewesen."
"War er das nicht auch in gewisser Weise?"
"In gewisser Weise schon, ja..." Lisa sah aus dem Fenster und musste lachen. Rokko und Janosch spielten Fußball gegen Bernd und Bruno. Gerade hatte Janosch ein Tor geschossen und Rokko lief auf ihn zu, nahm ihn hoch und warf ihn in die Luft, um ihn dann wieder aufzufangen. Janosch kiekste vor Freude und umarmte seinen Papa fest. Immer noch mit Janosch auf dem Arm drehte sich Rokko zum Fenster und sah, wie Lisa sie beobachtet hatte. Lisa applaudierte lächelnd und Rokko und Janosch bedankten sich mit einer Verbeugung.
Den Nachmittag verbrachten noch alle bei Kuchen und Tee in Göberitz. Bald danach verabschiedeten sich Rokko, Lisa und Janosch und fuhren gemeinsam nach Berlin zurück. Während die Erwachsenen meist schweigend nebeneinander saßen, plapperte Janosch den ganzen Weg nach Berlin fröhlich drauflos und seine Eltern mussten schmunzeln über so viel ehrliche kindliche Freude.
Als Rokko sie an Lisas Wohnung absetzte, flüsterte Janosch ihm noch etwas ins Ohr. Er musste grinsen und nickte. Erst danach war sein Sohn bereit ihn ziehen zu lassen. Lisa winkte und drehte sich dann um, um die Tür aufzuschließen. Nach einem so turbulenten Morgen und Nachmittag war Rokkos Wohnung an diesem Abend noch einsamer als sonst und er wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Lisa und Janosch endlich vollkommen glücklich sein zu können. Wenn es doch nur nicht mehr so weh tun würde...
