Kapitel 10
Lisa hatte nicht erwartet, dass Rokko ihr sofort am darauf folgenden Tag einen Heiratsantrag machen würde. Aber sie hatte auch nicht seinen fast totalen Rückzug erwartet. Natürlich holte er weiterhin Janosch am Nachmittag vom Kindergarten ab. Und natürlich kümmerte er sich weiterhin liebevoll um seinen Sohn. Aber er verschwand nun meist noch schneller, als er es zuvor getan hatte. Ein Lächeln, ein Winken, manchmal noch ein "Wie geht's?" oder "Schönen Abend noch", dann war er weg. Lisa wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sollte sie das überhaupt? Sollte sie nicht vielmehr gar nichts tun und abwarten? Sie war einen großen Schritt auf ihn zugegangen und hatte ihm ihre Hand gereicht. Sie konnte ihn ja wohl kaum zwingen, sie auch anzunehmen. Vielleicht hatte er einfach viel zu tun. Immerhin konnte er sich seine Arbeitszeit frei einteilen. Lisa hatte ihm gesagt, dass er sie immer anrufen könnte, wenn er einen wichtigen Termin hatte, doch tat er es nie. Rokko war jeden Nachmittag pünktlich da. Und jeden Abend löste ihn Lisa pünktlich ab.
Eines Abends jedoch, es war Mitte November, kam Lisa nicht nach Hause. Rokko hatte zunächst vermutet, dass sie einfach länger arbeiten musste. Das Weihnachtsgeschäft war in vollem Gang. Wer weiß, was noch auf sie zugekommen war. Aber als sie nach zwei Stunden noch nicht mal angerufen hatte, um zu sagen, dass sie später kommen würde, da begann Rokko sich Sorgen zu machen. Janosch war längst im Bett und Rokko hätte am Laptop noch die neue Kampagne für Haribo erstellen sollen. Statt dessen lief er wie ein Tiger im Käfig auf und ab, sah immer wieder aus dem Fenster, versuchte Lisa zu erspähen und schreckte bei jedem Mucks auf, weil er glaubte, es wäre Lisa, die den Schlüssel in der Tür drehte.
Nach einer weiteren Stunde, es war bereits 22 Uhr, nahm er das Telefon zur Hand. Er wählte aus dem Kopf Lisas Nummer bei Kerima, doch niemand nahm ab. Dreimal versuchte er es. Wütend warf er das Telefon auf die Couch. 'Lisa, wo bist du nur?' Vielleicht hatte sie einen Außentermin... Oder ein Date, von dem sie ihm nichts erzählt hatte. Rokko verdrängte den Gedanken sofort wieder, dachte lieber darüber nach, wo er Lisas Handynummer hatte. Als er sie gefunden und auch diese mehrfach zwecklos gewählt hatte, fasste er einen neuen Plan. Er würde Janosch zu Yvonne und Max bringen und dann nach Lisa suchen. Als er gerade deren Nummer heraus suchte, klingelte das Telefon.
"Bei Plenske, hallo?" meldete er sich und erstarrte, als sich am anderen Ende eine Schwester aus der Charité meldete. Lisa war im Krankenhaus, doch bestand kein Grund zu großer Besorgnis. Sie würde bald zu Hause sein und hatte die Schwester gebeten, bei ihm anzurufen. Rokko drückte das Telefon aus und ließ sich auf die Couch sinken. Lisa im Krankenhaus - aber sie würde bald zu Hause sein. Also dürfte es nicht zu dramatisch sein. Allerdings würde er Lisa auch zutrauen mit einem gebrochenen Bein die Treppen bis zur Kuppel vom Berliner Dom erklimmen zu wollen, nur um keine Schwäche zu zeigen. Er seufzte und wählte die Nummer von der Charité. Nachdem er dort bescheid gegeben hatte, dass Frau Plenske doch bitte auf ihn warten möge, zog erst seinen eigenen Mantel an und holte dann Janoschs Wintermantel, packte den Kleinen warm ein und trug ihn zu seinem Auto. Er schnallte ihn auf dem Kindersitz fest und fuhr los zur Charite, von der ihn gerade mal wenige Kilometer trennten. Er parkte davor und nahm Janosch auf den Arm. Rokko schlug den Weg zur Notaufnahme ein. Mit schnellen Schritten war er schon bald dort angelangt.
"Ein Notfall?"
Rokko versuchte über Janoschs Lockenkopf hinweg zu erspähen, woher die schroffe Frage gekommen war. "Nein, nein, kein Notfall. Ich bin auf der Suche nach Elisabeth Plenske. Sie muss hier sein. Wo kann ich sie finden?"
"Sind Sie der Ehemann?"
Die Schwester musterte ihn mit ihren funkelnden Augen.
"Ich.. ja... Ja, ich bin der Ehemann. Wo ist meine Frau?" log Rokko ein bisschen, weil er befürchtete ohne die Lüge weggeschickt zu werden.
"Ich sage Frau Plenske bescheid. Sie müsste gleich soweit sein. Sie warten hier."
Schon war die Krankenschwester verschwunden, ohne dass Rokko sie hätte fragen können, was Lisa denn nun eigentlich fehlte. Resignierend ließ er sich auf einen der Stühle sinken und zog Janosch ein wenig fester an sich. Er schlief noch immer tief und fest und ließ sich von alledem gar nicht stören. Rokko strich sanft über Janoschs Locken und ließ seinen Blick immer wieder zu der Tür schweifen, durch die die Krankenschwester verschwunden war. Doch irgendwann übermannte ihn die Müdigkeit. Seine Augen fielen zu. Es war, als hätte er nur einen Moment geschlafen, als er sanft geweckt wurde.
"Rokko, Rokko, wach auf", hatte jemand leise in sein Ohr geflüstert.
Er war aufgeschreckt und sah nun direkt in Lisas Augen. Sie hockte neben ihm. Ihm fiel wieder ein, wo er war und warum
"Lisa, was ist passiert?" fragte er besorgt und richtete sich in seinem Stuhl auf. Janosch hatte sich fest an ihn geklammert, um nicht von seinem Schoß zu rutschen. Langsam stand Rokko auf und betrachtete sie von oben bis unten.
Lisa hielt ihre rechte Hand hoch, um die ein Verband geschlungen war. "Verstaucht. Es tut mir leid, ich wollte eher anrufen, aber-"
"Ssshhh, es ist okay. Lass uns erst mal nach Hause fahren, ja?" Rokko hatte kurz eine Hand beruhigend auf ihre Schulter gelegt und sanft darüber gestrichen. Dann hatte er Janosch auf seine Hüfte gesetzt und Lisa die Tasche abgenommen. So gingen sie schweigend neben einander zu Rokkos Auto. Schnell waren sie an Lisas Wohnung, wo Rokko sein Auto parkte und Janosch und Lisa nach oben brachte. Während Lisa sich erschöpft auf die Couch fallen ließ, brachte Rokko wieder Janosch ins Bett, zog ihm den Wintermantel vorsichtig aus, deckte ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er selbst hängte seinen Mantel an die Garderobe. Lisa hatte ihre Augen geschlossen, als er ins Wohnzimmer kam. Er setzte sich neben sie auf die Couch und blickte sie sorgenvoll an.
"Lisa, kann ich dir was bringen? Hast du schon was gegessen? Möchtest du etwas trinken?"
Langsam öffnete Lisa ihre Augen. Auf ihren Lippen war ein trauriges Lächeln. "Ich würde gern eine Banane essen, vielleicht einen Tee trinken. Aber, wenn du gehen musst, ich kann mir das auch allein machen. Wirklich."
"Lisa", Rokko legte ihr wieder eine Hand auf die Schulter und streichelte sanft über ihren Rücken. "Ich bin hier. Du ruhst dich jetzt aus. Lass mich mal machen." Er schenkte ihr noch ein Lächeln, bevor er in der Küche verschwand. Lisa hörte, wie er den Wasserkocher startete und Geschirr aus dem Schrank nahm. Ihr wurde bewusst, wie groß der Platz war, den er in ihrem Leben hatte. Lisa seufzte, als Rokko gerade wieder das Wohnzimmer betrat. Er setzte sich wieder neben sie und stellte das Tablett auf dem Tisch ab.
"Lisa, ist alles okay?"
Lisa nickte nur. Sie hatte noch ihren Mantel an und wollte ihn ausziehen. Rokko war sofort zur Stelle und half ihr ganz sanft dabei, immer darauf bedacht, bloß nicht ihr rechtes Handgelenk zu berühren. Rokko strich ein paar lose Strähnen aus Lisas Gesicht, nahm dann den Teller mit der Banane und reichte ihn ihr. Lisa starrte darauf und musste lächeln. Auf ihrem Teller war ein Smilie aus Bananenstückchen gelegt. Lisa hatte Tränen in den Augen.
"Du bist so süß."
Rokko lächelte. "Eigentlich sollte dich das nicht zum Weinen bringen... hast du Schmerzen?"
"Nein, es geht. Ich habe Schmerzmittel bekommen." Lisa stopfte sich ein Stück Banane in den Mund und kaute langsam.
"Was ist passiert?"
"Ich war in Gedanken und bin gestolpert. Du kennst mich ja: die tollpatschige Lisa. Ich hatte meine Tasche im linken Arm und hab mich nur mit der rechten Hand abgefangen. Der Arzt sagt, ich hatte Glück. Ich weiß nur nicht, ob ich mich selbst für so glücklich halte...Rokko, ich wollte sofort hier anrufen, aber mein Handy hat's bei dem Sturz auch erwischt. Und im Krankenhaus wollten sie mich erst untersuchen. Es tut mir leid, wenn ich dir dadurch Schwierigkeiten gemacht habe. Du hättest mich nicht abholen müssen. Ich hätte auch mit dem Bus kommen können. Ich-"
"Lisa, es ist okay." Rokko hatte ihren Redeschwall verfolgt und nicht gewusst, ob sie irgendwann aufgehört hätte. Wieder streichelte er über ihren Rücken, zog kleine Kreise, sah sie eindringlich an. "Ich habe mir nur Sorgen gemacht, als du nach zwei Stunden noch nicht hier warst."
"Du hast dir Sorgen gemacht?"
Rokko nickte. Sie sahen sich eine Weile an. Dann ließ Lisa ihren Kopf auf seine Schulter gleiten, flüsterte noch "Halt mich" und Rokko zog sie enger an sich, legte seine Arme um sie, während Lisa ihren linken Arm um ihn schlang. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, als Rokko über ihre Haare strich. Später brachte er sie ins Bett und legte sich selbst auf die Couch. Lisa hatte ihn noch gefragt, ob er bleiben könnte und Rokko hatte zugestimmt. Er wollte für sie da sein, wenn sie am nächsten Morgen erwachte.
