Die Sonne hatte Lisa geweckt. Sie hatte so lange ihre Nase gekitzelt, bis Lisa endlich ihre Augen geöffnet hatte. Das erste, was sie sah, war Rokko, der mit dem Rücken zu ihr nach Sachen für Janosch suchte. Er hatte den Schrank geöffnet, griff zielsicher nach einem Paar braunen Cordhosen und dem hellblauen Pulli und war dabei so still, dass wirklich kein Geräusch zu ihr drang. Als er den Schrank geschlossen hatte und sich zu ihr umdrehte, erschrak er leicht.
"G-Guten Morgen", lächelte er und zeigte die Sachen hoch. "Ich hab nur-"
"Guten Morgen, Rokko", strahlte Lisa.
Sie hörten wie die Badtür klappte und ein aufgeregter Janosch kam ins Schlafzimmer gerannt.
"Mama, Papa ist hier!" jubelte er schon von weitem und Lisa musste grinsen.
"Ich weiß, mein Schatz."
Rokko konnte Janosch gerade noch davon abhalten aufs Bett zu hüpfen. Er umfasste ihn mit einem Arm und nahm ihn hoch. "Janosch, ich hab dir doch erzählt, dass du Mama nur ganz vorsichtig umarmen darfst. Okay?"
Janosch nickte eifrig. Rokko ging drei Schritte auf Lisas Bett zu und setze sich mit Janosch auf die Bettkante. Lisa hielt ihren linken Arm auf und Janosch krabbelte zu ihr. Er kuschelte sich eng an seine Mama, die er ja am Abend zuvor nicht gesehen hatte. Rokko betrachtete die beiden mit einem Schmunzeln.
"Wie geht's dir?"
"Es ziept ein bisschen. Vielleicht ist der Verband zu eng. Aber sonst ist es okay - ich hab mich ja noch nicht bewegt." Lisas Stimme war noch schlaftrunken.
"Lass mal sehen."
Rokko rutschte näher an sie heran und nahm ihren Arm sanft in seine Hände. Leicht ließ er seine Finger über ihr verbundenes Handgelenk streichen, schob dann sanft einen Finger unter den Verband und testete, ob er zu straff saß. Schließlich legte er Lisas Arm wieder vorsichtig ab.
"Besser?"
Lisa nickte lächelnd.
"Gut. Janosch, komm, ich mach dich fertig, und dann machen wir Frühstück."
Sofort sprang der Kleine auf und die Arme von seinem Papa. Schnell war er angezogen und während er schon auf dem Weg in die Küche war, legte Rokko noch den Schlafanzug zusammen.
Rokko wollte gerade das Schlafzimmer verlassen, als Lisa ihn zurückhielt.
"Rokko?"
"Ja?" er drehte sich zu ihr um.
"Danke."
Rokko ging wieder zu ihr, setzte sich neben sie. "Lisa, ich bin für dich da. Hast du gehört? Ich geh jetzt Frühstück machen. Aber wenn du Hilfe brauchst, kannst du mich rufen. Okay?" Er strich sanft über ihre Haare. Dann stand er auf und verschwand aus dem Schlafzimmer.
Beim Frühstück kümmerte sich Rokko abwechselnd um Lisa und um Janosch: Erst schmierte er ein Brötchen mit Nutella für Janosch, dann eins mit Käse für Lisa. Nach dem Frühstück, Janosch spielte schon in seinem Zimmer, machte Rokko sich daran, den Tisch abzuräumen. Lisa wollte ihm helfen. Sie wollte nicht ganz hilflos rumsitzen. Mit ihrer linken Hand nahm sie die Margarine und wollte sie in den Kühlschrank stellen. Doch als sie den Kühlschrank öffnen wollte, fiel ihr die Margarine herunter. Rokko drehte sich bltizschnell um, als er es hörte und ging zu ihr.
"Nicht mal das kann ich mehr." Lisa ließ ihren Kopf hängen. Sie atmete unruhig. Rokko hob die Schachtel vom Boden auf und stellte sie weg. Er griff nach Lisas linker Hand und drückte sie fest, zog sie schließlich an sich heran. Lisa ließ ihren Kopf auf seine Schulter fallen. Sie war so erschöpft, so müde. Rokko so nah zu haben, seine Mischung aus Aftershave und Seife einzuatmen, war schwierig für Lisa, aber seine Nähe tat ihr gut. Rokko löste die Umarmung schon bald wieder auf und sah sie lange an.
"Soll ich für die nächsten Tage hier bleiben?"
"Wäre das okay für dich?"
"Man soll eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantworten, Frau Plenske." Rokko schmunzelte, was Lisa auch wieder ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
"Lieber Herr Kowalski, ich fänd es schön, wenn sie in den nächsten Tagen mein bescheidenes Heim mit ihrer Anwesenheit beehren könnten." Lisa sah ihn dankbar an, fuhr dann ernster fort: "Ich brauche dich."
"Okay. Dann gehst du jetzt erst mal ins Wohnzimmer, ruhst dich noch ein bisschen aus. Danach rufen wir bei deinen Eltern und bei Kerima an. Ich geh dann nur kurz nach Hause und hole ein paar Sachen. Aber erst mal muss Janosch in den Kindergarten. Gegen Mittag bin ich dann wieder da. Wenn was ist, meine Handy-Nummer hast du."
Der Plan stand fest. Rokko würde für eine Woche bei Lisa einziehen. Rokko erzählte Janosch davon, als sie auf dem Weg in den Kindergarten waren. Er fand es großartig, schon morgens seinen Papa begrüßen zu dürfen. Als er hörte, dass Rokko auch in den nächsten Tagen noch bei ihnen wohnen würde, konnte er nicht mehr aufhören zu strahlen. Mit einem dicken Schmatzer verabschiedete er sich von Rokko und verschwand eilig im Gruppenraum, um seinem besten Freund zu erzählen, dass auch sein Papa jetzt endlich bei ihm wohnte.
In den nächsten Tagen durfte sich Lisa vor allem ausruhen, während Rokko sich vorbildhaft um den Haushalt kümmerte. Seine Arbeit erledigte er abends vom Laptop aus, aber auch nur das, was dringend sein musste. Andere Aufträge hatte er anch hinten verschieben können. So war er ganz für Janosch und Lisa da.
Wenn Lisa sich morgens angezogen hatte und auf ihren Hocker saß, um sich die Haare zu kämmen, kam Rokko, und nahm ihr die Haarbürste ab. Sie protestierte dann immer ein wenig, aber sie sah auch ein, dass man nur mit der linken Hand schlecht durch ihr dickes Haar kam. Und wenn Rokko zum Abschluss ihre Haare sanft in seine Hände nahm und ganz sachte mit der Bürste kämmte, dann durchlief Lisa ein wohliges Kribbeln. Sie hätte ewig so sitzen können, doch war es immer viel zu schnell vorbei. Wenn Rokko schließlich einige Strähnen zusammen genommen und mit einer Spange an ihrem Hinterkopf festgesteckt hatte, dann lächelte sie ihn im Spiegel an. Rokko lächelte zurück, verließ dann aber immer schnell das Schlafzimmer unter irgendeinem Vorwand und Lisa blieb allein zurück.
Am Samstag Morgen wurde Lisa durch ein Kinderlied geweckt, das laut aus Janoschs Zimmer schallte. Als sie aufstand, kamen ihr auch schon Rokko und Janosch tanzend entgegen und sie wurde mitgerissen. Lachend tanzten die drei durch die Wohnung, Janosch bald auf Rokkos Arm, Lisa an Janoschs Hand - alle noch in ihren Pyjamas.
"Warum tanzen wir denn heute Morgen?" lachte Lisa.
"Wir feiern Janoschs Halbgeburtstag."
"Halbgeburtstag?"
"Ja, Halbgeburtstag. Da es heute auf den Tag noch 6 Monate bis zu Janoschs Geburtstag sind, feiern wir heute seinen Halbgeburtstag", grinste Rokko. Er ließ Janosch runter und der Kleine stürmte zurück in sein Zimmer, um ein paar Ballons zu holen. Lisa hielt sich vor Lachen den Bauch. Ihre blauen Augen strahlten. "Du trägst den Schlafanzug", stellte er plötzlich ruhig lächelnd fest und beide wussten, welcher Schlafanzug gemeint war. Dann lachten sie wieder, als Janosch mit den Luftballons zurückkam und seinen Eltern beiden einen in die Hand drückte, um sie aufzublasen.
Den Tag verbrachten sie erst mit wildem Piratenputzen, was bedeutete, dass Janosch und Rokko mit Tüchern auf dem Kopf die Wohnung putzten und schließlich eine Höhle zwischen Janoschs Bett und Schrank bauten. Am Nachmittag waren alle drei auf den Spielplatz gegangen und waren dann von Bernd und Helga mit Kuchen überrascht worden. Nachdem sie am Abend gegangen waren, hatte Janosch darauf bestanden, mit seinen Eltern noch einen Trickfilm zu gucken. Er hatte sich für "Shrek" entschieden. Und während Janosch schon zur Hälfte des Films auf dem Sessel in seine Lieblingsdecke gekuschelt eingeschlafen war, lag Lisa auf der Couch, ihr Kopf in Rokkos Schoß, und musste grinsen, weil sie sich daran erinnerte, wie sie Rokko einmal gestanden hatte, sie fühle sich wie Prinzessin Fiona aus "Shrek". Rokko strich sanft durch ihre Haare und fand, dass er Shrek gar nicht so unähnlich war.
Nach einer Woche war Lisas Handgelenk wieder so weit verheilt, dass sie keine Hilfe mehr im Haushalt brauchte. Rokko zog wieder aus, was Janosch nicht verstehen konnte. Er weinte bitterlich, als er sah, wie Rokko seine Tasche packte. Auch die Versicherungen von Lisa und Rokko, dass sein Papa ihn doch jeden Tag besuchen würde, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Wütend stapfte Janosch in sein Zimmer und verkroch sich in der Höhle, die er am Tag seines Halbgeburtstags mit Rokko gebaut hatte.
Lisa hätte Rokko auch gern weiterhin bei sich gehabt. Seufzend setzte sie sich auf den Boden neben ihn.
"Er wird sich beruhigen", sagte Lisa und atmete tief durch. "Es war schön in der letzten Woche."
"Ja."
Lisa nahm all ihren Mut zusammen, um ihm die Frage zu stellen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, seit Rokko bei ihnen wohnte. "Möchtest du vielleicht... also, kannst du dir vorstellen, für immer-"
"Lisa, ich weiß es nicht. Gib mir noch Zeit, ja?"
Lisa nickte und schluckte die Tränen runter. Sie hatte insgeheim gehofft, dass er sie immer noch liebte. Hatte gedacht, dass es ihm ebenso gut tat, zusammen zu leben. Hatte davon geträumt, wie es wäre, für immer mit ihm zusammen zu sein, ihn endlich wieder zu küssen und in seinen Armen einzuschlafen. Sie waren sich so nah gekommen in der vergangenen Woche - und Rokko zog sich wieder zurück. Lisa glaubte, dass es die gerechte Strafe dafür war, dass sie ihn so oft hatte zappeln lassen. Aber sie wünschte sich, dass er bald wissen würde, ob er sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr und Janosch noch vorstellen wollte.
Rokko war noch einmal in Janoschs Zimmer gegangen, um sie von ihm zu verabschieden. Lisa war im Wohnzimmer geblieben, aber sie hatte gehört, wie Janosch auf Rokko zugelaufen war, um ihn zu umarmen. Als Rokko wiederkam, hatte er Tränen in den Augen. Lisa stand unsicher vor ihm, als sie ihn zur Tür gebracht hatte und sah kaum auf. Sie bedankte sich noch mal bei ihm für die große Hilfe. Und die schöne Zeit.
"Also bis morgen", hatte sich Rokko mit einem Winken verabschieden wollen, hatte Lisa dann aber doch in seine Arme gezogen und an sich gedrückt. Lisa hatte beide Arme um ihn geschlungen und wollte ihn am liebsten nicht mehr loslassen. Doch sie wusste, dass sie ihn gehen lassen musste. Inständig betete sie, er würde bald zurückkehren.
