Die zwei Wochen nach seinem Wiederauszug vergingen schnell. Einen Monat vor Weihachten hatte Rokko viel Arbeit aufzuholen und so nahm er Janosch auch öfter mit zu sich nach Hause, anstatt in Lisas Wohnung zu verbleiben. Er überlegte, ob er Janosch ein Zimmer in seiner eigenen Wohnung einrichten sollte. Es würde vieles einfacher machen. Aber er wollte Lisa nicht weh tun. Diese eine Woche mit ihr und Janosch war ein kleines Stück davon gewesen, wie er sich das Leben mit ihr vor fünf Jahren ausgemalt hatte. Und sie liebte ihn. Warum konnte er sich dann nicht endlich darauf einlassen? Rokko fuhr sich durch die Haare, als das Telefon klingelte.
"Kowalski, hallo?"
Er brauchte nicht den Namen zu hören, um zu wissen, wer am anderen Ende war. Schon das nervöse Seufzen ließ ihn lächeln. "Hallo, Lisa", begrüßte er sie, bevor sie noch etwas gesagt hatte. Lisa lud ihn ein, mit ihr zur Kerima-Adventsfeier zu kommen. Rokko zögerte erst, aber als sie ihm versicherte, dass kaum noch Leute von früher dort waren, abgesehen von Hugo und Sophie von Brahmberg, da sagte er zu. Er würde zwar am nächsten Tag eine Geschäftsreise antreten müssen, doch ließ ihn das nicht die Einladung absagen. Lisa würde gleich dort bleiben und auf ihn warten. Janosch könnten sie einfach mit dorthin nehmen. Alle kannten und liebten ihn und schlugen sich förmlich darum, ihn zu verwöhnen.
Zwei Tage später hatte Rokko Janosch vom Kindergarten abgeholt und war mit ihm zu Lisas Wohnung gegangen, um sich noch umzuziehen. Rokko hatte sich für seinen schwarzen Anzug mit den roten Nadelstreifen, ein schwarzes Hemd und eine schwarze Krawatte entschieden. Lisa hatte für Janosch ein weißes Hemd, einen grünen Pullunder und graue Hosen ausgesucht. Daneben lag noch eine kleine rote Krawatte. Rokko musste lachen, als er sie sah. Als er sie später Janosch umband, tat er das ganz im Rokkostil unter dem weißen Hemd.
"Du siehst ein bisschen aus wie ein Weihanchtsbaum, mein Sohn", lachte Rokko und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
"Ich bin keine Weihnachtsbaum!"
"Nee, bist du nicht. Also, auf zu Mama?"
"Ja!"
Sie zogen sich ihre Stiefel und Mäntel an und stapften los durch den tiefen Schnee, der ganz Berlin seit dem frühen Nachmittag bedeckte. Bei Kerima angekommen wurden sie bereits von fröhlicher Weihnachtsmusik empfangen. Janosch hatte sofort seine Großeltern am Catering entdeckt und war auf sie zugelaufen. Bernd breitete seine Arme aus und empfing seinen Enkelsohn mit seinem tiefen, poltrigen Lachen. Rokko ging ebenfalls zum Catering, wo er Lisas Eltern und Bruno begrüßte.
"Ach, Herr Kowalski, ist das schön, dass sie kommen konnten", strahlte ihn Helga an.
"Ja, ich freu mich auch, mal wieder hier zu sein."
Er guckte sich suchend um.
"Lisa ist in ihrem Büro und wartet auf dich", raunte ihm Bruno zu und grinste ihn dabei an.
"Danke."
Rokko drehte sich noch mal zu Janosch, um sicher zu gehen, dass er bei Helga war und bahnte sich dann seinen Weg durch die Gäste. Er kannte den Weg genau. Wie oft er ihn wohl genommen hatte? Und wie oft ihn 'Frau Plenske' hatte abblitzen lassen: ob es nun geschäftliche Ideen oder eine Einladung zum Kaffee war. Als er vor Lisas Büro angekommen war, sah er, dass nur noch Lisas Schreibtischlampe brannte. Als er durch die Glastür schaute, sah er Lisa am Schreibtisch sitzen und etwas schreiben - oder auch rechnen. Er klopfte an und wartete, bis sie aufsah. Rokko legte seine Hand auf die Klinke und öffnete die Tür. Lisa war derweil eilig von ihrem Schreibtisch aufgesprungen und hatte die Zettel, die sie eben noch beschrieben hatte, weggesteckt.
"Betäubung durch Pythagoras?" fragte Rokko schmunzeld und ging ein paar Schritte auf sie zu.
"Ich kann vor dir wohl gar nichts verstecken, hm?"
"Nein, eigentlich nicht."
Sie standen nur etwa einen halben Meter von einander entfernt und sahen sich lange an. Lisa trug einen dunklen Rock und einen dunklen Blazer. Sie hatten ihre Abendkleidung unwissend aufeinander abgestimmt. Rokko druchbrach die Stille.
"Oh, ich... ich hab noch was für dich."
Er steckte seine rechte Hand in seine Manteltasche, holte einen kleinen Schokoweihnachtsmann hervor und reichte ihn Lisa. Die sah sich den kleinen Weihnachtsmann an und musste grinsen, als sie sah, dass der Weihanchtsmann zwinkerte.
"Danke, das ist sehr süß von dir... Komm, kleiner Weihnachtsmann, du wartest hier bis morgen auf mich."
Lisa stellte ihn neben ihren Bildschirm und wandte sich dann an Rokko, der mittlerweile seinen Mantel abgelegt hatte. Lisa blieb der Atem weg, als sie den dunklen Anzug erkannte.
"Wievielen Frauen willst du heute Abend den Kopf verdrehen?" fragte sie mit einem Schmunzeln, aber nicht ohne ein wenig Eifersucht. Dann knipste sie das Schreibtischlicht aus. Nur noch der Lichtschein vom Flur beleuchtete das Büro.
"Och, mal sehen", schmunzelte er nur und bot ihr seinen Arm an, den sie gern annahm. Gemeinsam betraten sie die Eingangshalle und gingen in Richutng Catering. Janosch kam auf sie zugestürmt und fiel seiner Mama in die Arme.
"Hallo, mein kleiner Schatz", begrüßte ihn Lisa mit einem Kuss. Sie schmunzelte über die Krawatte und sah Rokko kurz an. "Ich nehme an, ihr wollt heute gemeinsam auf Herzbrechertour gehen?"
Rokko zwinkerte ihr zu.
"Kommt, ich mach mal ein Foto von euch!" rief Bruno und holte seine Kamera hervor. "Na, rückt schon ein bisschen näher zusammen."
Rokko nahm Janosch auf seinen rechten Arm und legte seinen linken um Lisas Taille. Sie sahen sich kurz an, blickten dann lächelnd in die Kamera. Helga hätte glücklicher nicht strahlen können in dem Moment und auch Bernd musste zugeben, dass "der polnische Boxer" und sein Schnattchen ein sehr hübsches Paar abgaben. "Vor allem mit dem Kleenen Fratz mittendrin."
"Ach, Bernd... sie sehen so glücklich aus." Helga seufzte. "Wenn sie's doch auch nur wären..."
"Vielleicht sind sie es ja schon", meinte Bruno, der sich grinsend über die Theke lehnte und nach einem Apfel griff. Er sah den dreien nach, wie sie in der Menge verschwanden; Sah dann aber auch, wie Lisa schon nach wenigen Metern wieder von der Neuen aus dem Vorstand mit Beschlag belegt wurde und anschließend von Geschäftspartner zu Geschäftspartner gezerrt wurde. Hugo stand ihr dabei zur Seite und so zog sich Rokko zurück. Ohnehin hätten sie schlecht erklären können, was er genau für sie war. So gesellte er sich bald mit einem Bier zu Bruno und unterhielt sich eine Weile mit ihm über Neues in der Modebranche und Bruno erzählte Rokko von seiner Schusterlehre. Rokko hörte nur mit halbem Ohr hin und war etwas traurig, dass er Lisa nur von weitem sah. Er hätte damit rechnen müssen. Die Chefin war immer sehr gefragt - und Lisa war zu höflich um sich aus dem Staub zu machen. Und so nahm er Fräulein Doreen Vogels Aufforderung zum Tanz an.
Nur etwas später hatte sich Lisa doch losgeeist udn war auf der Suche nach Rokko zum Catering gegangen, wo sie nur ihren Bruder vorfand. Bruno zeigte auf die Tanzfläche, wo Rokko noch immer mit Fräulein Vogel tanzte. Lisa beobachtete die Szene mit Argwohn. Sie war ja selbst schuld. Warum hatte sie ihn auch so lange allein gelassen? Sie blickte ihnen hinterher, wie Rokko die dralle Blondine über die Tanzfläche wirbelte und diese sich offenbar köstlich amüsierte. Sie hätte jetzt dort mit ihm tanzen sollen. Sie hätte sich in seinen Armen wiegen und ihm tief in die Augen blicken sollen. Lisas Miene verfinsterte sich und Bruno musste lachen.
"Entspann dich, Schwesterchen. Es ist doch nur Fräulein Vogel."
'Das schöne, fröhliche Fräulein Vogel', schoss es Lisa durch den Kopf. "Wie lange tanzen sie denn schon?"
"Ach, noch nciht so lange. Eine halbe Stunde vielleicht."
"Eine halbe Stunde?! Oh, ich bin so ein Idiot!"
"Na ja, als Idiot würde ich dich jetzt nicht unbedingt bezeichnen", grinste Bruno, "aber vielleicht als eifersüchtig."
"Ich bin nicht eifersüchtig."
"Ja klar."
"Nein. Bin ich nicht. Ich hab ihn ja gar nicht verdient." Lisa klang traurig. "Soll er doch das Fräulein Vogel glücklich machen." Bruno legte seinen Arm um seine Schwester und drückte sie fest.
"Schwesterherz, ich glaube nicht, dass dein Rokko Augen für irgendeine andere hier hat."
Lisa seufzte. "Wenn du da mal recht hast..."
Das Lied war zu Ende und Lisa war mit wenigen schnellen Schritten bei Rokko und seiner Tanzpartnerin. "Rokko, wenn ich dich vielleicht kurz sprechen könnte?" Lisa sah Fräulein Vogel bedrohlich an.
Rokko lächelte. "Vielen Dank, Fräulein Vogel." Dann wandte er sich wieder Lisa zu. "Endlich fertig mit den Tagesgeschäften?"
"Es tut mir leid. Ich wollte heute Abend nicht über geschäftliches reden. Ich wollte nur.. Ich wollte nur mit dir heute Abend zusammen sein. Und dann kam Uta. Sie ist neu im Vorstand. Und die Geschäftspartner... Aber es gibt nichts, um das wieder gut zu machen, hm?"
"Och, du könntest jetzt mit mir tanzen." Lisa nickte lächelnd, flüsterte ein "Ja!". Rokko nahm ihre rechte in seine linke Hand und legte seine rechte auf ihre Hüfte. Langsam rutschte sie weiter auf Lisas Rücken und Rokko zog Lisa näher an sich. Ihre linke Hand lag auf seiner Schulter und ihre Finger berührten leicht seinen Hals. Sie wiegten sich im Takt der Musik und versuchten auch einige Drehungen. Es war das erste Mal seit fünf Jahren, das sie wieder gemeinsan tanzten. Sie waren wie in Trance. Alles um sie herum verblasste. Nur noch sie beide waren wichtig. Rokkos Herz begann wild zu klopfen, als Lisas Hand den Weg in seine Haare fand und ihn sanft kraulte. Er wiederum zog kleine Kreise mit seiner Hand auf ihrem Rücken. Endlich waren sie an diesem Abend zur Ruhe gekommen - und vor allem: zueinander. Zum ersten Mal an diesem Abend konnten sie ungestört fünf Minuten miteiander verbringen.
Als der Tanz endete, wurden sie aus ihrem Traum gerissen. Langsam lösten sie sich von einander, Rokko verbeugte sich vor Lisa und wollte mit ihr zum Catering gehen, als Bruno an ihnen vorbei tanzend grinsend nach oben zeigte und schnell wieder verschwunden war. Lisa und Rokko erblickten ihn gleichzeitig, den Mistelzweig. Lisa sah beschähmt zu Boden. Sie hatte Rokko nicht in diese Situation bringen wollen, auch wenn sie selbst ihn liebend gern bis zur Besinnungslosigkeit geküsst hätte. Rokko sah sie ernst an, doch Lisa entdeckte ein Glitzern in seinen Augen. Langsam beugte er sich zu Lisa vor. Sie fragte sich, ob er sie wirklich küssen würde. "Alles okay?" flüsterte er und Lisa konnte noch nicken, bevor sie seine weichen Lippen auf ihren spürte. Der Kuss war kurz und süß. Niemand hatte sie gesehen. Doch Rokko und Lisa spürten beide noch das Kribbeln, als sie kurz darauf zum Catering gingen. Den Rest des Abends verbrachten sie gemeinsam mit Janosch bei heißer Schokolade und Helgas berühmten Streuselschnecken. Sie lachten und unterhielten sich über Gott und die Welt. Helga und Bernd hatten sich zu ihnen gesetzt und auch Bruno hatte sich ab und an zu ihnen gesellt. Janosch saß abwechselnd auf Rokkos und auf Bernds Schoß und genoss die Aufmerksamkeit, die er von den Erwachsenen bekam. Ab und an berührten sich Lisas und Rokkos Schultern wie zufällig, strichen ihre Arme aneinander. Sie genossen den Abend sehr, dachten nicht an das, was war und was sein könnte, sondern waren einfach Rokko und Lisa. Und eben Janosch.
Gegen 22 Uhr war der Kleine so müde, dass er auf Bernds Armen einschlief. Also beschlossen sie zu gehen. Rokko hatte seinen und Lisas Mantel aus ihrem Büro geholt, während sie Janosch sanft eingepackt hatte. Rokko brachte die beiden noch nach Hause. Er trug Janosch, der zu müde zum Laufen war. Schweigend gingen er und Lisa nebeneinander, sahen sich von Zeit zu Zeit an und lächelten. In der Wohnung angekommen, ging Rokko sofort mit Janosch ins Kinderzimmer und machte ihn schnell bettfertig. Er legte ihn hin, deckte ihn zu und gab ihm einen Guten Nacht-Kuss. Auch Lisa kam noch schnell ins Zimmer, um Janosch einen Kuss zugeben. Sie strich kurz durch seine dunklen Locken und hob Rokkos Schal auf, der auf den Boden gefallen war. Rokko löschte das Licht und verließ mit Lisa das Zimmer.
"Ich geh dann mal", meinte er und nahm seine Tasche, die noch vom Nachmittag im Flur stand. Lisa ging auf Rokko zu, um ihm den Schal zu geben. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und führte den Schal herum. Für einen Moment ließ sie ihre Hände auf seinen Schultern verweilen. Lisa lächelte. "Es war schön heute Abend. Vielleicht können wir das wiederholen, wenn du wieder da bist."
"Ja, das sollten wir." Rokko nickte langsam und er wusste, dass er es wirklich wiederholen, wusste, dass er sich und Lisa gern eine neue Chance geben wollte. Er bewegte sich noch einen Schritt auf sie zu, schob seine rechte Hand nach vorn, um Lisa näher an sich zu ziehen. Dann lehnte er seine Stirn an ihre. Beider Augen strahlten. Langsam, langsam kamen sich ihre Lippen näher, sanft trafen sie sich. Der Kuss war erst so süß und zart wie der unter dem Mistelzweig einige Stunden zuvor, wurde dann aber fordernder, leidernschaftlicher. Lisa schlang ihre Arme um seinen Hals und Rokko hatte seine Tasche fallen lassen, um Lisa noch fester an sich zu ziehen. Sie hatte eine Hand in seinen Locken vergraben und suchte mit der anderen nach Halt an seinem Oberarm, als ihre Knie weich wurden. So lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, sich danach gesehnt, Rokko zu küssen und in seinen Armen zu liegen. Ihr flüchtiger Kuss von der Feier war ein kleines Versprechen auf mehr gewesen. Sie hätte vor Freude weinen können, als sie sich nun ganz in seinen Armen fallen lassen konnte.
Als sie sich nach einer Weile schwer atmend voneiander trennten, hielt sich Lisa noch an Rokkos Armen fest. "Ich liebe dich", flüsterte sie und bekam ein Lächeln von ihm.
"In zehn Tagen bin ich zurück, dann können wir reden." Rokko beugte sich erneut nach vorn und küsste Lisa noch einmal sanft und kurz zum Abschied, bevor er ihre Wohnung verließ. Ein letztes Mal drehte er sich um und lächelte sie an, dann war er verschwunden. Lisas "Ich liebe dich" hatte er fest in seinem Herzen eingeschlossen und würde es in den nächsten zehn Tagen mit sich nehmen.
Lisa lehnte derweil an der Tür und berührte mit ihren Fingern ihre Lippen, auf denen eben noch Rokkos Lippen gewesen waren. Sie dachte lächelnd an den Abend zurück, der schließlich doch so wundervoll für sie geworden war. Sie sehnte den Moment herbei, wenn sie Rokko in zehn Tagen wiedersehen würde, auch wenn sie nicht genau wusste, was er ihr in zehn Tagen zu sagen haben würde.
