Als Lisa am nächsten Morgen ihr Büro betrat, drehte sie sich ein paar Mal und nahm den kleinen, zwinkernden Schokoweihnachtsmann auf ihre Handfläche, um ihm einen Kuss aufzudrücken. Sie beschloss, dass er sie in den nächsten zehn Tagen an den himmlischen Kuss von Rokko erinnern sollte. Lisas Augen glitzerten, als sie daran zurückdachte: Rokkos weiche, volle Lippen auf ihren, seine Hand... oh, seine Hand auf ihrer Hüfte - wie er sie an sich gezogen hatte; und wie weich ihre Knie geworden waren. Lisa musste über sich selbst lachen. Wie ein verliebter Teenager! Und das mit Anfang 30! Aber Rokko war ihre große Liebe. Und vielleicht würde alles gut werden. Sicher würde er nie vergessen können, wie weh sie ihm getan hatte. Aber Lisa hoffte inständig, dass er ihr vergeben können würde. Sie seufzte und überlegte, was er wohl gerade machte.
Etwa zur gleichen Zeit ließ sich Rokko auf einem Sitz in der Business Class nach Helsinki nieder. Dass er ausgerechnet so kurz vor Weihnachten, also in der dunkelsten Zeit nach Finnland reisen musste und noch viel schlimmer, so kurz vor Weihanchten weg von Janosch und Lisa sein würde, ärgerte ihn schon ein wenig. Aber der Auftrag war zu gut, um ihn nicht anzunehmen - und zu hoch dotiert. Auch ein Rokko Kowalski konnte solch ein Angebot nicht ausschlagen.
Rokko stellte seine Tasche auf dem Platz neben sich ab und zog seinen Mantel aus. Er ließ sich auf seinem Sitz nieder, drückte den Mantel an sich und schaute aus dem Fenster. Er vermisste die beiden jetzt schon, dachte an den vergangenen Abend zurück: an seinen Tanz mit Lisa, das Beisammensein und natürlich an ihren Kuss... Als er die Boardkarte in seine Mantelinnentasche stecken wollte, spürte er, dass etwas darin steckte. Er griff tiefer hinein und zog ein Foto von sich und Lisa - und dem Kuss unter dem Mistelzweig - hervor. Er konnte sich nicht erklären, wie das Foto entstanden war, geschweige denn, wie es in seinen Mantel gekommen war. Wie auch immer er dazu gekommen war, er war dankabr dafür. Mit seinem Daumen fuhr er über Foto-Lisa und lächelte. Und während er noch so da saß, startete das Flugzeug gen Helsinki.
"Guten Morgen, Schwesterchen!"
Bruno hatte nur kurz angeklopft und war in das Büro seiner jüngeren Schwester gestürmt. Er fand sie an ihrem Schreibstisch sitzend und einen Schokoladenweihnachtsmann in den Händen haltend. Sie hatte ihn erst bemerkt, als er sich grinsend auf dem Stuhl gegenüber niedergelassen hatte.
"Guten Morgen, Lieblingsbruder", begrüßte sie Bruno mit einem Lächeln.
"Dann erzähl mal."
"Was?"
"War Rokko Kowalski über Nacht bei dir?"
"Nein", grinste Lisa zufrieden.
"Aber?"
"Aber... er hat mich geküsst. Zum Abschied. Und es war... hach! Es war wundervoll."
Bruno lehnte sich interessiert nach vorn. "Also ist wieder alles in Butter bei euch?"
"Jein. Das weiß ich erst in zehn Tagen."
"Zehn Tage - und so lange willst du jetzt mit diesem leicht debilen Grinsen durch die Firma laufen?"
"Ja."
"Na dann, wir sehen uns nachher. Ach ja", Bruno fasste in seine Jacketttasche. "Das hier ist für dich." Grinsend legte er einen Umschlag auf Lisas Schreibtisch und verschwand aus ihrem Büro. Als Lisa den Umschlag öffnete, fand sie darin ein Foto. Wie Rokko wenige Minuten zuvor hielt sie einen Beweis von ihrem Mistelzweigkuss in den Händen und ihr Grinsen wurde noch breiter. Sie drückte dem Foto-Rokko einen Kuss auf die Wange und klemmte das Foto dann in den Fotohalter, in dem bisher nur ein Bild von Janosch gesteckt hatte. Nun steckten die beiden Fotos nebeneinander und Lisa war glücklich.
Am Abend musste sie noch lange in der Firma bleiben. Mit dem neuen Parfum war Kerima ins Weihnachtsgeschäft eingestiegen und es lief gut. Andererseits hätte sich Lisa gewünscht, wieder viel mehr Zeit für Janosch zu haben. So bekam sie jedenfalls nicht mit, dass Rokko kurz vor Janoschs Bettzeit bei ihr zu Hause anrief. Bruno passte an diesem Abend auf Janosch auf und gab dem Kleinen den Hörer.
"Papa!" schrie Janosch so laut ins Telefon, damit sein Papa ihn auch ganz bestimmt hörte. Janosch wusste, dass Rokko ganz weit weg war.
"Janosch, mein kleiner Liebling. Warst du auch brav heute?"
"Hm-hm." Janosch nickte heftig und Bruno musste lachen. Er saß neben seinem Neffen auf der Couch und hatte noch das Buch in der Hand, das er ihm hatte vorlesen müssen. "Papa, ich vermisse dich."
"Ich bin bald wieder da. Und dann machen wir was ganz tolles, ja?"
"Ja."
Dann erzählte Janosch noch, was er im Kindergarten erlebt hatte und verabschiedete sich mit einem Schmatzer von Rokko. Der drückte seufzend auf den roten Knopf seines Handys und kramte das Foto hervor, was Lisa von ihm und Janosch an ihrem ersten Abend gemacht hatte. Er war so unendlich stolz auf seinen kleinen Sohn, dass ihm jedes Mal das Herz überlief, wenn er Janoschs strahlende Augen sah oder seine fröhliche Stimme hörte, ihn in die Arme schloss und Janosch sich an ihn kuschelte. Er war dankbar für jede Minute, die ihm mit dem Kleinen gegeben war. Rokko überlegte, wie sie wohl Weihanchten verbringen würden. Ob er am Heilig Abend bei ihnen sein würde oder an den Feiertagen. Am allerliebsten natürlich die ganze Zeit über. Er könnte sich zwischen Weihnachten und Neujahr frei nehmen. Aber er wusste ja nicht, was Lisa geplant hatte - und ob sie damit einverstanden war.
Es war zwei Stunden später, als Lisa nach Haus kam, ihren Mantel aufhängte und, während sie ins Wohnzimmer leif, ihr Haar von Schneeflocken befreite. Bruno saß auf der Couch und zeichnete den Entwurf für einen neuen Schuh.
"Rokko hat angerufen", ließ er sie wissen.
Sofort begannen Lisas Augen zu strahlen. "Und? Was sagt er? Ist er gut angekommen? Geht es ihm gut? Braucht er irgendwas?"
"Lisa, bleib doch mal ganz ruhig", grinste Bruno und legte seine Stift beiseite. "Ja, er ist gut angekommen. Und es geht ihm auch gut. Er genießt gerade die finnische Schokolade."
"Und?"
"Was und?"
"Na.. hat er nichts gesagt?"
"Was soll er denn noch gesagt haben?"
"Ich weiß nicht. Irgendwas?"
Bruno schmunzelte. "Er hat nichts für dich hinterlassen, wenn du das wissen willst."
"Nichts?" Lisas Lächeln fiel in sich zusammen.
"Nee. Komm mal her, Schwesterchen." Bruno nahm die nun enttäuscht guckende Lisa in den Arm. "Er hat aber kurz gezögert, bevor er sich verabschiedet hat. Er konnte ja nicht wissen, dass ich von eurem leidenschaftlichen Abend weiß."
Lisa knuffte Bruno in die Seite. "Es war ein Kuss, nicht mehr."
"Heute Morgen klang das aber noch ganz anders."
"Ach, wer weiß. Vielleicht hat er sich ja überlegt, dass das doch nicht so 'ne gute Idee war, mich zu küssen. Das Plenske-Drama brauch er nicht noch mal, das hat er schon zwei mal hinter sich. Und Janosch kann er auch so sehen. Also brauch er mir auch keine Nachrichten zu hinterlassen." Bruno drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Haare und verabschiedete sich dann.
Auch an den folgenden Abenden war Lisa nie zu Hause, wenn Rokko anrief, um Janosch 'Gute Nacht' zu sagen. Und immer wieder hinterließ er keine Nachricht für sie. Nach einer Woche war Lisa zunehmend trauriger. Wenigstens ein 'Hallo' oder einen kleinen Gruß hätte er hinterlassen können. Aber Lisa blieb ohne Gruß. Am Samstag Morgen, acht Tage nach Rokkos Abreise, wurde sie von Janosch geweckt, der in ihr Bett gehopst kam und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
"Der ist von Papa!" sagte er fröhlich und kuschelte sich an sie.
Lisa versuchte ihre Gedanken zu ordnen, doch das wollte ihr nicht so recht gelingen. "Was? Was ist von Papa?"
"Das", sagte Janosch und drückte Lisa noch einen Kuss auf die Wange. "Papa hat gesagt, ich soll dir einen dicken Kuss geben. Weil du warst ja nicht da."
Lisa lag lächelnd in ihrem Bett, den Arm um ihren kleinen Sohn geschlungen und biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu doll grinsen zu müssen, aber auch, um sicher zu gehen, dass es kein Traum war. Sie nahm ihre Brille vom Nachttischchen und setze sie sich auf, um klar sehen zu können. "Sag mal, wollen wir heute mal den Papa anrufen und ihn überraschen?"
"Hihi, ja!" Janosch freut sich schon darauf.
Am Nachmittag nahm Lisa ihr Handy und wählte Rokkos Nummer. Es klingelte einige Male, bevor er endlich ran ging.
"Kowalski, hallo?"
"I-ich bin's. Lisa."
"Lisa." Sie konnte hören, wie er lächelte, doch dann klang er gleich etwas besorgter. "Ist was mit Janosch?"
"Was? Nein. Janosch geht's gut. Er sitzt neben mir. Ich wollte.. ich wollte nur mal hören, wie's dir geht." Beinahe hätte sie gesagt, dass sie nur mal seine Stimme hören wollte. Aber Lisa war vorsichtig.
"Gut. Mir geht's gut. Ich.. ich bin fast fertig hier. Morgen ist noch ein Geschäftsessen, zu dem ich muss. Sonst hätte ich schon heute zurückfliegen können. Ist bei euch alles in Ordnung?"
"Ja, ja, klar. Ich hab mit Janosch Plätzchen gebacken und wir haben die Wohnung dekoriert. Ich weiß, du magst so was ja nicht. Aber es sieht schön aus. Und Janosch war so stolz auf seinen ersten Weihnachtsstern." Lisa gingen unendlich viele Dinge durch den Kopf. So viel hätte sie ihn jetzt fragen wollen, aber alles war unpassend. Dann merkte sie, wie Janosch an ihrem Arm zog. "Ehm, er drängelt schon", lachte Lisa. "Ich glaube, ich muss das Telefon jetzt weiterreichen, sonst gibt es ein kleines Drama. Also, bis Montag?"
"Ja, bis Montag", sagte er ruhig. "Ach, und Lisa?"
"Ja?"
"Ich.. ich freu mich."
"Ich mich auch."
Dann gab Lisa das Telefon an Janosch weiter, der sofort aufgeregt von seinem Tag zu erzählen begann.
Am Montag Morgen rief sie bei Kerima an, um sich für den Tag freizunehmen. Dann informierte sie Janoschs Erzieherin, dass er an diesem Tag nicht in den Kindergarten kommen würde. Sie hatte im Internet nachgesehen, wann die Flüge aus Helsinki landeten. Sie kannte die Fluglinie und die ungefähre Zeit und in wenigen Minuten hatte sie die genauen Daten. Gemeinsam mit Janosch setzte sie sich in ein Taxi und fuhr nach Tegel. Sie wollten Rokko vom Flughafen abholen.
Der Flieger landete pünktlich. Als sich das Gate öffnete, war Rokko einer der ersten, die herauskamen. Er war mit langen Schritten unterwegs zum Ausgang, als Janosch sich von Lisas Hand losriss und ihm mit lautem "Papa! Papa!" entgegenlief. Lisa hatte Tränen in den Augen, als sie die beiden so sah: wie Rokko seine Tasche fallen ließ und seine Arme ganz weit machte, um Janosch fest zu umarmen. Mit Janosch auf dem rechten Arm und seiner Tasche in der linken Hand suchte er die Halle nach Lisa ab. Als er sie entdeckte, sich ihre Blicke trafen, da ging er eilig auf sie zu. Bei ihr angekommen hatte er keinen Arm frei, aber er beugte sich zu ihr und küsste sie zur Begrüßung. Kurz und süß war der Kuss, doch vermochte er ein großes Lächeln auf Lisas Gesicht zu zaubern. Sie legte ihre Hand sanft auf seine Wange und küsste ihn noch ein mal.
"Ich hab euch vermisst. Euch beide", sagte Rokko leise.
Lisa lächelte. "Du hast uns noch viel mehr gefehlt."
Sie wurden von einem Kichern aus ihrer Trance gerissen.
"Was gibt's denn da zu lachen, mein Sohn", fragte Rokko nun mit einem Schmunzeln an Janosch gewandt. Doch der kicherte nur noch mehr. Rokko wandte sich wieder an Lisa. "Ich muss kurz zu mir: waschen, Blumen gießen und so-"
"Wir würden gern mitkommen... wenn das geht. Also, wenn wir dich nicht stören", unterbrach Lisa ihn und sah ihn etwas nervös an.
"Sehr gern", lachte Rokko. "Also los."
Rokko ließ Janosch hinunter. Lisa nahm ihn an die Hand und griff mit ihrer anderen Hand nach Rokkos. Er drückte sie fest und verschränkte dann seine Finger mit ihren. Gemeinsam verließen sie das Flughafengebäude und nahmen sich eins der wartenden Taxis, um zu Rokkos Wohnung zu fahren.
