Die zehn Tage bis Weihnachten gestalteten sich geschäftig. Rokko und Lisa hatten beide noch viel Arbeit vor sich, nahmen sich aber auch die Zeit, möglichst viel mit Janosch zu unternehmen. Nebenbei hatten sie nur wenige Minuten am Tag ganz allein für sich. Doch die, die ihnen blieben, nutzten sie gut. Sie redeten viel, berührten sich dabei aber immer: entweder war es Lisas Bein, dass über seinem lag, oder seine Hand, die sanft über ihren Rücken streichelte, oder ihre Finger, die sie ineinander verschränkt hatten.
Am Morgen des 24. Dezembers wurde Rokko von kleinen Füßen geweckt, die mitten in seinem Gesicht gelandet waren. Er öffnete langsam seine Augen und musste grinsen. Janosch, der nach einem Albtraum zu ihnen geflüchtet war, hatte sich im Schlaf gedreht. Rokko blickte auf die andere Seite vom Bett. Er sah genau in Lisas blaue Augen. Sie war schon eine Weile wach gewesen und hatte ihn im Schlaf beobachtet: hatte sich genau einprägen wollen, wo die ersten grauen Haare auf seinem Kopf wuchsen; wie er im Schlaf ab und an lächelte; wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Lisa biss sich auf die Unterlippe, während sich ihre Mundwinkel nach oben bogen. Langsam ließ sie ihren Arm an Janoschs Beinen vorbei zu Rokkos Gesicht hinüber wandern und streichelte seine Wange. Er legte seine Hand auf ihre und führte sie zu seinen Lippen, um einen Kuss darauf zu hauchen. Dann hörte er ein Gähnen vom Fußende und stützte sich auf seine Ellenbogen, um seinem Sohn beim Aufwachen zuzusehen. Noch schläfrig krabbelte Janosch zu ihnen und gab beiden ein Küsschen. Dann fiel es ihm ein: Weihnachten war endlich da! Voller Vorfreude auf das, was der Abend bringen würde, sprang er aus dem Bett und zog seine Eltern mit sich.
Am späten Nachmittag fuhren sie mit dem Auto vor dem Haus der Plenskes vor. Lisas Eltern hatten sie, sowie Bruno und seine Begleiterin eingeladen, den Heilig Abend und den ersten Weihnachtsfeiertag in Göberitz zu verbringen.
"Fröhliche Weihnachten!" begrüßte Helga Plenske sie schon von der Treppe hinunter rufend. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie erst Janosch umarmte, dann Lisa und schließlich mit einem "Ich freu mich so, dass sie und Lisa wieder ein richtiges Paar sind, Herr Kowalski", auch Rokko umarmte.
"Wir waren doch schon mal beim Du, Helga", lachte Rokko und gab seiner quasi Schwiegermutter einen Kuss auf die Wange.
"Da hast du recht, Rokko. Also, rein mit euch. Bruno ist auch schon da."
"Schwesterchen!" Bruno stürmte auf Lisa zu und umarmte sie fest. "Und wann wird geheiratet?", flüsterte er ihr ins Ohr und wurde prompt mit einem kleinen Schlag auf den Arm belohnt. Dann wandte er sich Rokko zu und begrüßte auch ihn mit einer Umarmung. Über seine Schulter hinweg sah Rokko, dass eine junge Frau mit dunklen, langen Haaren, die ihm seltsam bekannt vorkam, neben Lisa stand. "Darf ich dir meine bezaubernde Freundin vorstellen? Das ist Angelina Martens."
"Kerimas PR-Chefin?"
"Ja, ich hab ja immer zu Lisa gesagt: Plenskes und die PR-Abteilung von Kerima - da geht was", lachte Bruno und nahm verliebt Angelinas Hand.
"Es freut mich sehr, sie unter anderen Umständen kennenzulernen, Angelina", begrüßte Rokko sie mit einem breiten Lächeln.
"Hab ich da gerade 'Plenske' gehört?" Bernd kam lachend die Treppe hinunter. "Ah, ich sehe schon, das bezaubernde Fräulein Angelina und der charmante polnische Boxer sind auch da." Erst begrüßte er seinen kleinen Janosch, dann seine Kinder, Angelina und schließlich stand er vor Rokko. "Ick hab's dir nie einfach jemacht, aber ick freu' mich, dass du trotzdem hier bist", begrüßte er Rokko mit einem Handschlag und einer Hand auf der Schulter. "Bernd."
"Fröhliche Weihnachten, Bernd", strahlte Rokko und wusste, dass diese Entschuldigung Bernd viel Überwindung gekostet haben musste.
Gemeinsam gingen sie alle gegen 18 Uhr in die Kirche. Nach dem Gottesdienst blieb Rokko noch eine Weile sitzen, während die restliche Gemeinde nach draußen stürmte. Erst hatte er den Altar angestarrt, an dem er und Lisa hätten Mann und Frau werden wollen. Aber es tat nicht mehr weh. Zum ersten Mal seit langem dachte er nicht voller Schmerz und Bitterkeit an diesen schicksalhaften Tag zurück. Was zählte, war das Hier und Jetzt, war seine neue Beziehung zu Lisa, war die kleine Familie, von der er ein Teil war. Rokko hatte die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt. Aber auf seinen Lippen war ein Lächeln. Er spürte, wie sich jemand nach einigen Minuten neben ihn setzte und wusste, dass es Lisa war. Rokko griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Dann blickte er wieder auf und sah sie mit funkelnden Augen an.
"Ich hab dem da oben gedankt, dass du wieder in mein Leben getreten bist; für dich und unseren wunderschönen Sohn", flüsterte Rokko. Er lehnte seine Stirn an ihre und atmete tief durch. "Ich liebe dich, Lisa. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich lass dich nicht mehr gehen."
Lisas Augen glänzten ob der Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten. Es war das erste Mal seit fünf Jahren, dass Rokko sie von seiner Liebe wissen ließ. Lisa drückte fest seine Hand und küsste ihn kurz. "Und ich liebe dich." Dann standen sie gemeinsam auf und verließen die Kirche Hand in Hand. Schnell schlossen sie zum Rest der Familie auf und als sie bei ihnen angekommen waren, nahmen sie Janosch zwischen sich.
Als sie das Wohnzimmer betraten, erstrahlte ein heller Glanz. Der Baum drohte unter den Geschenken, die dort lagen, unterzugehen. Während Janosch fleißig auspackte, saß Lisa mit dem Rücken zu Rokko vor ihm, ihr Kopf auf seiner Schulter. Sie hielt seine Hände in ihren und spielte mit seinen Fingern. Immer wieder, wenn keiner hinsah, küsste Rokko sanft Lisas Nacken und ihre Haare. Immer wieder durchfuhr sie ein angenehmes Kribbeln. Lange saßen sie an diesem Abend noch alle bei heißer Schokolade und Helgas und Lisas selbst gebackenen Plätzchen um den Weihnachtsbaum. Rokko und Bruno hatten irgendwann Lisas alte Gitarre, auf der sie nie wirklich gespielt hatte, geholt, sowie Bernds Mundharmonika ausgeliehen, um gemeinsam Weihnachtslieder zu spielen. Die anderen sangen dazu, wobei sich Angelina als hervorragende zweite Stimme entpuppte. Auch wenn es ein bisschen schief klang, sie hatten Spaß daran. Und als Janosch mit seiner glockenhellen Stimme "Stille Nacht" sang und zwar als "Slient Night", weil er es so aus Kanada kannte, da standen allen Erwachsenen Tränen in den Augen. Gegen Mitternacht waren alle in ihren Betten - Lisa, Rokko und Janosch in Lisas Zimmer, in dem nicht mehr Lisas altes Bett stand, sondern ein neues, breiteres und Bruno und Angelina auf der Couch im Wohnzimmer.
Am nächsten Morgen erwachte Rokko durch einen Kuss von Lisa.
"Guten Morgen, mein Engel", begrüßte er sie noch schläfrig mit einem Lächeln.
"Guten Morgen, mein Schatz", lächelte Lisa und küsste ihn wieder.
"Mmhh, so werd ich gern wach, auch wenn es viel zu früh ist", grinste Rokko. "Wo ist denn Janosch?"
"Der ist auf einem Winterspaziergang mit seinen Großeltern." Lisa biss sich auf die Unterlippe und lächelte ihn verführerisch an. "Das kann länger dauern."
"Aha?"
"Mmmh."
Lisas Hand streichelte sanft über seinen Bauch und sie spürte durch den dünnen Stoff seines Schlafanzugs, wie seine Muskeln leicht zuckten. Rokko zog sie enger an sich und küsste sie leidenschaftlich und liebevoll. Lisa vergrub ihre Hände in seinen Haaren, während Rokkos Hände den Weg unter Lisas Oberteil fanden und zärtlich über ihren nackten Rücken streichelten. Als sie sich schwer atmend voneinander trennten und in den Augen des anderen wieder die Leidenschaft und Liebe erblickten, die sie seit Tagen unterdrückten, nickten sie fast unmerklich. An diesem Morgen liebten sie sich zärtlich und leidenschaftlich und vergaßen darüber die Zeit. Viel, viel später als geplant verließen sie ihr Bett.
Als sie gegen Mittag irgendwann Hand in Hand in der Küche auftauchten, errötete Lisa beim Grinsen ihres Bruders leicht. Angelina zwickte Bruno in die Seite, konnte sich aber ein leichtes Grinsen selbst nicht verkneifen. Kurz darauf trafen Helga und Bernd mit Janosch ein. Bernd musterte Rokko von oben bis unten und er hoffte, dass Bernd nur deswegen bedrohlicher wirkte, weil sein Gesicht von der Kälte gerrötet war.
Rokko bekam an diesem Tag nicht genug von Lisas Duft und vergrub seine Nase immer wieder in ihren Haaren, wenn er sie in seine Arme zog. Als Helga ihnen am Abend hinterherwinkte, war sie sehr glücklich und zufrieden darüber, wie glücklich Lisa, Rokko und Janosch waren. Helga hatte ihre Tochter sehr vermisst, als diese so lange so weit weg von zu Hause gewesen war. Sie jetzt wieder in Berlin zu haben und vor allem so strahlend zu sehen, war mehr, als sie sich nach Lisas schweren Jahren erträumt hatte. Und während die Lichter des Autos um die Ecke verschwanden, bahnten sich ein paar winzige Tränen den Weg über Helga Plenskes Wangen.
