Die Macht des Padres und des Zufalls"

von Michelle Mercy

Für die zwei Tänzer von der Deutschen Oper Berlin, die mir bewiesen haben,

daß meine Beobachtungen richtig waren - schon immer.

Alvaro und Carlos, man muß sich diese Beziehung in Verdis „Forza" doch nur einmal genau anschauen, und schon kommt man zu der Überzeugung, daß dort mehr ist...

Benimmt sich Carlos nicht zum Teil mehr wie ein enttäuschter Liebhaber als wie ein erbarmungsloser Rächer? Und allein diese Ironie, daß Carlos, der Traditionalist, der Mann, der unfähig ist, seine idiotischen Prinzipien zu vergessen, sich in einen Indianer, in einen Mann verliebt, war unwiderstehlich.

Dafür, daß ich nicht allein damit stehe, Alvaro und Carlos als tragisches Liebespaar zu sehen, viel tragischer und tiefer übrigens als Alvaro und Leonora oder gar Carlos und Preziosilla, muß ich Hans Neuenfels und seiner ansonsten - mit Verlaub - schwachsinnigen „Forza del destino"-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin danken. Dort doubeln zwei Tänzer die wahren Gedanken von Carlos, in welchen er Alvaro sehr leidenschaftlich begehrt, und genau diese Tanzsequenzen waren es, die mich dann doch zwangen, eine zuvor nur rudimentäre Idee aufzuschreiben.

Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich der Besetzung einer bestimmten Scala-Produktion aus den siebziger Jahren, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß einer der dort beteiligten Herren Wert darauf legen dürfte, mich zu dieser Geschichte angeregt zu haben. Aber diese Blicke dort, was für Blicke ! Unwiderstehlich für meine Phantasie...

Und schließlich muß ich noch um Verzeihung bitten für das ungehörige Verhalten von Doña Ana, sich überhaupt in diese Geschichte einzumischen. Verzeihung, aber sie drängte mit aller Gewalt hinein und war stärker als ich...

Mein lieber Freund und Nachfolger, der Du in Deiner mitbrüderlichen Pflicht meinen Platz im Kloster Madonna d'Angels eingenommen hast, während ich nach Rom reise, um dort den Kardinalshut, der mir, mit Verlaub gesagt, nach all der Aufregung und der Diskretion, mit der ich diese leidige di Vargas-Aff„re aus der Welt geschafft habe, auch gebührt, entgegenzunehmen.

Mein Sohn, Du trittst ein schweres Erbe an, und Du mußt noch vieles lernen. Ich weiß, daß Demut, Barmherzigkeit und Geduld in Deinem Charakter verborgen liegen, doch Du mußt die Kraft finden, für diese Prinzipien zu leben und zu sterben.

Die di Vargas-Affäre ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie sich der Pater Guardian eines Klosters wie des unseren zu verhalten hat. Deswegen werde ich Dir nun schildern, was sich tatsächlich zugetragen hat in jener fürchterlichen Verstrickung, die Leonora und Carlos di Vargas, diesen Mestizen Alvaro de las Moras und die Zigeunerin Preziosilla umfing und in den Abgrund riß. Gott möge ihren Seelen gnädig sein, denn schließlich hat er drei von ihnen bereits zu sich gerufen, und was mit dem vierten geschehen ist, vermag ich mir nicht vorzustellen...

Selbst in der strengen Klausur dieses Klosters war der Skandal, der sich im Hause des Marquès di Calatrava zugetragen hatte, zum Hauptgesprächsthema geworden. Natürlich mißbilligte ich solcherlei Klatsch, aber ich kam nicht umhin, davon Kenntnis zu nehmen.

Die Tochter des Marquès, Doña Leonora di Vargas, hatte sich bei einem Aufenthalt in Madrid in einen jungen Mann verliebt, den ihr Vater und auch ihr Bruder Don Carlos zutiefst mißbilligen mußten. Es war ein Mestize, der Sohn eines abtrünnigen spanischen Edelmannes und einer Eingeborenen der amerikanischen Kolonien.

Der Marquès besaß selbstverständlich alles Recht der Welt, seiner Tochter den Umgang mit einer solchen Existenz zu verbieten, doch er war darin ein wenig ungeschickt. Er sperrte sie ein, er zwang sie geradezu zum Ungehorsam. Letztendlich entschloß sie sich, mit dem Mestizen davonzulaufen. Doch ihr Vater überraschte sie, es kam zu einem Handgemenge, und in dessen Verlauf wurde der Marquès von einer Kugel tödlich getroffen.

Leonora und der Mestize verschwanden spurlos, und man munkelte, sie seien tot oder in die Kolonien geflüchtet.

Der Skandal hatte sich gerade ein wenig gelegt, da erhielt ich einen Brief von Padre Cletos, mit dem ich zusammen das Priesterseminar besucht hatte. Ich hatte lange nichts mehr von ihm gehört, vor Jahren hatte uns ein Streit entzweit über die Frage, ob man das Wohl der Menschen über das Wohl der Kirche stellen dürfe. Meine Ansicht ist Dir bekannt, mein Freund, während Cletos der Überzeugung war, der Mensch an sich sei wichtiger.

Auf jeden Fall war Cletos eine Zeitlang der Beichtvater der Marquesa di Vargas und nahm diese Position später bei Leonora ein. In seinem Brief berichtete er mir von der ganzen Affäre in Calatrava und bat mich sehr inständig, Leonora di Vargas zu empfangen. Er hatte ihr erzählt, daß ich immer ein offenes Ohr für Sünder hätte. Da er in diesem Punkt zweifellos recht hatte, war ich sicher, Leonora auf den rechten Weg zurückzuführen, fort von jenen sündigen Gedanken, die dieser Mestize in sie gepflanzt hatte.

Es war an einem Morgen im Frühsommer noch vor der ersten Messe im Kloster, als es an der Pforte läutete. Mir wurde ein junger Mann gemeldet, der auf keinen Fall seinen Namen nennen oder ins Klosterinnere eintreten wollte. Also ging ich hinaus zur Pforte. Dort stand eine schmale, hilflos wirkenden Gestalt in einem weiten Mantel, Reitstiefeln und einem Hut auf dem Kopf, der weit ins Gesicht gezogen war.

»Wer will mich sprechen?« fragte ich.

»Ich,« antwortete die Gestalt mit einer dünnen Stimme.

»Dann sprich,« forderte ich sie auf.

»Ich bin eine Frau,« brach es aus meinem Besucher hervor.

»Großer Gott,« stieß ich aus und bekreuzigte ich sofort, ob dieses Verstoßes gegen das zweite Gebot, »eine Frau um diese Zeit.« Ich wich vor ihr zurück. Eine Frau in Männerkleidung! Welche Lästerung von Gottes Schöpfung! Ich betrachtete sie vorsichtig näher. Einem Mann, der nicht das Gelübde der Keuschheit abgelegt hätte, wäre sie wahrscheinlich als eine Schönheit erschienen. Sie wirkte klein, zerbrechlich und sehr schutzbedürftig. Ihr dunkles, weiches Haar umrahmte ein sehr sanftes Gesicht mit hellen braunen Augen, die weit aufgerissen waren.

»Ich bin eine von Erde und Himmel Verfluchte, die Euch bittet, sie vor der Hlle zu erretten.« Sie fiel vor mir auf die Knie und griff nach meiner Hand.

»Wie soll ein armer Mönch dies tun?« Ich bemühte mich, vor ihr zurückzuweichen. Wer war diese Frau, die mich so einfach berührte, auf eine fast unschuldige Art berührte, und dadurch in mir sündige Gedanken weckte?

»Hat Padre Cletos Euch nicht geschrieben?« Ihre Frage glich einem Aufschrei.

»Cletos schickt dich?« stieß ich hervor.

Sie nickte stumm.

»Dann seid Ihr Leonora di Vargas.« Mein Gott, ich stand der Frau gegenüber, von der seit Wochen ganz Sevilla sprach!

»Ich weiß, es muß einen Heiligen wie Euch entsetzen.«

Ja, ich war tatsächlich entsetzt, aber nicht darüber, daß Leonora di Vargas vor mir stand, sondern daß eine so zerbrechliche Person diese berüchtigte Frau sein sollte. »Nein, ich bin nicht entsetzt.« Möge Gott mir diese Lüge verziehen! »Knie erst einmal nieder und sammle dich im Gebet, meine Tochter.« Auf diese Weise konnte ich Zeit gewinnen, um mich wieder zu fassen.

Sie fiel tatsächlich vor dem großen Kreuz vor dem Tor des Klosters auf die Knie und begann, still zu beten. Nach einer Weile, ich hatte mittlerweile meine Fassung zurückgewonnen, erhob sie sich wieder. »Padre, Ihr seid ein so guter Mensch, ein Heiliger gar, Ihr müßt mir eine Zuflucht gewähren,« flehte sie.

»Vielleicht wäre ein Nonnenkloster passender,« sagte ich hilflos. Sie, hier in Madonna d'Angels, würde eine zu große Versuchung für alle Mönche und ihr Keuschheitsgelübte sein.

»Nein, kein Kloster, bitte!« Leonoras Augen wurden noch weiter aufgerissen. »Ich ertrage soviele Frauen auf einmal nicht. Ich will Einsamkeit, wo ich nur für mich leben kann, um über meine Sünden nachzudenken. Padre Cletos sagte etwas vor einer Eremitenklause.«

»Hast du denn gesündigt, meine Tochter?« Nun war ich wieder in meinem Element. Als Priester wußte ich schließlich, wie man mit Sündern umgeht.

»Oh, ja, Padre, oh, ja.« Sie schluchzte laut auf und versuchte, weitere Schluchzer zu unterdrücken. »Ich weiß nicht, ob Ihr es verstehen könnt, Padre, aber ich war immer die liebe kleine Schwester, die liebe brave Tochter, ich habe immer das getan, was man mir sagte.

Wißt Ihr, meine Mutter starb bei meiner Geburt, und man hat mir erzählt, daß es lange so aussah, als würde auch ich sterben. Mein Vater und mein Bruder Carlos, er ist zehn Jahre älter als ich, wachten an meinem Bettchen und zwangen mich geradezu dazu, am Leben zu bleiben. Sie pflegten mich, sie beteten für mich, und sie zwangen mich die Milch aus der Flasche zu trinken.

Ich blieb am Leben, aber da man eine solche Angst gehabt hatte, ich könnte sterben, mußte ich mein Leben unter strenger Aufsicht verbringen. Ich lebte in Calatrava sehr zurückgezogen. Mein Vater bestimmte mein Leben und verlangte, daß ich nur für ihn leben sollte, und ich tat es sogar gerne. Mein Vater erklärte mir, daß die Welt außerhalb von Calatrava sündhaft sei, weshalb hätte ich mich also für sie interessieren sollen?

Nach einigen Jahren verließ mein Bruder Calatrava, um in Salamanca zu studieren. Eigentlich war mein Vater dagegen gewesen, aber Carlos setzte sich durch, er wollte wohl eine Weile fort von Calatrava. Wahrscheinlich empfand er die Anwesenheit meines Vaters dort als erstickend.

So blieb ich allein mit meinem Vater zurück. Während des Winters reiste er hin und wieder nach Madrid, doch ich begleitete ihn niemals. Ich saß im Salon von Calatrava, beschäftigte mich mit meinen Handarbeiten und sorgte dafür, daß man sich auf dem Gut wohlfühlen konnte, wie dies von mir erwartet wurde. Natürlich besuchte ich jeden Tag die Messe in der Dorfkirche.

Als ich siebzehn wurde, kehrte Carlos während des Sommers aus Salamanca zurück. Er hatte eine lange Auseinandersetzung mit meinem Vater über meine Zukunft. Ihre Worte waren so laut, daß ich sie sogar im Salon hören konnte.

„Ihr könnt Leonora nicht hier einsperren, bis sie alt und grau wird, Vater," schrie mein Bruder. „Wollt Ihr wirklich, daß Calatrava alles ist, was eine di Vargas in ihrem Leben sieht?"

„Es genügt." Die Stimme meines Vaters klang kalt und abweisend. „Calatrava ist der Nabel der Welt, die eine Frau und vor allem eine di Vargas kennen muß. Warum soll sie sich mit all den häßlichen Dingen belasten, die es in Madrid gibt?"

„Sie ist siebzehn Jahre alt, Vater. Wann, wenn nicht jetzt, wollt Ihr sie in die Gesellschaft einführen?"

„Es besteht kein Grund, daß sie sich in diesen Sündenpfuhl Madrid begibt. Sie würde dort nur in schlechte Gesellschaft geraten," erwiderte mein Vater stur.

„Ihr meint, sie könnte dort einem passenden Gatten begegnen, dessen Antrag Ihr nicht ablehnen könntet," fuhr Carlos ihn an. „Ihr habt Angst, daß sie dieses Haus hier verlassen könnte. Aber was wäre das für eine Schande für die di Vargas, wenn Doña Leonora, die Tochter des Marquès eine alte Jungfer werden würde, wenn sie sitzenbliebe? Da sie eine Schönheit ist, wird man denken, die di Vargas wären nicht mehr in der Lage, ihre Mitgift zu bezahlen."

Bisher hatte ich wie gebannt dort gesessen und zugehört, doch nun erhob ich mich und flüchtete in den kleinen Garten, den ich selbst angelegt hatte. Ich wollte einfach nicht länger zuhören, wie sich mein Vater und mein Bruder anbrüllten. Bisher hatte man mir immer gesagt, was ich zu tun hatte, aber wie sollte ich reagieren, wenn die beiden Männer, die mir dies sagten, sich nicht einig waren? Was sollte ich tun? Zu wem sollte ich halten? Was sollte ich sagen, wenn sie mich fragten, ob ich nach Madrid gehen wolle? Ich wußte doch gar nicht, ob mir die große Stadt gefallen würde, und wenn sie tatsächlich so gefährlich war, wie mein Vater sagte, dann würde ich doch Angst haben.

Mehrere Wochen hörte ich nicht, daß eine Entscheidung gefallen war, ob ich nach Madrid gehen sollte oder nicht. Carlos reiste ab, zurück nach Salamanca zu seinen Studien, ohne sich mit unserem Vater wirklich zu versöhnen. Er reiste sehr abrupt ab und wirkte auch mir gegenüber sehr kühl. Zwei Wochen später teilte mir mein Vater mit, daß wir diesen Winter nach Madrid reisen würden.

Ich hatte gar keine Zeit, mir deswegen Sorgen zu machen, denn jetzt wurde meine Zeit damit verbracht, mir Ballroben anzupassen, Schuhe anzufertigen, Juwelen auszuwählen und Frisuren auszuprobieren. Ehe ich mich versah, waren wir bereits auf dem Weg nach Madrid.

Ich war so aufgeregt, starrte aus dem Wagenfenster und versuchte, all diese neuen Eindrücke, die sich mir boten, zu verarbeiten. Die dürre Gegend um Sevilla herum wich etwas kräftigeren Farben, als wir Andalusien verlieáen. Ich konnte mich kaum sattsehen, und die vielen Gasthäuser, in denen wir abstiegen, erschienen als ein großes Abenteuer. Wie naiv ich doch damals war, schon soetwas für ein Abenteuer zu halten! Aber hätte ich in irgendeiner Weise ahnen können, daß Abenteuer etwas sind, woran mir ganz und gar nichts liegt? Woher hätte ich es denn wissen sollen?

Wir erreichten Madrid, wo ich das erste Mal das Stadthaus der di Vargas zu Gesicht bekam. Auch die Stadt selbst ließ mich staunen, doch am meisten faszinierte mich der Glanz und die Pracht des königlichen Hofes. Es gefiel mir so unbeschreiblich gut, mit anderen Menschen zu sprechen. Ich wurde dem König vorgestellt, und er war sehr leutselig zu mir.

Aber eigentlich erinnere ich mich kaum noch an diese Audienz, denn als wir den Audienzsaal verließen, blieb ich im Vorzimmer wie angewurzelt stehen.

„Ihr habt versprochen, daß ich heute endlich zu Seiner Majestät vorgelassen werde," erhob sich auf einmal eine laute Stimme über das allgemeine Gemurmel. Sie hatte einen angenehm sonoren Unterton, weich und doch entschlossen. Es fällt mir schwer, es zu beschreiben, aber sofort erregte dieses Etwas in der Stimme meine Aufmerksamkeit.

Gegenüber dem Sekretär des Königs befand sich ein hochgewachsener, schlanker Mann. Seine schwarzen Haare hingen in einem sehr ordentlichen Zopf, seine Augen waren von einer gar überirdischen Schwärze, und seine Haut hatte einen Bronzeton, der mich an Statuen erinnerte, die ich gesehen hatte. Seine Wangenknochen waren hoch angesetzt und standen ein wenig hervor, seine Nase hatte eine Form, die man gemeinhin als ‚aristokratisch' bezeichnet, und sein Mund war schmal und fest.«

Während Leonora di Vargas von diesem Mann sprach, nahm ihn Gesicht einen Ausdruck an, den ich bisher nur bei sehr frommen Mönchen gesehen habe, wenn sie durch das Gebet in eine göttliche Ekstase fielen.

»Ich bin noch nie zuvor einem so beeindruckenden Mann begegnet,« fuhr sie fort. »Dabei war er noch gar nicht alt. Vielleicht sechs oder sieben Jahre älter als ich, und seine Kleidung war nicht sehr auffällig. Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und wandte den Kopf in meine Richtung. Sein Blick schien sich geradezu in meinen Körper zu bohren. Mir lief ein Schauer über den Rücken; noch nie zuvor hatte mich ein Mann so angesehen. Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, ich habe noch niemals etwas derartiges erlebt...

Der Fremde verneigte sich in meine Richtung und schien sich dann zwingen zu müssen, seinen Kopf wieder seinem Gesprächspartnern zuzuwenden, doch er war nicht in der Lage, einige Seitenblicke zu mir zu unterdrücken.

„Leonora, worauf wartest du?" fragte mein Vater auf einmal streng.

Ich zuckte zusammen und ging schnell zu meinem Vater hinüber. Mir war auf der Stelle bewußt, daß mein Vater den Blick, den ich mit diesem Fremden getauscht hatte als etwas Sündiges betrachten würde. Trotzdem beherrschten den gesamten Rest des Tages sein Gesicht, der Ausdruck in seinen Augen und seine Gestalt meine Gedanken, und ich hatte ein unwiderstehliches Verlangen, ihn wiederzusehen und dann auch mit ihm zu sprechen.

Am nächsten Tag überließ mein Vater mich der Obhut meiner Tante, der Condesa Mondecar. Mit ihr begab ich mich am späten Nachmittag auf einen Spaziergang durch den Park des Escorials. Wir flanierten so umher, als ich auf einmal eilige Schritte hinter mir vernahm.

„Señorita, wartet einen Moment," bat eine Stimme, die ich unter Tausenden erkannt hätte. Seine Stimme.

Ich blieb stehen, riskierte einen kurzen Seitenblick zu meiner Tante und stellte fest, daß sie den Fremden musterte, dabei aber durchaus nicht mißbilligend wirkte. Offenbar fand sie nichts weiter Schlimmes daran, daß der junge Mann mich einfach angesprochen hatte.

„Señorita, Ihr habt dieses Tuch fallengelassen." Er reichte mir ein blütenweißes Taschentuch, das viel eher zu einem Mann paßte, auf keinen Fall jedoch mir gehörte.

„Aber...," versuchte ich zu widersprechen, fing jedoch den Blick meines Tante auf. Aus irgendeinem Grund wollte sie anscheinend nicht, daß ich protestierte. Vielleicht wollte sie, daß ich mich in Konversation übte? „Vielen Dank, Señor," sagte ich daher artig.

Er lächelte mich betörend an. „Gestattet Ihr, daß ich mich vorstelle? Don Alvaro de las Moras."

„Ich bin Doña Leonora di Vargas." Ich erwiderte schüchtern sein Lächeln. „Mein Vater ist der Marquès di Calatrava. Dies ist meine Tante, die Condesa Mondecar."

„Condesa," Alvaro verneigte sich vor meiner Tante, „ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen." Allerdings wanderte sein Blick sofort wieder zu mir zurück. „Ich habe Euch im Vorzimmer des Königs gesehen, Doña Leonora."

„Ja, ich habe Euch auch gesehen." Was war so sündhaft daran, daß ich mit diesem Mann sprach? Warum hatte mein Vater mich so lange davon ferngehalten? „Ich wurde Seiner Majestät vorgestellt."

„Dann habt Ihr mehr Glück gehabt als ich," murmelte er kaum hörbar.

„Sagt mir, Don Alvaro, Ihr seid aber nicht aus Madrid, nicht wahr?" wechselte meine Tante das Thema. „Ich hätte Euch doch sonst schon einmal gesehen."

„Ihr habt recht, Condesa." Alvaros Stirn hatte sich ein wenig umwölkt. „Ich bin das erste Mal am Hof. Ich bin in den Kolonien aufgewachsen."

„Und jetzt seid Ihr nach Spanien gekommen, um das Land Eurer Väter kennenzulernen?"

„Das Land meiner Väter, genau." Er lachte ein wenig bitter auf, und ich konnte damals noch nicht verstehen, wieso.

„Wie ist es in den Kolonien?" erkundigte ich mich neugierig. Schon Madrid war so weit fort von Calatrava, aber die Kolonien mußten unerreichbar sein.

„Es ist anders, Doña Leonora. Man legt nicht ganz soviel Wert auf Etikette wie hier in Madrid. Es ist beispielsweise leichter, zu einem der Vizekönige vorzu­dringen als zu Seiner Majestät. Ich versuche es jetzt schon seit Tagen, aber man läßt mich nicht vor." Er zuckte mit den Schultern. „Aber es ist nicht sehr höflich, Personen, die man gerade erst kennengelernt hat, mit seinen Problemen zu belasten."

„Aber nicht doch," wehrte ich ab. „Meint Ihr, Tante, daß mein Vater Don Alvaro vielleicht eine Audienz beim König verschaffen könnte?"

„Daß ich darauf nicht selbst gekommen bin," rief meine Tante aus. „Kommt doch morgen abend einfach in den Palast der Calatrava. Mein Schwager wird nichts dagegen haben, wenn ich eine Einladung zum Nachtmahl für Euch ausspreche."

„Es ist reizend von Euch, diese Einladung auszusprechen. Ich werde selbstverständlich kommen." Er lächelte. „Wie könnte ich auch widerstehen, wenn ich dadurch die Gelegenheit bekomme, zwei so wunderschöne Damen wiederzutreffen?" Er machte eine tiefe Verbeu­gung und verabschiedete sich.

„Ein äußerst charmanter junger Mann," bemerkte meine Tante. „Und man sagt ja auch, daß diese Leute aus den Kolonien unermeßlich reich sind."

„Er ist ein so hübscher Mann," seufzte ich.

„Er gefällt dir wohl?"

„Oh, ja, Tante. Er hat so wundervolle Augen."

Bald darauf kehrten wir in den Palast der Calatrava zurück. Als mein Vater dort eintraf, erzählte ihm meine Tante, daß sie für den nächsten Tag einen sehr passenden jungen Mann eingeladen hätte, den wir kennengelernt hätten.

Ich fieberte diesem Abend entgegen, doch als der Moment dann da war, entpuppte er sich als Katastrophe. Meine Tante, mein Vater und ich saßen im Salon und warteten auf Alvaro.

„Dieser junge Mann benötigt eine Audienz beim König, und ich dachte, daß Ihr ihm vielleicht eine solche besorgen könntet," begann meine Tante.

„Das ist ja nun wirklich eine Kleinigkeit. Ihr sagtet, daß er an Leonora interessiert war?" erkundigte sich mein Vater, und es schien mir, als würde es ihm überhaupt nicht gefallen, daß meine Tante nickte. „De las Moras, der Name sagt mir irgendetwas, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was."

Mein Vater hatte kaum ausgesprochen, als sich die Tür öffnete, und Don Alvaro gemeldet wurde. Von dem Moment an, in dem er das Zimmer betrat, war ich nicht mehr in der Lage, den Blick von ihm zu wenden. Auch seine Augen suchten sofort die meinen. Selbst als er meine Tante begrüßte, sah er mich an. Dann küßte er mir die Hand, und diese erste Berührung ließ ein überdeutliches Wissen durch meinen Körper strömen: dies war der Mann, für den ich bestimmt war.

Alvaro verneigt sich vor meinem Vater. „Marquès, ich bin überaus erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen."

„Ich wünschte, ich könnte Eure Freude teilen," erwiderte mein Vater kalt. „Ich habe mich gleich gefragt, weshalb mir der Name de las Moras so bekannt vorkam. Don Fernando de las Moras ist nicht rein zufällig Euer Vater, oder?"

Alvaro war unter der dunklen Hautfarbe eindeutig bleich geworden. „Rein zufällig war Don Fernando mein Vater," entgegnete er gepreßt.

„Dann seid Ihr also der Sohn dieses Verräters an der Krone," fuhr mein Vater ihn an. „Er hat es nicht nur gewagt, gegen den König zu rebellieren, er hat sogar so eine eingeborene Hure geheiratet." Er wandte sich an meine Tante. „Ist Euch nicht aufgefallen, wie er aussieht? Er ist nichts weiter als ein dreckiger Mestize."

„Ihr werdet sofort zurücknehmen, was Ihr über meine Mutter gesagt habt," forderte Alvaro meinen Vater auf. „Sie war eine Prinzessin der Inkas."

„Und Ihr, Señor de las Moras," die Stimme meines Vaters triefte von Verachtung, "verlaßt auf der Stelle mein Haus, wo Ihr mit Eurem indianischen Atem die Luft verpestet."

Alvaro riß sich die Handschuhe von den Händen, um meinem Vater damit ins Gesicht zu schlagen und ihn so zu fordern.

Doch mein Vater lachte nur. „Tut das nur, ich werde Euch keinesfalls die Ehre eines Duells erweisen. Ihr seid für einen di Vargas nicht satisfaktionsfähig."

„Ihr werdet das bereuen, Calatrava, das schwöre ich bei den Gräbern meiner toten Eltern," stieß Alvaro zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. Er wollte auf dem Absatz kehrt machen, doch die Stimme meines Vaters rief ihn zurück.

„Wagt es niemals wieder, meine Tochter auch nur ein weiteres Mal mit Euren Blicken zu besudeln!"

Alvaro stieß irgendetwas in einer Sprache hervor, die ich nicht verstehen konnte, und verließ das Haus.

„Was seid Ihr nur für eine Närrin," brach mein Vater schließlich das Schweigen, welches vor lauter Entsetzen über dem Raum gelegen hatte. „Wie konntet Ihr so blind sein? Es ist doch überdeutlich, was er ist!" fuhr er meine Tante an. „Ihr habt es zugelassen, daß ein Mestize meine Tochter angeglotzt hat."

„Aber, Vater," traute ich mich zu fragen, „was ist daran denn so schlimm?"

Er wirbelte herum und starrte mich entsetzt an. „Mein Gott, ist es denn tatsächlich so, Tochter, daß du gar nichts begreifst? Dieser Don Alvaro de las Moras ist der Sohn einer Eingeborenen unserer Kolonien und eines Rebellen, der gegen den König aufbegehrte."

„Aber wieso hat das etwas mit Don Alvaro zu tun?" Ich war damals noch so naiv, daß ich nicht begriff, wieso ein junger Mann dafür büßen mußte, was seine Eltern getan hatten.

„Hast du denn noch niemals davon gehört, daß die Bibel sagt, die Sünden der Väter fallen auf ihre Söhne zurück? Und ich gestatte meiner einzigen Tochter nicht, sich mit einem solchen Sünder abzugeben." Er blickte auf mich herunter mit diesem einschüchternden Ausdruck in den Augen, der mich immer sofort zum Schweigen brachte. „Selbstverständlich muß ich nun auf der Stelle für deine Abreise sorgen. Ich will nicht, daß es um meine Tochter soetwas wie einen Skandal gibt. Noch heute abend verläßt du Madrid."

Ich wollte ihm widersprechen, wollte ihn anschreien, daß ich mir doch gar nichts hatte zuschulden kommen lassen. Wie konnte jemand ein paar unverbindliche Worte, die ich mit Alvaro gewechselt hatte, für einen Skandal halten? Doch ich bekam kein Wort heraus, das auch nur im Entferntesten einen Widerspruch an sich hatte. Ich konnte nur den Kopf senken und ein „Ja, Vater." hervorpressen.

Tatsächlich mußte ich an diesem Abend abreisen. Die Kutsche nahm den gleichen Weg, den wir auf dem Weg nach Madrid eingeschlagen hatten, wir verweilten in den gleichen Gasthäusern, aber der Hauch eines Abenteuers lag nicht mehr in der Luft. Es war mir, als hätte der mir zugedachte Teil des abenteuerlichen Lebens nur Augenblicke gedauert.

Trotzdem langweilte ich mich nicht während dieser Reise. Meine Tante hatte mir eine Kammerzofe namens Curra besorgt, die unaufhörlich plapperte, mich zum Lachen brachte und hin und wieder die großen Damen der Gesellschaft nachahmte. Mein Vater hätte ihr Verhalten im höchsten Maße als unpassend empfunden, aber mein Vater war in Madrid geblieben.

Wenn Curra einmal schwieg, blickte ich aus dem Fenster. So sehr ich mich auch bemühte, es war mir unmöglich zu verstehen, weshalb ich mit jemandem nur deswegen keinen Umgang haben durfte, weil seine Eltern nicht das waren, was man als angemessen bezeichnen konnte. Ich wollte doch schließlich keinen Umgang mit seinen Eltern pflegen.

Und während ich so über diese Frage nachdachte, stahl sich immer Alvaro in meine Gedanken. Sein Gesicht mit diesen unvergeßlichen Augen, seine Stimme, die Art, wie er mit mir umgegangen war...

Schließlich erzählte ich Curra, daß ich immerzu an Alvaro denken müsse, und fragte sie, woran das liegen mochte. Sie mußte laut lachen und erklärte mir, daß ich ganz zweifellos in diesen Mann verliebt sei. Sie drängte mich, mehr von ihm zu erzählen, und ich tat es. Ihre Augen wurden immer größer, bis sie atemlos hervorstieß: „Das ist zweifellos das Traurigste, was ich je gehört habe. Zwei edle Menschen, die ganz ohne jeden Zweifel füreinander bestimmt sind, von einem grausamen Vater auseinandergerissen."

„Mein Vater ist nicht grausam," versuchte ich zu widersprechen.

„Wie, wenn nicht grausam, soll man einen Vater denn sonst nennen, der seine einzige Tochter von dem Mann fernhält, den sie liebt?" fragte sie, und ich wußte nicht, was ich antworten sollte.

Wir erreichten Calatrava, doch so ganz erschien es mir nichts mehr als der sichere Hort, für den ich es bisher gehalten hatte. Es geschah dort nichts, sondern es war dort schlicht und ergreifend langweilig. Ich sehnte mich nach etwas Abwechslung, und die sollte ich auch bald bekommen.

Eines Tages saß ich im Garten im Schatten eines Baumes und stickte, als ich plötzlich zusammenzuckte. Ich wußte zunächst nicht, wieso, doch dann blickte ich auf und starrte auf Alvaro. Als wäre er einfach vom Himmel gefallen, so stand er vor mir.

„Verzeiht mein unerwartetes Eindringen, Doña Leonora." Er sprach, weshalb ich meine erste Idee, daß er nur eine Wahnvorstellung oder ein Wunschtraum war, wieder verwarf. Seine Stimme, seine Augen, seine ganze Erscheinung machten mir deutlich, daß er wirklich war, und daß er anscheinend meinetwegen gekommen war. „Ich... ich hätte Verständnis dafür, wenn Ihr nicht mehr mit mir sprechen wolltet."

„Nein, soetwas dürft Ihr nicht sagen," entfuhr es mir schnell. „Es tut mir leid, daß mein Vater Euch gekränkt hat."

„Ihr seid nicht der Ansicht, daß er recht hatte?" Es schien ihn wirklich zu erstaunen. „Ihr haltet einen Mestizen, den Sohn eines Rebellen gegen die Krone, für einen angemessenen Umgang?"

„Ich halte Euch für einen angemessenen Umgang, Don Alvaro, wobei es mir gleichgültig ist, ob Euer Vater ein solcher gewesen wäre oder Eure Mutter." War das wirklich ich, die dort sprach? Seit wann war ich so sicher, daß ich im Recht war, dem Willen meines Vater zu widersprechen? Seit wann widersprach ich überhaupt jemandem?

„Ihr wißt gar nicht, wie sehr mich das freut, Doña Leonora." Alvaros Stimme hatte etwas Ungewöhnliches an sich, dem ich mich nicht entziehen konnte. „Ich mußte einfach kommen, um Euch wiederzusehen."

„Ihr wolltet mich wiedersehen?" Ich hielt den Atem an.

„Ich wollte nicht nur, ich mußte, Doña Leonora." Ein seltsam melancholischer Ausdruck lag in seinen Augen. „Ich weiß, es ist viel zu früh, Worte dieser Art zu gebrauchen, wir haben kaum ein paar Sätze miteinander gewechselt, aber vom ersten Moment an, als ich Euch sah, wußte ich, daß Ihr für mich etwas ganz besonderes sein würdet." Er lächelte mir ein wenig verschämt zu. „Es ist ein großes Wort, das ich noch niemals einer Frau gesagt habe, aber ich liebte Euch vom allerersten Moment an, seit ich Euch im Vorzimmer des Königs erblickte. Ich kann nicht mehr schlafen, kann nicht mehr essen, ich denke immerzu nur an Euch."

Ich wußte nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es ging mir ähnlich, seit ich seine Stimme das erste Mal gehört hatte, aber ich hatte keinen Namen dafür gehabt, bis er von Liebe sprach.

Er mißdeutete mein Schweigen. „Verzeiht mir, ich wollte mich Euch nicht aufdrängen."

„Das habt Ihr nicht getan, Don Alvaro." Ich muáte mich selbst チberwinden, um weiterzusprechen. „Ich muß auch immerzu an Euch denken."

„Ihr macht mich glücklicher, als ich mir jemals erträumt habe." Alvaro fiel vor mir auf die Knie, er ergriff meine Hände und drückte auf beide fieberhafte Küsse. „Euer Vater wird nicht billigen, daß ich Euch besuche."

Ich atmete, als sei ich gerannt. „Er muß es doch nicht erfahren." Auch ich sank jetzt auf die Knie, und wie von selbst fanden sich unsere Lippen. Ich war schüchtern, wußte nicht genau, wie ich auf seine Lippen und die Zunge reagieren sollte, die meinen Mund erforschten, und tat es trotzdem auf irgendeine Weise, die ganz sicher Sünde war, aber auch unwiderstehlich.

Plötzlich ließ Alvaro mich los und stand auf. „Nein, Leonora, nicht auf diese Weise," stieß er mit seltsam veränderter Stimme hervor, ohne daß ich wußte, wovon er sprach. „Nicht auf dem Fußboden und nicht ohne den Segen der Kirche."

„Wovon sprichst du?" fragte ich, während sich etwas unbekanntes in mir danach sehnte, daß er mit dem fortfuhr, was er begonnen hatte.

„Ich rede davon, daß ich dich zu meiner Frau machen will, Eleonora," sagte er.

„Eleonora?" fragte ich nun vollends irritiert nach.

„Eine Königin aus Aquitanien, die vor vielen Jahrhunderten gelebt hat, stark und schön wie du," erklärte er mir. „Willst du meine Frau werden?"

„Mein Vater wird das niemals erlauben," seufzte ich.

„Ich habe dich gefragt, nicht deinen Vater."

Ich versuchte, mir ein Leben an Alvaros Seite vorzustellen und konnte es nicht wirklich, denn ich wußte doch gar nicht, wie er lebte, was er tat, wenn er nicht gerade versuchte, eine Audienz beim König zu erlangen. Aber gleichzeitig war mir auch bewußt, daß ich nicht ohne ihn leben wollte. „Ja," sagte ich und wiederholte dann noch einmal beherrschter: „Ja."

„Würdest du mit mir fortgehen?"

„Überallhin." Ich war gar nicht fähig, irgendetwas anderes zu erwidern, selbst wenn ich gewollt hätte.

„Ich besorge Pferde und einen Priester, der uns traut. Dann kann uns niemand mehr trennen." Seine Stimme hatte etwas beschwörendes. „Willst du das?"

Ich starrte ihn an. Zum ersten Mal in meinem Leben fragte mich jemand, was ich tun wollte. Es verwirrte mich, und es verwirrte mich auch deswegen, weil es das erste Mal war, und mir trotzdem keine andere Wahl blieb, als „Ja." zu sagen.

Dann werde ich dich in ein paar Tagen holen kommen," sagte er. „Wenn es nicht möglich ist, daß ich mit dir spreche, kann ich dann vielleicht bei jemandem eine Nachricht hinterlassen, wann wir flüchten können?"

Ich überlegte für einen Moment. Vertraute ich wirklich einem Menschen genug, um ihm soetwas anvertrauen zu können? „Curra," antwortete ich. „Meine Zofe."

„Ich gebe Curra oder dir Bescheid, wenn alles bereit ist." Er küßte mich hastig und war dann bereits auf und davon.

Ganz langsam erst wurde mir bewußt, was ich gerade getan hatte. Ich hatte dem Leben, das ich bislang geführt hatte, eine Absage erteilt, die mir nun fast ein wenig voreilig erschien. Ich würde meine Heimat, meinen Vater und meinen Bruder verlassen, um mit einem fast Fremden davonzulaufen und mit ihm den Rest meines Lebens zu verbringen.

Nachdenklich kehrte ich zum Haus zurück, wo ich Curra von der Sache erzählte, die das alles ungeheuer aufregend und faszinierend fand und versprach, mir zu helfen.

Ich konnte in den nächsten Nächten nicht richtig schlafen, ich war nervös und gereizt, und zu allem Überfluß kehrte mein Vater auch noch aus Madrid zurück. Es war unmöglich, vor ihm meine Nervosität zu verstecken und mehr als einmal blickte er mich forschend an.

Drei Tage nach der Ankunft meines Vaters betrat Curra erregt mein Gemach und erzählte mir, daß Alvaro mich an diesem Abend abholen würde. Ich fühlte mich überfallen davon, obwohl ich doch schon seit so langer Zeit wußte, daß es passieren würde, daß ich nicht einmal in der Lage war, mir darüber Gedanken zu machen, was ich mitnehmen wollte. Es endete damit, daß Curra meine Sachen packte und sie in einem Schrank meines Ankleidezimmers versteckte.

Ich wußte nicht, wie ich den Tag herumbringen sollte, denn zu jeder meiner üblichen Beschäftigungen fehlte mir die Ruhe, doch irgendwann verging der Tag dann doch. Am Abend kam mein Vater in meine Gemächer, um mir eine „Gute Nacht" zu wünschen. Ich fühlte mich unbehaglich, schuldig, daß ich auch nur daran dachte, ihn zu verlassen.

„Gute Nacht, meine Tochter," sagte er. „Die Tür zur Terrasse steht noch offen?" Er ging zur Tür und schloß sie. „Warum bist du so traurig, Kind?"

Ich brachte kein Wort hervor.

„Du bist wegen dieses... dieses Mestizen noch durcheinander. Überlaß die Sorge über deine Zukunft mir. Vertraue mir."

„Ach, Vater," seufzte ich.

„Ich werde dich jetzt allein lassen." Er wollte sich abwenden, doch da stürzte ich auf ihn zu und fiel ihm in die Arme. Für einen Moment umklammerte ich ihn, dann machte er sich los und verließ das Gemach.

„Ich hatte schon Angst, er bliebe bis morgen früh," sagte Curra vom Ankleidezimmer aus und öffnete die Terrassentür wieder.

„Ich kann mich nicht entscheiden," rief ich leise aus.

„Was meint Ihr?"

„Wäre er nur einen Moment länger geblieben, ich hätte ihm die Wahrheit gesagt," brach es aus mir heraus. Ich war mein Leben lang bei meinem Vater gewesen, wie sollte ich es fertigbringen, ihn zu verlassen, ohne Abschied nehmen zu können?

„Dann läge Don Alvaro bereits in seinem Blut oder im Gefängnis von Sevilla oder hinge gar am Galgen," fuhr sie mich an. „Und das alles für einen Menschen, der ihn nicht liebt."

„Aber ich liebe ihn doch," sagte ich hilflos, fast mehr um mich zu überzeugen und weniger sie. „Ich bin doch bereit, für ihn alles hinter mir zu lassen, mein Heim, meine Familie..." Ich blickte zur Uhr mit dem Aufkommen einer schwachen Hoffnung. „Es ist spät. Vielleicht kommt er ja gar nicht mehr."

In diesem Augenblick war von Ferne Hufschlag zu hören. Curra und ich wechselten einen Blick, doch ehe eine von uns etwas sagen konnte, kam Alvaro über die Terrasse ins Gemach gestürmt und riß mich leidenschaftlich an sich. Trotz seiner Leidenschaft war es mir unmöglich, seine Umarmung wirklich zu erwidern. Es mußte ihm auffallen, so daß er fragte: „Was ist mir dir? Pferde und der Priester stehen schon bereit."

„Warte noch," bat ich.

„Was?"

„Morgen..."

„Was sagst du?"

„Laß uns warten," flehte ich. „Ich will meinen Vater nur noch einmal sehen. Das kannst du mir nicht verwehren, wenn du mich liebst."

„Ich verstehe, Señora." Alvaros Gesicht wurde hart. „Ich entbinde dich von deinem Versprechen, Eleonora."

„Nein, Alvaro, nein, ich werde mich niemals von dir trennen können." Meine Stimme zitterte, aber ich wußte, daß diese Entscheidung unwiderruflich war.

„Jemand kommt hierher," unterbrach Curra unsere Worte.

„Komm." Alvaro griff nach meinem Handgelenk und wollte mich zur Terrassentür ziehen, da flog die Zimmertür auf.

„Heilige Jungfrau," murmelte Curra.

„Versteck dich," flehte ich, doch Alvaro riß seine Pistole aus dem Gürtel.

„Ich muß dich verteidigen."

„Willst du die Waffe gegen meinen Vater richten?"

„Nein, gegen mich selbst," stieß er hervor, und ich konnte nicht mehr feststellen, wie er es meinte, den mein Vater stand in der Tür, begleitet von mehreren Dienern.

„Schändlicher Verführer!" schrie er. „Schamlose Tochter!"

„Nein, Vater!" rief ich und wollte ihm zu Füßen fallen.

Er stieß mich beiseite. „Ich bin nicht mehr dein Vater."

„Marquès, Eure Tochter ist unschuldig, der einzig Schuldige bin ich," rief Alvaro, riß sich sein Hemd auf und bot meinem Vater seine nackte Brust dar. „Stoßt zu und stillt Eure Rache."

„Nein." Mein Vater schüttelte den Kopf voller Verachtung. „Euer Verhalten zeigt mir Eure schändliche Herkunft. Packt ihn!" befahl er den Dienern.

Alvaro riß die Pistole wieder in die Höhe, die er zunächst hatte sinken lassen. „Wagt es nicht, euch zu rühren," drohte er den Dienern.

Ich stieß einen Schrei aus.

„Nur Euch, Marquès, werde ich mich ergeben," fuhr Alvaro fort.

Mein Vater lachte zynisch. „Sterben von meiner Hand? Etwas wie Ihr muß von der Hand des Henkers sterben."

„Señor Marquès, Eure Tochter ist rein wie ein Engel. Ich bin unbewaffnet." Alvaro warf die Pistole von sich. Die Waffe fiel zu Boden, und gleichzeitig krachte ein Schuß.

Ich war einfach nicht in der Lage, mich zu rühren, sondern sah nur, wie mein Vater wie in einem Traum in sich zusammensank. Auch Alvaro starrte ihn fassungslos an.

Ich weiß nicht, ob es nur Augenblicke oder eine Ewigkeit war, bis ich zu meinem Vater stürzte.

„Aus meinen Augen," keuchte er.

„Vater!" stieß ich verzweifelt hervor.

„Ich verfluche dich."

Ich war nicht mehr fähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun, bis Alvaro auf mich zurannte und mich über die Terrasse aus dem Haus zerrte. Schon nach wenigen Schritten verlor ich die Orientierung, ich wußte überhaupt nicht, wo wir uns befanden, ich rannte hinter Alvaro her, blieb mit meinem Kleid an Zweigen hängen, stolperte und hielt trotzdem nicht an. Hinter uns waren recht entfernt Schritte und Stimmen zu hören, offenbar von unseren Verfolgern verursacht.

Auf einmal blieb Alvaro stehen und starrte mich an. Sein Gesichtsausdruck erschreckte mich. Sein Zopf hatte sich gelöst, sein Gesicht war zu einer gehetzten Fratze verzogen, und zum ersten Mal fiel mir auf, daß er etwas von einem Wilden an sich hatte.

Alvaro lauschte angestrengt. „Hör mir zu, Leonora," raunte er mir zu. „Wenn du jetzt weiter geradeaus läufst, müßtest du nach Sevilla kommen."

„Wieso soll ich nach Sevilla?" versuchte ich zu protestieren. „Und was ist mit dir?"

„Ich versuche, sie auf eine falsche Spur zu locken."

„Aber, Alvaro," flehte ich.

„Eleonora, das ist die einzige Möglichkeit, die wir haben." Seine Stimme klang sehr eindringlich. „Es darf nicht passieren, daß wir ihnen in die Hände fallen, und das können wir nur vermeiden, wenn wir uns trennen. Hast du jemanden in Sevilla, zu dem du gehen könntest?"

„Eine alte Tante..."

„Gut." Er gab mir einen Stoß. „Lauf, Eleonora, lauf. Wir sehen uns in Sevilla bei deiner Tante."

Ich stolperte weiter in das Dunkel hinein, zu sehr war ich daran gewöhnt zu tun, was man mir sagte. Ich lief und lief und lief und wußte nicht, daß ich Alvaro nicht wiedersehen sollte.

Die ganze Nacht war ich dabei, durch Gestrüpp zu stolpern, und als es Tag wurde, wußte ich nicht mehr, wo ich war. Ich kannte die Gegend nicht, und ich war noch niemals in meinem Leben allein irgendwo gewesen.

Irgendwann stand ich ganz allein an einer Straße. Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte, also folgte ich der Straße in eine Richtung. Nichts kam mir bekannt vor, ich glaubte, niemals zuvor diese Straße entlang gekommen zu sein.

Um die Mittagszeit, als ich vor lauter Müdigkeit schon fast aufgeben wollte, kam mir ein Mann mit zwei Maultieren entgegen. „Nach Sevilla?" fragte ich hoffnungsvoll und deutete in meine Richtung.

Er schüttelte den Kopf. „Ich gehe nach Sevilla."

Ich stieß einen Laut der Verzweiflung aus. Ich war in die verkehrte Richtung gelaufen. Tränen schossen mir in die Augen. Ich würde Alvaro niemals wiederfinden.

„Wollt Ihr mit mir kommen?" fragte der Maultiertreiber mitleidig. „Ihr könntet auf einem meiner Mulis Platz nehmen. Man nennt mich Trabucco."

„Ja, ja, das ist wirklich sehr nett." Ich hätte unmöglich den ganzen Weg zurücklaufen können, ohne zusammenzubrechen vor Erschöpfung. „Bring mich doch bitte nach Sevilla."

Trabucco gab mir Hilfestellung beim Aufsteigen, und so war für mich der Rückweg nicht ganz so beschwerlich wie die Meilen, die ich bisher gelaufen war.

Trotzdem wurde es Abend, bis wir Sevilla erreichten. Alvaro hatte mir gesagt, wir würden uns bei meiner alten Tante treffen, also bat ich Trabucco, mich dorthin zu bringen. Ich wollte gerade vor ihrem Haus vom Muli steigen, da kam ein kleiner Junge auf mich zu.

„Doña Leonora?" fragte er leise.

„Ja," antwortete ich und hoffte, daß Alvaro ihn geschickt hatte.

„Eure Tante hat vermutet, daß Ihr hierher kommen würdet, aber sie läßt Euch bestellen, daß sie Euch nicht aufnehmen kann."

Ich krallte mich in der Mähne des Mulis fest und begann, still in mich hinein zu weinen. War ich denn von aller Welt verstoßen?

„Gibt es einen Ort, an den ich Euch vielleicht jetzt bringen kann?" fragte Trabucco, der den ganzen Ritt sehr schweigsam gewesen war.

„Ich weiß es nicht," antwortete ich hilflos. Ich wußte, ich mußte vorsichtig sein. Wie leicht konnte ich den Häschern meines Vaters in die Hände fallen, die bestimmt überall nach mir suchten. „Ich wollte mich mit jemanden hier treffen, aber meine Tante läßt mich nicht hinein, und jetzt muß ich Alvaro suchen..."

„Ihr könnt unmöglich in der Nacht allein durch Sevilla streifen, um nach jemandem zu suchen," entschied Trabucco. „Kennt Ihr vielleicht jemanden in Sevilla, der Euch für eine Nacht aufnehmen würde?"

Ich mußte sehr lange nachdenken, doch am Ende fiel mir nur Padre Cletos ein, mein alter Beichtvater. Zögernd nannte ich seinen Namen, und Trabucco nickte und brachte mich dorthin.

Die Kunde meiner Schande war bereits zu Cletos gelangt. Er nahm mich trotzdem auf für die Nacht, aber während dieser Nacht machte er mir deutlich, daß ich Alvaro niemals wiedersehen dürfte. Und er kam auf die Idee, mich hierher zu schicken. Für mehrere Wochen versteckte er mich im Haus, doch dann besorgte er mir Männerkleidung, gab Trabucco viel Geld und den Auftrag, mich hierher zu begleiten.

Es ging alles gut, Trabucco sagte kein Wort über meine veränderte Erscheinung, bis wir zu einem Gasthaus kamen, um dort eine Rast einzulegen.

Ganz plötzlich und überraschend erblickte ich meinen Bruder Carlos, der sich sehr auffällig für mich zu interessieren schien. Er musterte mich, und ich lit unter fürchterlicher Angst, er würde mich erkennen, zumal er erzählte, er sei ein gewisser Pereda, der seinem Freund Carlos di Vargas bei der Jagd nach dem Mörder des Marquès di Calatrava und dessen Geliebter geholfen habe.

Dabei näherte er sich mir so sehr, daß ich mich bereits verloren glaubte, als eine Zigeunerin mich unverhofft rettete, indem sie meinen Bruder ablenkte. Auf diese Weise ermöglichte sie mir die Flucht.

Ich bin hier, Padre, und ich flehe Euch an, laßt mich in der Eremitenklause leben. Ich will für meine Sünden büßen. Ihr müßt es mir einfach erlauben.«

Leonora di Vargas kniete vor mir und küßte den Saum meines Gewandes. Ich kämpfte mit mir, da mir natürlich bewußt war, daß es jedem Befehl meiner Vorgesetzten wie dem Kardinal widersprach, einer Sünderin, wie sie es war, Asyl zu gewähren, aber andererseits wie sollte sie sonst angemessen Buße tun, wenn nicht in irgendeiner Einöde, wo niemand sie in ihren Bußübungen störte?

Ich beschloß, ein solches Verhalten auf mein Gewissen nehmen zu können, und gestattete ihr in die Eremitenklause zu ziehen. Vielleicht erinnerst Du Dich noch an die große Einführung, mein Bruder, bei der es allen Mönchen bei Strafe und zwar der der Exkommunikation verboten wurde, die Klause zu betreten.