Die nächsten Jahre vergingen sehr ruhig für unser Kloster, wenn auch nicht für die Welt draußen. Es gab diesen grauenvollen Krieg in Italien - aber das weißt Du ja wohl besser als ich.
Leonora di Vargas lebte von dem wenigen, was ich ihr brachte; eigentlich hätte sie sich selbstverständlich von dem ernähren müssen, was die Natur ihr gab, aber ich war nicht in der Lage, sie verhungern zu lassen, was sie sonst unweigerlich getan hätte. Sie sprach kaum noch. Die Lebensbeichte, die sie mir gegeben hatte, schien sie geradezu ausgeleert zu haben.
Bei den Besuchen, die ich ihr abstattete, wurde sie immer einsilbiger, die Schönheit, die der Herr ihr in seiner unermeßlichen Güte geschenkt hatte, verblaßte mit den Jahren, aber ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, daß sie diesen Dingen keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, oder daß sie zu der Überzeugung gelangte, daß die Sünden, die sie begangen hatte, nicht gebüßt werden konnten.
Auf diese Weise vergingen fünf Jahre, der Krieg in Italien war noch nicht lange vorbei, da wurde mir ein Besucher gemeldet, der in unser Kloster eintreten wolle. Ich war überrascht. Es gab zu der Zeit nicht viele Personen, die bereit waren, den Dienst für Gott zu beginnen. Ich ließ also bitten und stand dann einem großen, hageren Mann gegenüber, der schwarze Augen und Haare hatte, eine charakteristische Nase und leicht vorstehende Wangenknochen. Seine Hautfarbe hatte einen leichten Bronzeton, und er war bekleidet mit einer Uniform der spanischen Streitkräfte, von der sämtliche Rangabzeichen und Auszeichnungen entfernt worden waren; es war deutlich zu sehen, daß es viele davon gegeben haben mußte.
»Ihr habt die Absicht, ins Kloster einzutreten?« fragte ich den Fremden.
»Ja, Padre,« Der Mann hob den Kopf, den er bisher gesenkt gehalten hatte, so daß zu erkennen war, wie jung er noch war. Er war sicher noch keine dreißig Jahre alt, wirkte jedoch sehr viel reifer.
»Und warum wollt Ihr das, mein Sohn?«
»Ich muß für meine Sünden büßen.« Seine Stimme hatte einen sehr düsteren Beiklang.
»Was für Sünden?« Irgendwie war ich mir sicher, daß er mir gräßliches berichten würde. Also setzte ich mich erst einmal wieder.
»Ich habe so ziemlich gegen jedes der zehn Gebote verstoßen.« Er fiel vor mir auf die Knie. »Ich habe gegen Gott und die heilige Kirche gesündigt.«
»Bereust du deine Sünden?«
Er starrte mich mit einem wilden Blick an. »Ich weiß es nicht, Vater,« stieß er dann verwirrt hervor.
»Dann solltest du darüber sprechen,« forderte ich ihn auf.
»Ihr müßt wissen, Padre, ich bin nicht in Spanien geboren,« begann er, und es fiel ihm hörbar schwer, sich zur Ruhe zu zwingen. »Ich kam in Peru zur Welt. Mein Vater war Don Fernando de las Moras, vielleicht sagt Euch der Name ja etwas.«
Ich nickte stumm. Selbstverständlich kannte ich diesen Rebellen gegen die Krone.
»Wie offenbar jedem.« Der Fremde verzog das Gesicht. »Meine Mutter war die Prinzessin der Inkas, die Letzte ihres Volkes, und mein Vater heiratete sie. Er war ehrgeizig, ich glaube, er liebte ihren Anspruch auf den Thron der Inkas mehr als sie selbst. Sie wollte Ruhe und Frieden für ihr Volk, ihr hätte es gereicht, wenn sie irgendwo mit ihnen in den Bergen hätten leben können. Aber für meinen Vater gab es nur die Macht und die Aussicht auf eine Krone. Er war nur ein jüngerer Sohn, der keine großen Aussichten hatte, und nun bot sich ihm mehr...
Er brachte meine Mutter dazu, gegen die Spanier zu ziehen, um sie bei einem Sieg außer Landes zu weisen. Selbstverständlich war die spanische Armee eine solche Übermacht, daß die Streitkräfte meiner Eltern vernichtend geschlagen wurden. Man nahm sie beide gefangen, während die Truppen fast alle ums Leben kamen oder flüchteten. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits guter Hoffnung mit mir. Das schob den Zeitpunkt ihrer Hinrichtung hinaus, so daß sie mehrere Monate länger lebte als mein Vater, der bereits wenige Tage nach seiner Festnahme hingerichtet worden war.
Ich wurde im Gefängnis von Lima geboren, zwei Monate durfte meine Mutter mich in den Armen halten, dann wurde auch sie enthauptet. Sie gab mir im Gefängnis den Namen...«
»Alvaro,« vollendete ich den Satz. Ich wußte schon eine ganze Weile, wen ich vor mir hatte. Don Alvaro de las Moras, den Mann, der Leonora di Vargas zum Verhängnis geworden war. Welch merkwürdige Fügung, daß er auf einmal vor mir stand! Manchmal sind die Wege unseres Herrn wirklich unergründlich.
»Woher wißt Ihr das, Padre?« Er starrte mich sehr irritiert an.
»Man kann nicht in der Nähe Sevillas leben, ohne zu erfahren, was sich in Calatrava zugetragen hat, und wer die Beteiligten waren « Ich war fest entschlossen, ihm nichts davon zu sagen, daß sich Leonora di Vargas ganz in der Nähe befand. Sie hatte ihn aus freien Stücken verlassen und war dem Ruf zu einem kargen Leben als Eremitin gefolgt.
»Ich begann mein Leben also in einem Gefängnis,« fuhr Alvaro fort. »Nach dem Tod meiner Mutter wurde ich in ein Waisenhaus unserer Kirche gebracht. Dort lehrte man mich, daß meine Herkunft unnatürlich sei, daß meine Eltern keine wahre Ehe geführt hätten, und daß ich minderwertig sei. Sie haßten mich, und ich mußte mit diesem Haß aufwachsen.
Ich war acht oder neun Jahre alt, als ein älterer Mönch, dem ich wohl leid tat, mir die Geschichte meiner Herkunft erzählte. Das führte dazu, daß ich nach langem Nachdenken einfach nicht verstehen konnte, weshalb man mich meiner Herkunft wegen haßte. Hätten sie mich verabscheut, weil mein Vater ein Rebell war, ich hätte Verständnis dafür aufbringen können, aber so... Es war ein spanischer Adeliger gewesen, und meine Mutter war eine Prinzessin der Inkas. Genaugenommen war ich ja sogar soetwas wie ein Prinz. Wieso wurde ich dann schlechter behandelt als der Sohn eines Schweinehirten?
Irgendwann hielt ich es dann nicht mehr aus und lief davon. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ich gehen sollte, wie ich überleben konnte, ich wollte nur fort. Ich war von mir selbst überrascht, wie schnell ich lernte, wie man im Dschungel überleben kann. Ich baute mir einen Unterstand, ich lebte von Beeren und Wurzeln und lernte zu jagen.
Ich bin jedoch nicht so ganz sicher, ob ich überlebt hätte, wenn mich nicht immer der Wunsch aufrecht erhalten hätte zu beweisen, daß ich, Don Alvaro de las Moras, nicht weniger Wert besaß als jeder spanische Adelige. Ich hatte nur nicht die geringste Vorstellung, wie ich es anstellen sollte.
Nach einer Weile kam mir der Gedanke, es wäre möglich, wenn meine Eltern rehabilitiert würden, wenn es gelänge, irgendwen zu überzeugen, daß sie nicht nur Rebellen gewesen waren, sondern auch eine vollgültige Ehe geschlossen hatten. Ich zermarterte mir das Hirn, wie ich jemanden davon überzeugen könnte und wen.
Ich war etwa siebzehn Jahre alt, als ich die zündende Idee hatte. Ich würde beim Vizekönig vorsprechen und von ihm verlangen, meine Eltern zu rehabilitieren. Also machte ich mich auf die Wanderschaft nach Lima. Ich muß einen sehr merkwürdigen Anblick geboten haben in meiner Kleidung aus Tierhäuten, den wilden Haaren und der entschlossenen Miene.
Durch gezieltes Nachfragen erfuhr ich, daß sich der Vizekönig in seinem Sommerpalast am Stadtrand befand. Also machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich war vollkommen unbedarft und dachte, der Vizekönig würde mich auf der Stelle empfangen, wenn ich ihm gemeldet würde.
Der Irrtum dieser Vorstellung wurde mir schlagartig klar, als ich am Tor des Palastes stand und die uniformierten Wachen sah. Wenn schon die Bediensteten des Vizekönigs derartig prächtig aussahen, so dachte ich mir, dann mußte der Reichtum des Vizekönigs selbst ja geradezu unermeßlich sein. Wie konnte ich mich in meiner selbstgefertigten Kleidung dort sehen lassen?
Ich wandte mich ab und ging um das Gebäude herum. Wie sollte es mir nur jemals gelingen, meine Eltern zu rehabilitieren, wenn ich noch nicht einmal wagte, den Wachen des Vizekönigs entgegenzutreten? fragte ich mich verzweifelt.
Genau in diesem Moment begegnete ich zum ersten Mal einer Person, von der ich vom ersten Augenblick an ahnte, daß sie mein Schicksal werden würde. Ich hatte dieses Wissen später nur noch zweimal...
Auf jeden Fall lief ich förmlich in meine trüben Gedanken versunken in eine prächtig gekleidete Frau hinein. Sie wurde von einer Zofe begleitet, doch diese nahm ich kaum wahr, da ich ihre Herrin zu sehr anstarrte. Sie war eine großgewachsene, schlanke Erscheinung, die kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag stehen mochte, hatte schwarze Augen und ebensolches Haar, konnte aber nicht als wirklich Schönheit angesehen werden. Beeindruckend, beherrschend, sind die Wort, die ich wählen würde, um sie zu beschreiben. Sie trug helle Farben, und sie lächelte mich auf eine irritierende Weise an.
„Nicht so stürmisch, mein Junge," sagte sie mit einer tiefen Stimme.
„V-v-ver-verzeiht mir!" stammelte ich und fiel unwillkürlich vor ihr auf die Knie.
„Was sollte ich dir verzeihen?" Ihr Lächeln hatte etwas betörendes.
„Ich wollte Euch nicht anrempeln." Ich fühlte mich fürchterlich zerknirscht.
„Es ist ja nichts passiert," versuchte sie, mich zu beruhigen. „Was tust du hier?"
„Ich... ich wollte versuchen, eine Audienz beim Vizekönig zu erhalten."
„Der Vizekönig?" Sie schien mich interessiert zu mustern. „Das trifft sich ja ausgezeichnet. Ich bin Doña Ana di Colbran i Guzman, die Gemahlin des Vizekönigs."
„Oh, mein Gott!" stieß ich hervor. Hier stand ich dieser unglaublich beeindruckenden Frau gegenüber, benahm mich wie ein kompletter Dummkopf, und dann stellte sie sich auch noch als Gemahlin des Vizekönigs heraus.
„Was willst du denn von meinem Gemahl?" fragte sie.
„Ich wollte bei ihm um die Rehabilitierung meiner Familie bitten," antwortete ich sehr schüchtern. „Mein Name ist Don Alvaro de las Moras."
„Don Alvaro de las...," sie unterbrach sich selbst; offenbar kannte sie den Namen meiner Familie. Allerdings bereitete es ihr Schwierigkeiten, meinen Namen im Zusammenhang mit meiner Erscheinung zu bringen, wie sie mir später erklärte. „Ich fürchte, da wird mein Gemahl nichts tun können. Alle Belange, die mit der Familie de las Moras zusammenhängen, hat Seine Majestät in Madrid an sich gezogen."
Ich starrte sie verzweifelt an. Madrid! Wie sollte ich jemals Gelegenheit haben, von Seiner Majestät in Madrid die Rehabilitierung meiner Eltern zu erreichen?
„Was willst du jetzt tun?" fragte mich Doña Ana.
„Ich weiß nicht," brachte ich hervor.
„Zufälligerweise bin ich auf der Suche nach jemandem, der ein etwas vernachlässigtes Stückchen Garten pflegen würde," sagte sie. „Könntest du dir vorstellen, das zu tun?"
Einen Moment lang wog ich eine solche Vorstellung gegen eine Rückkehr in den Urwald ab, wo ich ohne jede Hoffnung dahinvegetieren würde, und nickte dann.
„Fein." Doña Ana wandte sich an ihre Zofe. „Sorge dafür, daß er Kleider bekommt, ein Bad nimmt und schicke ihn dann zu mir."
Die Zofe knickste, und ehe ich mich versah, steckte ich bereits in einem Waschzuber, wurde geschrubbt und dann angekleidet. Meine langen Haare wurden ein Stückchen abgeschnitten und im Nacken zusammengefaßt, meine Bartstoppeln abrasiert. Als ich in den Spiegel sah, hatte ich das Gefühl, mich blicke ein Fremder an. Man hätte mich leicht für einen weißen Lakaien eines hochherrschaftlichen Hauses halten können.
Die Zofe holte mich ab und führte mich in Doña Anas Gemächer. Die Pracht der Einrichtung hätte mir den Atem geraubt, wenn dies nicht schon zuvor Doña Anas Erscheinung getan hätte. Sie hatte sich auf ihrem Bett ausgestreckt und hatte ihr Kleid mit einem Überwurf vertauscht. „Tritt näher," befahl sie mir und winkte die Zofe aus dem Zimmer.
Ich wußte nicht genau, was so gemeinhin eine Frau attraktiv machte, denn ich hatte keinerlei Erfahrungen dieser Art, aber Doña Ana war für mich das aufregendste Wesen, dem ich bislang begegnet war.
„Ich hätte nicht erwartet, daß sich unter deinen Fellen ein so hübscher Junge verbirgt."
Ich errötete über und über. „Das ist sehr großzügig von Euch, das zu sagen, Doña."
„So großzügig ist das gar nicht." Sie lachte leise. „Ich habe nachgedacht. Du mußt nach Madrid gehen, Alvaro. Aber dafür mußt du natürlich wissen, wie man sich an einem Hof benimmt. Zieh das aus."
Ich glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben, aber sie machte eine auffordernde Handbewegung. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie bezweckte, aber ich wagte auch nicht, ihr zu widersprechen, also begann ich, mich auszuziehen, während sie weitersprach.
„Ich werde dir alles beibringen, was du wissen mußt, Etikette, Lesen, Schreiben, Kleidung und was sonst noch wichtig ist. Dafür wirst du etwas für mich tun." Sie setzte sich auf und behielt mich mit einem halb ironischen, halb interessierten Blick im Auge. „Ich sagte dir ja bereits, daß ich erwarte, daß du dafür einen etwas vernachlässigten Garten pflegst. Und du wirst mich pflegen."
„Ihr seht nicht aus, als bräuchtet Ihr Pflege, Doña," brachte ich hervor. Mittlerweile war ich nackt.
Doña Ana hatte sich von ihrem Bett erhoben und kam auf mich zu. „Du bist ja richtig unschuldig," rief sie fast ein wenig gerührt aus, während sie mich sehr eingehend musterte. „Und außerdem ein sehr attraktiver Mann."
Es war mir fürchterlich unangenehm, daß man sehr deutlich sehen konnte, wie ich auf ihre Worte reagierte.
Sie nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis, sagte jedoch kein Wort dazu. „Weißt du, ich bin eine sehr einsame Frau," fuhr sie fort zu sprechen. „Mein Gatte interessiert sich nicht mehr für mich, falls er es jemals überhaupt getan haben sollte, ich habe in den letzten Jahren drei meiner Kinder begraben müssen, die beiden überlebenden werden in Madrid erzogen, so daß sie mir vollkommen fremd vorkommen. Ich bin dieses Leben leid, Alvaro, ich will jetzt meinem Vergnügen frönen." Der traurige Tonfall in ihrer Stimme wich. „Und ich denke, daß du der Richtige bist, um mir dabei zu helfen."
Es bereitete mir große Schwierigkeiten zu sprechen. „Was immer Ihr von mir verlangt, ich tue es, Doña."
„Das klingt vielversprechend." Sie griff nach meiner Hand und führte mich zum Bett. „Du bist noch niemals mit einer Frau zusammengewesen, nicht wahr?"
„Nein." Ich wollte sie so sehr, hatte jedoch keine Ahnung, was ich tun sollte.
Sie legte mir ihre Arme um den Nacken und zog meinen Kopf zu sich herunter. Dann küßte sie mich, zuerst vorsichtig, dann immer hungriger werdend. Sie machte beinahe eine Lehrstunde des Küssens daraus. Schließlich ließ sie sich nach hinten gleiten und zog mich mit sich.
Sie leitete meine Hände unter ihren Überwurf und zeigte mir, wo sie berührt werden wollte. Sie war eine ausgezeichnete Lehrmeisterin, und als sie mir den Weg gewiesen hatte, und sich unsere Körper vereinigten, war ich bereits leidenschaftlich in sie verliebt.
Ich sollte es Euch wohl nicht in diesen Einzelheiten erzählen, nicht wahr, Padre?« Don Alvaro blickte mich unsicher an.
»Nein, mein Sohn, du tust gut daran, denn ich muß alles wissen,« antwortete ich ihm. »Wenn du etwas vor mir verbirgst, kann ich dir nicht die Absolution erteilen.«
»Ich blieb über vier Jahre in Lima, und die ganzen vier Jahre war ich der Geliebte der Gemahlin des Vizekönigs. Doña Ana und ich, wir sprachen niemals über Gefühle. Ich weiß nicht, was sie für mich empfand, wenn sie überhaupt etwas für mich empfand.
Ich liebte und begehrte sie mit einer Leidenschaft, zu der wohl nur sehr junge Männer fähig sind. Ich litt Höllenqualen, wenn sie mir ihrem Gemahl repräsentative Aufgaben wahrnahm oder ihre Freunde empfing. Dann hatte ich wilde Phantasien über eine Flucht mit ihr zusammen in den Urwald, wo wir glücklich miteinander leben würden, aber ich wagte niemals, ihr diese mitzuteilen, weil sie ja doch nur gelacht hätte.
Ich besuchte sie immer zur Siesta, niemals abends. Dabei instruierte sie mich über höfische Gepflogenheiten, erteilte mir Unterricht in Sprachen und anderen Dingen und früher oder später landeten wir dann beide in ihrem Bett.
Im Laufe der vier Jahre verlor ich mehr oder weniger mein Ziel, nach Madrid zu gehen, um meine Eltern zu rehabilitieren, komplett aus den Augen.
Es hätte eigentlich immer so weiter gehen können. Der Vizekönig schien von all dem nichts zu merken; möglicherweise war es ihm auch gleichgültig.
„Es wird Zeit für dich, deinem Stern zu folgen und fortzugehen," sagte Ana eines Tages, während wir zwischen zerwühlten Laken wieder zu Atem zu kommen versuchten.
„Ihr schickt mich fort, Doña?" fragte ich bestürzt.
„Du bist hier gewesen, um alles zu lernen, was notwendig ist, um in Madrid bestehen zu können." Sie strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Mehr als ich schon getan habe, kann ich dir nicht mehr beibringen."
„Aber...," ich wußte nicht, was ich sagen sollte, „... ich will Euch nicht verlassen, ich bete Euch an, Ana." In meiner Verwirrung sprach ich sie das erste Mal mit Vornamen an.
„Ich glaube dir, daß du es in diesem Augenblick ernst meinst, Alvaro." Ihr Lächeln war traurig. „Du bist so jung. Die Frauen in Madrid werden vor dir in die Knie gehen, wenn du sie nur anlächelst. Wie soll eine Frau deinen Augen widerstehen können?"
„Ich werde niemals eine andere Frau lieben können," stieß ich hervor. „Wie sollte ich eine Frau so lieben können wie dich?" Es war mir gar nicht so recht bewußt, daß ich ihr in diesem Augenblick meine Gefühle gestand.
„Ach, Alvaro," Ana lachte ein wenig melancholisch, „man liebt jede Person auf eine andere Weise."
„Trotzdem lasse ich nicht zu, daß du mich fortschickst." Ich griff nach ihr und liebte sie so leidenschaftlich, so verzweifelt, um sie davon zu überzeugen, daß sie mich nicht gehen lassen konnte, weil sie mich brauchte.
Doch kaum hatte ich sie aus meinen Armen entlassen, da wiederholte sie sehr beherrscht: „Du mußt nach Madrid."
Ich wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Hätte ein weiterer Widerspruch nun noch irgend etwas verändern können?
Drei Wochen später mußte ich auf Anas Drängen in Richtung der Atlantikküste abreisen. Wenige Stunden, bevor ich abreiste, traf ich ein letztes Mal mit Ana zusammen. Das erste Mal seit vier Jahren fand dieses Treffen nicht in ihrem Schlafgemach statt, sondern in ihrem Salon.
Ich kniete vor ihrem Sessel nieder und lehnte den Kopf gegen ihren Körper. „Ich werde Euch jeden Tag schreiben," versprach ich mit Tränen in den Augen.
Ana lächelte wissend. „Sicher, mein Lieber." Sie hob meinen Kopf in die Höhe und blickte mir für eine unendlich lange Zeit ins Gesicht, so als wollte sie sich jede Einzelheit einprägen.
„Ich kehre zurück, Ana. Ich komme zu Euch zurück." Meine Stimme brach beinahe. „Irgendwann." Dann sprang ich auf und stürzte aus dem Raum. Ich wollte nicht, daß sie meine Tränen sah.
Mit einem schweren Herzen verließ ich an diesem Tag Lima. Als ich am Abend in einem Gasthaus übernachtete, fand ich zwischen den Koffern, in denen sich die Kleidung befand, die Ana mir in all den Jahren gekauft hatte, einen Beutel mit Gold. Ana hatte dafür gesorgt, daß ich als reicher Mann nach Spanien reiste.
Ich erreichte die Atlantikküste rasch, doch jede Stunde, die ich fern von Ana war, fühlte ich mich einsam, verlassen und verzweifelt. Ich schrieb ihr nicht täglich, sondern zwei bis drei Briefe am Tag und erhielt doch niemals eine Antwort. Ich starb beinahe, so sehr vermißte ich Ana, und in mir fraß mich die Eifersucht fast auf. Ich dachte mir, wenn sie es nicht für notwendig hielt, mir Briefe zu schreiben, lag es daran, daß sie einen Ersatz für mich in ihrem Bett gefunden hatte, und so hörte ich in dem Moment auf, ihr zu schreiben, in dem ich das Schiff nach Spanien bestieg.
Die Eifersucht suchte mich noch während der gesamten Überfahrt heim, aber sie wich immer mehr einer tiefen Dankbarkeit Ana gegenüber. Sie hatte mir soviel gegeben, Stolz auf meine Herkunft, Bildung, Manieren, mit denen ich in der Gesellschaft bestehen konnte, daß ich mich mühsam dazu zwang, meine Eifersucht herunterzuschlucken.
Nach einer eintönigen Reise erreichte mein Schiff Cadiz, wo ich es verließ, eine Reisekutsche mietete und auf diesem Weg nach Madrid reiste. Ich wußte nicht so genau, was ich von Spanien, der Heimat meines Vaters, halten sollte. Es war so anders als das Land, in dem ich geboren worden war. Auch die Menschen waren anders. In den Kolonien geht man viel ungezwungener miteinander um, so daß mir Spanien sehr steif vorkam.
Endlich erreichte ich Madrid, es war kurz vor Einbruch des Winters, mietete mir eine kleine Wohnung und sprach bei Hofe vor. Ich war zwar längst nicht mehr so naiv wie damals in Lima, daß ich einfach in den Palast hinein marschiert wäre. Auch hatte Ana mir einige Ratschläge gegeben, aber die Sache war alles andere als leicht.
Ein skurriles Detail am Rande ist, daß die Personen, die meine Herkunft nicht erkannten, mich unweigerlich für einen Katalanen hielten; irgendwie hatte ich wohl Anas leichten Akzent übernommen.
Meine Mißerfolge frustrierten mich in immer größerem Maße, bis, ja, bis etwas geschah, das all meine Pläne mit einem Schlag für unwichtig und belanglos erscheinen ließ.
Ich diskutierte gerade mit einem dieser Vorzimmersekretäre, als sich die Tür öffnete, und das engelsgleichste Wesen, dem ich jemals begegnet bin, trat heraus. Sie war nicht sehr groß, hatte dunkles Haar, ein herzförmiges Gesicht und die wunderschönsten Augen, die ich jemals gesehen habe.
Ich wollte sie, ich wollte sie vom allerersten Moment an, aber auf eine andere Weise, als ich Ana gewollt hatte. Ich wollte sie nicht leidenschaftlich in meinen Armen halten und wollüstig seufzen hören, sondern mit ihr den Rest meines Lebens verbringen.
Sie nahm mich auch wahr, obwohl sie schüchtern den Blick senkte. Ich verneigte mich in ihre Richtung und spürte das brennende Verlangen in mir, sie wiederzusehen.
Die Gelegenheit dazu bot sich wenige Tage später, als ich sie in Begleitung ihrer Tante im Park des Escurials wiedertraf. Ich wußte, diesmal mußte ich mit ihr sprechen, aber wie sollte ich das anstellen?
Ich dachte an die Dinge, die Ana mir beigebracht hatte, verspürte kurz ein schlechtes Gewissen, daß ich meinen Schwur der ewigen Liebe, den ich Ana geleistet hatte, so einfach über Bord gehen ließ und griff zum ältesten Kniff der Welt: ich ließ mein Taschentuch fallen und gab vor, sie hätte es verloren.
Ich kam auf diese Weise mir ihr ins Gespräch, erfuhr ihren Namen, und ehe ich mich versah, war ich ins Haus ihres Vaters eingeladen.
Ich hatte das Gefühl, vor Glück zerspringen zu müssen, ich liebte Leonora di Vargas bereits jetzt rettungslos, und ich wußte, mein Schicksal würde von nun an von ihr abhängen.
Mein Glück währte nicht lange. Ich hatte kaum das Haus der di Vargas betreten, da wies mich der Marquès auch schon wieder hinaus. Er beschimpfte mich auf das Gröbste, nannte mich einen Mestizen und Bastard und noch einiges anderes.
Ich ging. Ich ging kochend vor Wut und zutiefst in meiner Ehre gekränkt. Vielleicht, ich weiß nicht, hätte ich anders reagiert, wenn ich aus anderen Gründen zurückgewiesen worden wäre, aber wegen meiner Herkunft sollte ich nicht gut genug sein für die Tochter des Marquès di Calatrava? Ich war der Sohn der letzten Inka-Prinzessin. Ich war der legitime Erbe des Inka-Reiches und war nicht gut genug für einen Marquès?
Ich weiß nicht, was in mich fuhr, beim Davonstürmen von einer Kommode eine Miniatur Leonoras einzustecken, ich war in diesem Moment nicht ganz bei mir. Vielleicht wollte ich mir und auch dem Marquès beweisen, daß ich sehr wohl in der Lage war, meine Hände auf etwas zu legen, was mit Leonora zu tun hatte.
Für einige Tage war ich wahrhaft nicht in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, bis ich hörte, daß Leonora nach Calatrava zurückgekehrt war. Ich mußte gar nicht lange nachdenken, einen Wagen zu mieten und nach Sevilla zu reisen, war eine einzige Handlung.
Inzwischen weiß ich, wie sehr ich Leonora mit meinem Ansinnen überfiel, denn kaum, daß ich in Calatrava angelangt war, bat ich sie, mit mir fortzugehen und mich auch gegen den Willen ihres Vaters zu heiraten. Um dies zu erreichen, hätte ich beinahe alles getan, fast hätte ich sie sogar gleich dort im Garten zu der Meinen gemacht, doch ihre Küsse machten mir deutlich, wie unschuldig sie noch war, und keinesfalls wollte ich ihr vor unserer Vermählung auf dem nackten Boden die Unschuld nehmen.
So machte ich mich von ihr los und besprach mit ihr unsere Flucht.
An jenem verhängnisvollen Abend, für den ich unsere Flucht geplant hatte, zögerte Leonora lange, mich zu begleiten. Es dauerte zu lange, bis ich sie überzeugt hatte, daß es für unsere Liebe keine andere Lösung als die Flucht gab, denn bevor wir fliehen konnten, kam der Marquès mit seinen Leuten ins Zimmer gestürmt.
Er... er kam nicht einmal auf die Idee, mich zu fordern, weil ich mich mitten in der Nacht im Schlafgemach seiner Tochter aufhielt, er wollte mich von seinen Dienern verprügeln lassen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, ich war mir aber bewußt, daß ich mit der Pistole in der Hand, die ich gezogen hatte, um mich zu verteidigen, nicht vernünftig mit ihm reden konnte.
Also warf ich die Waffe von mir, sie schlug auf dem Boden auf, und ein Schuß löste sich. Wie gelähmt vor Entsetzen mußte ich zusehen, wie der Marquès zu Boden stürzte.
Leonora schrie auf, und ich war nur in der Lage zu denken: „Mein Gott, was habe ich getan!"
Noch während der Marquès Leonora verstieß und verfluchte, fand ich meine Geistesgegenwart wieder. Ich ergriff ihr Handgelenk und zerrte sie aus dem Haus, einfach mit mir fort.
Ich wollte zu den Pferden, die ich besorgt hatte, doch irgendetwas, vielleicht die gleiche Gabe, die mich als Kind hatte im Dschungel überleben lassen, ließ mich von diesem Plan abweichen. Ich wußte auf einmal, daß sie die Pferde gefunden hatten, daß man dort auf uns warten würde, und so schlug ich einen anderen Weg ein, aber mir wurde bald klar, daß Leonora und ich zusammen nicht entkommen konnten. Ich war bereit, für sie mein Leben zu riskieren, aber nicht ohne jede Erfolgsaussicht. Ich flüsterte ihr zu, sie solle sich nach Sevilla durchschlagen, während ich die Verfolger auf eine falsche Fährte locken würde. Sie wollte sich nicht von mir trennen, und erst als ich sie mit sanfter Gewalt dazu zwang, machte sie sich auf den Weg.
Ich schlug unterdessen einen Bogen, bis ich auf unsere Verfolger stieß. Durch Bäume, Büsche und das Dunkel der Nacht geschützt, schlich ich neben ihnen her, bis ich mit Absicht auf einen Zweig trat und dann davonrannte.
Die Diener von Calatrava nahmen die Verfolgung auf. Sie kannten das Geländer zwar besser als ich, aber sie hatten nicht im Dschungel gelebt, sie wußten nicht, wie man sich lautlos und unsichtbar bewegen konnte. Hin und wieder sorgte ich dafür, daß sie mich weiter verfolgen konnten, indem ich Zweige knacken ließ oder die Blätter zum Rascheln brachte.
Ich hätte ewig so weitermachen können, wäre nicht auf einmal das Unterholz zuende gewesen, wodurch ich vollkommen unerwartet keine Deckung mehr hatte. Mir blieb keine Wahl, denn umzukehren, hätte geheißen, meinen Verfolgern in die Hände zu fallen. Ich atmete einmal tief durch und begann loszulaufen.
Beinahe hätte ich die andere Seite der Lichtung erreicht, da spürte ich auf einmal einen scharfen Schmerz in meinem Rücken. Den Schuß, der den Schmerz verursacht haben mußte, hatte ich kaum vernommen, doch als ich mit meiner Hand die Ursache des Schmerzes ertasten wollte, war mein ganzer Rücken voller Blut.
Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie ich meinen Häschern entkam, ich sehe mich nur orientierungslos durch den Wald laufen und nach einer unendlichen Zeit gegen eine Tür schlagen.
Ich muß das Bewußtsein verloren haben, denn als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem breiten Bett, vor dem eine junge Frau in offenherziger Kleidung saß. Als sie sah, daß ich die Augen geöffnet hatte, sprang sie auf, lief aus dem Raum und kam mit einem guten Dutzend anderer Personen wieder. Die meisten von ihnen waren junge Frauen, abgesehen von einem sehr hübschen Jungen und einer älteren Dame.
„Ah, unser Patient ist erwacht," sagte die ältere Frau. „Wie geht es Euch, Señor?"
„Ich weiß nicht recht." Ich war noch sehr verwirrt. „Wo bin ich? Wie lange war ich bewußtlos?"
„Nun, es mag Euch schockieren, oder auch nicht, Ihr habt an die Tür meines Etablissements geschlagen und seid verletzt zusammengebrochen. Meine Mädchen und Juanito haben sich um Euch gekümmert."
Ich benötigte einen kurzen Moment, um zu verstehen, was sie meinte. Meine Ausbildung bei Ana war sehr umfassend gewesen, auch wenn ich ein derartiges Haus bisher noch nicht betreten hatte. „Ich bin in einem Bordell?"
„Dem exklusivsten von ganz Sevilla kann ich mit Stolz sagen. Ich bin Doña Mercedes," stellte sie sich vor. „Die gesamte Aristokratie besucht mein Haus, um meine Mädchen oder auch Juanito zu sehen, aber Ihr müßt Euch keine Sorgen machen. In Calatrava hat man jetzt andere Sorgen, als hierher zu kommen."
Ich richtete mich auf voller Entsetzen darüber, daß sie wußte, wer ich war, doch sie bedeutete mir zu schweigen und schickte die anderen aus dem Zimmer. „Ihr wißt also, wer ich bin," sagte ich, als ich mit Doña Mercedes allein war.
„Das war nicht schwer zu erraten, Don Alvaro."
„Und trotzdem habt Ihr mich aufgenommen?"
„Nun, Ihr wart verwundet und habt an meine Tür geklopft. Wie hätte ich Euch da Hilfe verweigern können?" antwortete sie einfach. „Zudem habe ich volles Verständnis für Eure Handlungsweise, denn schließlich wechseln bei mir die Leute die Straßenseite, wenn ich vorbeikomme."
„Es war ein Unfall," wandte ich ein.
„Sicher." Es war deutlich, daß sie mir nicht glaubte. „Der Marquès hat schon lange den Tod verdient. Er hat mir mehr als einmal eines meiner Mädchen halb totgeschlagen, weil sie nicht tat, was er wollte."
„Wie lange war ich bewußtlos?" fragte ich, denn so langsam kehrte jede schmerzhafte Erinnerung wieder. Wo war Leonora, was war mit ihr geschehen?
„Fast drei Tage. Eure Wunde ist ziemlich schwer."
„Ich muß aufstehen," brachte ich mit trockenem Mund hervor. Der Gedanke, daß Leonora allein und hilflos durch Sevilla irrte oder gar den Häschern ihres toten Vaters in die Hände gefallen war, erschien mir unerträglich.
„Ihr könnt nicht aufstehen." Mit sanfter Gewalt drückte sie mich aufs Bett zurück.
„Aber Leonora... Ich muß sie suchen."
„Mein lieber Don Alvaro, zum einen würdet Ihr vermutlich verbluten, wenn Ihr jetzt aufstündet, und zum anderen würde man Euch in dem Augenblick töten, in dem Ihr auch nur einen Fuß nach Sevilla setztet."
„Aber..."
„Ich werde Juanito schicken, damit der Erkundigungen einzieht. In Ordnung?"
Ich nickte resignierend, obwohl es mir ganz und gar nicht gefiel, daß mein Wissen, was mit Leonora geschehen war, von der Geschicklichkeit eines Lustknaben abhängen sollte.
Doña Mercedes verließ mich, aber den ganzen Tag über nutzten ihre Mädchen jede Gelegenheit, in mein Zimmer zu schlüpfen, um mit mir zu sprechen. Ich habe keine Ahnung, was sie damit bezweckten, bemühte mich aber, sie höflich zu behandeln. Es fiel mir allerdings sehr schwer, denn alle meine Gedanken waren bei Leonora und dieser entsetzlichen Nacht. Ich hatte ihren Vater getötet, sie mußte mich hassen, und ich hatte sie verraten, indem ich sie irgendwo verlassen hatte.
Gegen Abend kehrte Doña Mercedes zu mir zurück. „Leonora di Vargas ist wie vom Erdboden verschwunden," begann sie ohne Umschweife. „Sie hält sich weder bei einer alten Verwandten in Sevilla auf noch bei ihrem alten Beichtvater. Und... die Diener im Haus der alten Verwandten sagen, daß die Tante ausgerufen haben soll, Leonora sei tot."
„Nein!" stieß ich hervor. „Nein!" Etwas krampfte sich in mir zusammen. Leonora nicht mehr am Leben ? Aber das konnte doch nicht sein. Sie konnte nicht tot sein, sie konnte einfach nicht. Wieso war ich am Leben geblieben und sie nicht? Wie konnte Gott das zulassen, daß sie, der Inbegriff der Unschuld, sterben mußte, und ich, der Mörder, der Ehebrecher, der Dieb, am Leben festhielt?
„Es tut mir leid, Don Alvaro." sagte Doña Mercedes und nahm meine Hände. „Mir ist bewußt, daß es für Euch jetzt unwichtig ist, was mit Euch geschieht, aber es ist nicht unwichtig. Sobald Ihr genesen seid, müßte Ihr Sevilla, nein, besser Spanien verlassen. Der Sohn des Marquès Don Carlos di Vargas ist ein Mann von großer Familienehre." Sie schnitt kurz eine Grimasse. „Er wird Rache nehmen an Euch."
„Soll er," entgegnete ich tonlos.
„Oh, nein, Don Alvaro, ich werde das nicht zulassen." Sie wirkte auf einmal sehr beherrschend. „Ihr solltet nach Eurer Genesung fortgehen. Italien wäre gut, Venedig zum Beispiel. Ihr könntet dort zur Besinnung kommen."
Ich wandte den Kopf ab und starrte die Wand an. Ich wollte nichts weiter als sterben und konnte es nicht, denn dazu war die Wunde nicht tief genug. Zum Aufstehen, um nach einer Waffe zu suchen, fehlte mir die Kraft.
Und so blieb ich in diese Bett liegen, apathisch, schweigsam, und doch umsorgt von den Mädchen der Doña Mercedes. Einige von ihnen und auch Juanito boten sich mir kostenlos an, damit ich bei ihnen ein flüchtiges Vergessen finden konnte, aber ich lehnte ab, obwohl ich kurz darüber nachdachte. Aber es wäre mir wie ein weiterer Verrat an Leonora und meiner Liebe zu ihr erschienen.
Nach etwa einen Monat teilte ich der Doña mit, daß ich mich entschlossen hatte, nach Venedig zu reisen. Ich mußte fort aus Spanien, und in diesem Bordell konnte ich mich auch nicht für immer vor dem wahren Leben verstecken.
Doña Mercedes besorgte mir eine Kutsche, und dann gab es einen tränenreichen Abschied von den Mädchen und auch von Juanito. Ich weiß nicht, was ich getan hatte, um in ihnen eine so tiefe Zuneigung hervorzurufen, aber sie wollten mich kaum gehen lassen. Von Doña Mercedes verabschiedete ich mich mit einer formvollendeten Verbeugung und einem Handkuß, was sie zu rühren schien.
Und dann trug mich die Kutsche fort von Sevilla, von dem Ort, an dem ich mein Glück hätte finden sollen und nichts als Tod und Verderben gesät hatte. Leonora, ich hatte sie verloren, hatte dafür gesorgt, daß sie vorzeitig zu dem Engel wurde, der sie schon auf Erden zu sein schien.
Ich traf während meiner Reise keinerlei Vorsichtsmaßnahmen, ja, ich reiste sogar unter meinem wirklichen Namen. Es war mir gleichgültig, ob meine Verfolger mich fanden oder nicht, doch niemand nahm Anstoß an meinem Namen.
Nach einer langen Reise erreichte ich Venedig. Ich weiß nicht, ob Ihr schon einmal dort gewesen seid, Padre, aber es gibt keine Stadt, die dem Tode näher zu sein scheint als Venedig im Herbst. Der Nebel, der über der Lagune liegt, die drohenden Schatten der Palazzi..
All das entsprach meiner Stimmung sehr. Mehr als einmal stand ich an einem der canali und war bereit, meinem unseligen Leben ein Ende zu machen, doch dann fehlte mir immer wieder das letzte Quentchen Mut.
Eines Abends war ich dann jedoch fest entschlossen, es zu tun. Ich stand am Kai des Campo San Stefano, es wäre nur ein Schritt vonnöten gewesen, ein einziger Schritt... Alles wäre zuende gewesen, kein Unglück mehr, mit Leonora wieder vereint sein, keine Zukunft voller entsetzlichem Leidens...
„Ich vermute das Wasser ist ziemlich kalt um diese Jahreszeit," hörte ich auf einmal die Stimme einer Frau dicht neben mir.
Ich fuhr herum und starrte sie voller Zorn an. Wie konnte sie mich einfach ansprechen? Ich hatte keinen Blick für ihre dunkle Schönheit, die Glut in ihren Augen oder das herausfordernde Lächeln auf ihren Lippen.
„Ich würde wenigstens bis zum nächsten Sommer warten." fuhr sie fort.
„Ich will nicht baden, ich will mich umbringen," murrte ich und mußte auf einmal wegen der Albernheit dieser Bemerkung lächeln.
„Du bist ja richtig hübsch, wenn du lächelst." In ihrem Italienisch schwang ein spanischer Akzent mit. Das ließ mich vermuten, daß sie nicht die Straßendirne war, die ich in ihr vermutet hatte.
„Vielen Dank, Señorita," antwortete ich in Spanisch.
„Ein Landsmann," rief sie ebenfalls in Spanisch aus. „Ein Grund mehr, daß ich dich nicht ins Wasser gehen lasse. Du hast jemanden verloren, nicht wahr?"
„Ja, das habe ich." Ich wollte nicht darüber sprechen, schon gar nicht mit dieser Fremden.
Ohne Scheu griff sie nach meiner rechten Hand und besah sich die Handfläche.
„Was soll das?" fragte ich.
„Ich bin Zigeunerin, und ich lese aus der Hand," erwiderte sie. „Du hast eine Frau verloren, aber du wirst sie wiedersehen."
Ich riß meine Hand fort. „Sie ist tot."
„Und trotzdem steht in deiner Hand geschrieben, daß du sie wiedersehen wirst."
„Ein Grund mehr, in dem fortzufahren, bei dem du mich gestört hast," murmelte ich.
„Selbst wenn deine Hand sagen würde, daß du sie erst im Jenseits wiedersehen wirst, darfst du dich nicht umbringen." Sie schien wirklich zu glauben, was sie sagte. „So wie du aussiehst, ist die, die du verloren hast, ein Engel gewesen."
„Ja, sie war der reinste der Engel," bestätigte ich düster.
„Dann ist sie zweifellos im Himmel."
„Ich würde jeden töten, der es wagte, etwas anderes zu behaupten."
„Selbstmörder kommen nicht in den Himmel," sagte sie. „Also wirst du sie nicht wiedersehen, wenn du dich umbringst." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küßte mich frech auf den Mund und verschwand in der dunklen Nebelschwaden.
Ich blieb unbeweglich stehen. Die fremde Frau hatte etwas gesagt, was einer gewissen Wahrheit nicht entbehrte. Sie hatte recht, ich durfte mich nicht umbringen, soviel erinnerte ich noch aus meiner Zeit im Waisenhaus. Ich konnte, wenn es wirklich ein Leben nach dem Tode geben sollte, sie dort nur wiedersehen können, wenn ich nicht selbst mein Leben beendete.
Aber wenn das jemand anderes tun würde? Wenn ich... ja, wenn ich Soldat wäre, in einem Krieg kämpfen würde, wenn ich gegen die Deutschen kämpfte und dabei fiele...
Am nächsten Tag meldete ich mich freiwillig. Als man mich nach meinem Namen fragte, antwortete ich aus einem Impuls heraus: „Herreros, Don Federico Herreros." Don Alvaro de las Moras war auf einmal spurlos verschwunden.
Sie ernannten mich, nur Gott in seiner unendlichen Weisheit wird die Gründe hierfür kennen, zum Fähnrich. Ich hatte keinerlei soldatische Erfahrung, auch von der irrsinnigen Strategie eines Krieges, für den ich nicht einmal den Grund kannte, verstand ich nichts, aber man vertraute mir das Kommando über einen Haufen von Männern an, die wesentlich mehr Erfahrung besaßen als ich, dafür aber keinen „Don" vor dem Namen.
Ich sagte mir, daß es nicht lange dauern könnte, bis sie jemanden als Offizier bekamen, der geeigneter war als ich, denn ich hatte mir ja in den Kopf gesetzt, auf dem Schlachtfeld zu sterben. Das erwies sich jedoch als gar nicht so einfach, denn in meiner ersten Schlacht stürmte ich so weit an der Spitze meiner Männern voran, daß ich mehr aus Versehen die feindlichen Linien durchbrach und auf einmal vor der Fahne der Feinde stand. Niemand kümmerte sich um mich; die deutschen Soldaten waren zu sehr damit beschäftigt, meine Männer abzuwehren, die mir aus blindem Gehorsam gefolgt waren. Irgendwie konnte ich nicht widerstehen und griff nach der Fahne. Unbehelligt konnte ich mit dieser in unser Lager zurückkehren.
Unverständlicherweise hielt man dort meinen Sturm durch die feindlichen Linien für eine Heldentat und zeichnete mich für meinen Mut und meine Entschlossenheit aus.
So ging das über viele Monate; ich beging irgendeine Tollkühnheit, um endlich den so ersehnten Tod zu finden, aber was ich auch tat, eine Gottheit mit seltsamem Humor ließ die Menschen um mich herum sterben, ich aber ging aus jeder Schlacht ohne auch nur einen Kratzer hervor. Ich wollte Selbstmord begehen und wurde doch immer mehr zu einem militärischen Helden.
Innerhalb kürzester Zeit hatte ich den Rang eines Capitàns der Grenadiere, wurde bewundert und hatte nur den verzweifelten Wunsch, daß eine verirrte Kugel mich von meinem Leiden erlösen sollte.
Doch dann kam es zu einem Ereignis, der meinen Todeswunsch Stück für Stück verschwinden ließ. Ich hatte mich am Rande unseres Lagers niedergelassen und dachte wie so häufig an mein verlorenes Glück.
Irgendwo spielten ein paar Männer Karten, ihre Kommentare waren zu laut, als daß ich sie vollends hätte überhören können, doch ich ignorierte sie, so gut es ging.
Plötzlich riß mich ein heftiger Streit dort aus meinen Gedanken. Dann rief ein Mann um Hilfe, und da ich mir fast vorstellen konnte, was geschehen war, griff ich nach meinem Degen. Mit ein paar Schritten war ich am Orte des Geschehens und sah, wie ein Mann in der Uniform des Generalstabes versuchte, sich gegen drei Männer zur Wehr zu setzen. Es war unübersehbar, daß der Einzelne keine Chance hatte, denn die anderen drei waren dabei, mit ihren Degen auf ihn loszugehen.
Der erste hatte gerade zum ersten Hieb ausgeholt, als ich auch noch feststellte, daß der Angegriffene nicht einmal bewaffnet war. „Halt!" rief ich mit der Kommandostimme, die ich mir in den letzten Monaten angewöhnt hatte. „Was geht hier vor?"
Die drei Männer fuhren herum und starrten mich an. Dann schien mich einer von ihnen zu erkennen. Er sagte etwas in schnellem Neapolitanisch zu seinen Kumpanen, woraufhin alle drei die Flucht ergriffen.
Ich ließ meinen Degen wieder in die Scheide gleiten und wandte mich dem Angegriffenen zu. „Sie sind geflohen. Seid Ihr verletzt?"
„Nein." Er schüttelte den Kopf, und ich hatte Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Er war etwas kleiner als ich, hatte dunkles lockiges Haar, hellbraune Augen und eine sehr aristokratische Ausstrahlung. Seine Art, sich zu bewegen, erinnerte mich vage an jemanden, aber ich konnte nicht sagen an wen. „Ich verdanke Euch mein Leben."
„Wer waren die?" Ich deutete mit dem Kopf in die Richtung, in die die Angreifer verschwunden waren.
„Mörder," antwortete der Unbekannte ausweichend.
„So nah am Lager?" Ich hob ironisch die Augenbrauen.
„Nein, ich will ehrlich sein. Es war ein Streit beim Kartenspiel." Es schien ihm schwer zu fallen, dies zuzugeben.
„Das wundert mich gar nicht. Aber wie konnte sich ein Mann wie Ihr mit solchem Pack einlassen?"
„Ich bin gerade erst angekommen mit den Befehlen des Generals. Darf ich fragen, wem ich mein Leben verdanke?"
„Dem Zufall?" stellte ich eine Gegenfrage.
„Wie Ihr wollt. Dann werde ich Euch zunächst meinen Namen nennen. Don Felice de Bornos, Adjutant des Generals."
Ich nannte ihm meinen Namen, natürlich den, unter den ich im Heer bekannt war.
„Der Stolz der Armee," rief er aus. „Ich habe schon viel von Euch gehört."
„Señor?" fragte ich irritiert.
„Ich habe mir gewünscht, Eure Bekanntschaft zu machen," sagte er und blickte mich auf eine seltsame Weise an. „Jetzt begehre ich sogar Eure Freundschaft, um die ich bitte, weil ich sie mir sehr erhoffe."
Seine etwas gedrechselte Sprechweise zeigte mir, daß er am Hof gelernt haben mußte. Er war ein Mann von hohem Stand. „Ich würde stolz darauf sein."
„Darf ich Euch heute abend zu einem Wein in die Schenke einladen? Ich habe jetzt noch etwas zu erledigen."
„Warum nicht?" Ich lächelte ihn an. Es war merkwürdig, wie schnell ich Vertrauen zu diesem fremden Mann faßte. Ich war noch niemals mit einem Mann befreundet gewesen, immer hatte ich alle Personen auf Abstand gehalten, aber diesmal war dieser Don Felice mit solcher Gewalt in mein Leben gedrungen, daß mir wenig übrig blieb, als mich seinem Freundschaftsangebot zu ergeben.
Dem ersten Abend in der Schenke, an dem Don Felice noch sehr zurückhaltend erschien, folgten weitere, an denen wir einander unsere Leben erzählten... bis zu einem gewissen Grad natürlich. Ich sprach über meine soldatische Laufbahn, und daß ich in den Kolonien geboren wurde, aber selbstverständlich weder über meine Herkunft noch über Sevilla und Leonora. Über diese Dinge war ich nicht bereit zu sprechen.
Felice und ich, wir wurden bald schon als „die Unzertrennlichen" bezeichnet. Wir verbrachten unsere freie Zeit gemeinsam, wir kämpften Seite an Seite, und mir wurde immer mehr bewußt, daß auch er in seiner Vergangenheit ein dunkles Geheimnis haben mußte, doch ich fragte nicht. Wir hatten eine stillschweigende Übereinkunft, daß über die Vergangenheit nur soweit gesprochen wurde, wie derjenige, den es betraf, von selbst dazu bereit war.
Ich bemerkte, daß ich mich jedesmal darauf freute, mit Felice zusammenzusein, daß ich bei Neuigkeiten das dringende Bedürfnis hatte, sie ihm zu erzählen, und daß ich ihn vermißte, wenn er zum Generalstab mußte. Klammheimlich hörte ich mit meinen selbstmörderischen Angriffen auf die Stellungen des Feindes auf. Mein Todeswunsch war zwar durchaus noch vorhanden, aber in weitaus geringerer Ausprägung als zuvor.
Doch dann geschah etwas, das unsere Freundschaft um ein Haar beendet hätte.
Wir hatten einen Sieg errungen in einer Schlacht, die für unsere Generale mehr als wichtig war, so daß sie alle Kräfte in diese Schlacht schickten, und wir hohe Verluste davontrugen. Felice und ich waren jedoch unverletzt geblieben. Wir wußten beide, daß wir mehr Glück als Verstand gehabt hatten, und so saßen wir in meinem Zelt und tranken Wein.
Wir betranken uns sogar mit voller Absicht, denn daß der Angriff soviel Menschenleben gekostet hatte, belastete uns beide. Wir sprachen nicht viel an diesem Abend, obgleich ich rückblickend glaube, daß Felice mir etwas sagen wollte, doch er blieb stumm.
Irgendwann versuchte Felice, sich zu erheben, was ihm nur unter großen Schwierigkeiten gelang. „Ich glaube, ich kann nicht mehr gehen," sagte er mit sehr unsicherer Stimme.
„Warum übernachtest du nicht hier?" fragte ich, und diese Frage ist so ziemlich das letzte, woran ich mich in dieser Nacht erinnere.
Als ich erwachte, hatte ich eine vage Erinnerung daran, von Ana geträumt zu haben, zum ersten Mal seit vielen Monaten. Dann stellte ich fest, daß ich allein war, obwohl ich doch genau wußte, daß Felice bei mir übernachtet hatte. Und als letztes fiel mir auf, daß ich nackt war.
Diese drei Tatsachen schienen keinen Sinn zu ergeben, aber mir war aus unerfindlichen Gründen bewußt, daß sie in irgendeiner Weise zusammenhängen mußten. Außer Felice würde mir darauf aber niemand eine Antwort geben können, wenn ich nicht selbst darauf kam.
Mein Kopf war noch schwer vom Wein des vorangegangenen Abends, doch sobald ich mich angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg zu seinem Quartier. Dort teilte man mir mit, mein Freund habe sich entschlossen, den Generalstab aufzusuchen. Ich hinterließ eine Nachricht, er möge sich bei mir melden, wenn er zurückkehrte, und verbrachte den Tag in großer Unruhe.
Als Felice sich bei Einbruch der Dunkelheit noch immer nicht bei mir eingefunden hatte, ging ich erneut zu seinem Quartier. Im Gegensatz zu mir residierte er in einem requirierten Bauernhaus.
Tatsächlich fand ich ihn am Tisch sitzend und mit leerem Blick in die Gegend starrend. „Warum hockst du hier herum und kommst nicht zu mir?" fragte ich mit Strenge in der Stimme.
Felice blickte mich nicht an. „Bist du gekommen, um mich zu fordern?"
„Hast du den Verstand verloren?" wollte ich entsetzt wissen. „Weshalb sollte ich mich mit dir duellieren wollen?"
„Du kannst mir verzeihen, was ich in der letzten Nacht getan habe?" Er starrte mich ungläubig an.
„Was hast du denn in der letzten Nacht getan, außer dich zu betrinken?" Ich begann, mir mittlerweile wirkliche Sorgen über meine Gedächtnislücke zu machen.
„Du kannst dich nicht erinnern?" Er schluckte hörbar. „Oh, mein Gott!"
„Ich war wohl selbst ein wenig betrunken." Ich lächelte unsicher.
„Du botest mir gestern abend an, bei dir zu übernachten." Felice begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. „Ich... empfinde sehr viel für dich, Federico, und der Alkohol muß meine Hemmungen abgetötet haben." Er blieb stehen und holte tief Luft. „In der letzten Nacht... habe ich... dich geküßt und gestreichelt, und dann... dann habe ich mein Verlangen... bei dir gestillt."
Für eine halbe Ewigkeit war ich wie erstarrt. Ich hatte spätestens seit meinem Aufenthalt bei Doña Mercedes gewußt, daß es soetwas zwischen Männern gab, aber daß es mir passieren würde, daran hatte ich nicht im Traum gedacht. Und daß ausgerechnet Felice in der Lage war, mir dies anzutun, nur weil zufällig gerade die Gelegenheit dazu da war, schockierte mich zutiefst. Zu meiner Überraschung war ich weitaus entsetzter darüber, daß er die Situation ausgenutzt hatte als darüber, daß er es überhaupt getan hatte.
Die erste Bewegung, die ich machte, als ich mich wieder rühren konnte, war der Griff zum Degen.
„Ja, es wäre wirklich das Beste, wenn du meine ehrlose Existenz auf dieser Welt beenden würdest," stieß er in echter Verzweiflung hervor.
Ich ließ den Degen los und schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde dich nicht töten." Ich gab mir größte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. „Dazu bedeutest du mir nämlich zuviel. Ich könnte dir nicht weh tun."
„Du verzeihst mir?" Er schien tatsächlich darüber entsetzt zu sein. „Wer bist du nur, daß du soetwas fertigbringst?"
In diesem Moment wußte ich es. Ich wußte, daß es nur eine einzige Antwort auf diese Frage geben konnte, die ihn beruhigen würde, und die der Wahrheit entsprach. Es war anders als die beiden Male zuvor. Ana war ich deutlich unterlegen gewesen, und Leonora hatte ich mich so überlegen gefühlt, daß ich sie beschützen wollte, doch dieses Mal waren wir gleichwertige Partner. „Der Mann, der dich liebt, Felice?" fragte ich auf einmal ganz ruhig.
Ein Zittern fuhr durch seinen Körper, und er mußte nach der Tischkante greifen, um sich aufrecht halten zu können. „Ich habe niemals darauf zu hoffen gewagt, daß meine Gefühle erwidert werden könnten," stieß er mit tränenerstickter Stimme hervor.
„Das werden sie aber." Natürlich weiß ich, daß ich eigentlich in große Konflikte hätte geraten müssen, auf einmal festzustellen, daß ich mich in einen Mann verliebt hatte, aber ich bin ohne diesbezügliche Vorurteile aufgewachsen, und außerdem schien es das natürlichste der Welt zu sein, leidenschaftliche Gefühle für Felice zu haben. Ganz langsam ging ich auf ihn zu. „Allerdings wäre ich sehr dankbar, wenn du meine Erinnerung an die letzte Nacht etwas auffrischen könntest." Ich war so dicht an ihn herangetreten, daß sich unsere Lippen fast berührten.
Unsere Blicke trafen sich und hielten einander fest, bis Felice schließlich den nächsten Schritt machte und mich küßte. Es war kein wirklicher Unterschied, ob ich ihn küßte oder eine Frau, die ich liebte, abgesehen davon vielleicht, daß seine Küsse fordernder waren.
Anas Schule war in punkto Liebeskunst sehr ausgiebig gewesen; mir war daher kaum etwas fremd, was er mit mir tat, und es befriedigte mich ebenso wie ihn, Grund und Zeuge seiner Ekstase zu sein, die ihn unter meinen Berührungen erbeben ließ. Dann gab er seinen Körper mir vollständig preis, und mein, seit ich Ana verlassen hatte, in Askese lebendes Verlangen nahm das Angebot dankbar an. Und im Augenblick der Erfüllung war ich bereit, alles zu tun, damit diese Liebe niemals enden würde...
„Ich liebe dich so sehr, Federico." Es waren diese Worte Felices, die mich aus dem Traum der letzten Augenblicke erwachen ließen.
„Ich liebe dich auch," flüsterte ich und fühlte mich schuldig. Nicht weil ich bereits zum zweiten Mal in meinem Leben den Schwur immerwährender Liebe brach, sondern weil ich gestattet hatte, daß sich Felice in meine Lebenslüge des Kriegshelden Federico Herreros verliebt hatte. „Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst," begann ich, um ihm die Wahrheit zu sagen.
„Du bist alles, für das ich dich halte," erwiderte Felice voller Überzeugung.
Ich stieß ein kleines bitteres Lachen aus. „Mein Name ist nicht einmal Federico Herreros, in Wahrheit lautet er..."
Er brachte mich mit einem stürmischen Kuß zum Schweigen. „Ich will ihn nicht wissen," stieß er heftig hervor.
„Aber meine Vergangenheit..."
„Was ist die Vergangenheit? Es ist diese Gegenwart, in der wir zusammen sind, die zählt."«
Don Alvaro blickte mich an. »Ihr mißbilligt mein Verhalten, Padre? «
Ich bemühte mich, den Ekel von meinem Gesicht zu verbannen. Die Liebe zwischen Männern ist, wie Du weißt, mein Freund, eine der verdammniswürdigsten Sünden, die unsere Kirche kennt. Sodom ist deswegen von unserem Herrgott gestraft worden. »Dein Verhalten kann nicht gebilligt werden, mein Sohn.«
Auf Don Alvaros Gesicht war ein kurzer Anflug von Zynismus zu erkennen. »Dann wird Euch der Rest der Geschichte gefallen.
Felice und ich verbrachten nun nicht nur unsere Tage miteinander, sondern auch die Nächte. Ich wohnte praktisch in seinem Quartier, und wenn unseren Kriegskameraden irgendetwas auffiel, machten sie keinerlei Bemerkungen darüber. Ihnen schien es gleichgültig zu sein, ob wir nun die Nächte in der Schenke miteinander verbrachten oder im Bett.
Ich war glücklich in diesen Wochen, wie ich zuvor noch niemals gewesen war. Ich vergaß Ana, ich vergaß Leonora, und vor allem vergaß ich, daß ich eigentlich Soldat geworden war, weil ich sterben wollte, wenn ich in Felices Armen lag, wenn ich von ihm geliebt wurde und ihn wieder liebte.
Trotzdem wir uns geschworen hatten, in der Gegenwart zu leben, erwischten wir uns ein ums andere Mal dabei, wie wir Pläne schmiedeten für eine gemeinsame Zukunft, in der wir den Dienst quittieren würden, um irgendwo gemeinsam zu leben. Ich bin fast sicher, daß wir diese Pläne auch verwirklicht hätten, wenn ich nicht in dieser Schlacht verwundet worden wäre.
Es war so eine wirkliche Laune des Schicksals, daß mich die Kugel, auf die ich solange gehofft hatte, erst traf, als ich den Tod nicht mehr herbeisehnte.
Wir waren damit beschäftigt, einen schon seit Wochen umkämpften Hügel zurückzuerobern. Ich stürmte an Felices Seite gerade bergan, da hörte ich zwischen all den Schüssen einen Schuß deutlich heraus und verspürte gleich darauf einen Schmerz in der Brust. Ich dachte noch „Nicht wieder, nicht jetzt!", brach zusammen und verlor das Bewußtsein.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in Felices Quartier. Er blickte mit sorgenvoller Miene auf mich herunter und erzählte mir, ich würde bestimmt wieder auf die Beine kommen. Offenbar um mich zu beruhigen, erzählte er mir belanglose Dinge, bis er erwähnte, ich solle für meinen Mut mit dem Orden von Calatrava ausgezeichnet werden.
So lange hatte ich den Namen dieses verfluchten Ortes nicht mehr gehört, daß ich zusammenzuckte, mich aufzurichten versuchte und aufschrie: „Von Calatrava, niemals, niemals!"
Felice blickte mich verwundert an.
Doch der Name des verfluchten Ortes erinnerte mich an etwas, das mir auf einmal wichtiger erschien als alles andere. Wenn ich schon sterben mußte, und ich glaubte in diesem Moment wirklich, keine Stunde mehr zu leben, dann wollte ich wenigstens nicht andere Personen noch dem Skandal preisgeben. In einer Tasche verwahrte ich das Porträt von Leonora, das ich, als ich in Madrid im Haus ihres Vaters gewesen war, in meiner Wut eingesteckt hatte, und die vielen Briefe, die Ana mir geschrieben hatte, wenn sie mich irgendwohin bestellte. Ich wollte nicht, daß Ana nach meinem Tod kompromittiert würde, und ich wollte auch nicht, daß man wußte, daß ich Alvaro de las Moras war, wie sich aus der Miniatur leicht erraten ließ.
Also ließ ich Felice schwören, sollte ich sterben, nach meinem Tod mit dem Schlüssel, den ich ihm übergab, die Tasche zu öffnen und den Inhalt zu verbrennen.
Dann verließ Felice das Zimmer, in dem er und ich soviele glückliche Stunden verbracht hatten, wo der Chirurg dann sein Glück versuchte, um die Kugel aus meiner Brust zu entfernen.
Ich lag lange niedergestreckt vom Wundfieber. Wilde Fieberphantasien quälten mich. Ana, die sich große Sorgen um mich zu machen schien, Leonoras Gesicht, das sich mit dem Felices vermischte, und in den wenigen klaren Momenten erkannte ich Felice, der an meinem Bett wachte. Doch er sprach nicht mit mir, und in seinen Augen war eine Anklage zu lesen, deren Grund ich nicht erkennen konnte.
Ich genas nur langsam, doch sobald ich wieder längere Phasen wach blieb, war Felice nicht mehr an meiner Seite. Stattdessen kümmerte sich ein Mönch dieses Klosters, Fra Melitone, um mich. Ich fragte ihn nach Felice, und er teilte mir mit, mein Freund sei für einige Tage zum Generalstab beordert worden.
Ich mochte Melitone, er war lustig und keiner dieser Geistlichen, die immer predigen müssen, aber ich vermißte Felice fürchterlich.
Ich war fast einen Monat lang ein Rekonvaleszent, während dessen ich Felice nicht sah. Dies führte dazu, daß meine alten traurigen Gedanken mich aufs Neue heimzusuchen begannen. Die Erinnerung an Calatrava quälte mich wieder und wieder, und all das Vergessen, das ich in Felices Armen gesucht und gefunden hatten, war wie fortgewischt.
Ich wanderte häufig zu dem Platz, an dem ich Felice das erste Mal getroffen hatte, als ich auf einmal seine Stimme zu hören glaubte.
„Capitàn?"
„Wer ruft mich?" fragte ich ein wenig unwillig, da ich kaum glaubte, daß er es sein würde. Dann drehte ich mich um und sah ihn. „Du!" stieß ich hervor und wollte mich gerade in seine Arme werfen, als mich irgendetwas in seiner Haltung davon abhielt. Er wirkte so distanziert, so weit entfernt von mir.
„Ist deine Wunde vollkommen geheilt?" fragte er mit kalter Stimme.
„Ja."
„Bist du stark?"
„Wie früher." Ich klammerte mich an die schwache Hoffnung, daß er mich all diese Dinge fragte, um festzustellen, ob ich bereits kräftig genug war, um ihn körperlich zu lieben.
„Kannst du ein Duell ausfechten?"
„Mit wem?" wollte ich nun vollends irritiert wissen. Ich war wochenlang krank gewesen. Wer sollte mich da zum Duell fordern wollen?
„Hast du keine Feinde?" Er hatte auf einmal etwas lauerndes an sich.
„Jeder hat welche." Ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich verstehe nicht ganz..."
„Nein? Dann habt Ihr keine Nachricht erhalten von dem Indianer Don Alvaro?"
Vollkommen entsetzt starrte ich ihn an. Er sprach mich förmlich an, er kannte meinen Namen, dann mußte er auch mein Geheimnis kennen. In dieser Reihenfolge wurden mir diese Dinge bewußt. Er hatte meine Tasche durchwühlt, zweifellos. „Du hast deinen Schwur gebrochen," schleuderte ich ihm entgegen.
„Ich habe nur das Bild gesehen," sagte er. „Nehmt Euch in Acht, Alvaro, Ihr wißt nicht, mit wem Ihr sprecht."
„Wollt Ihr mir drohen?" Auch ich ging jetzt zur förmlichen Anrede über. „Ich habe keine Angst vor Namen."
„Auch nicht vor diesem? Ich bin Don Carlos di Vargas."
Ich starrte ihn an. Mein Gott, ich hatte mich in Leonoras Bruder verliebt, ich hatte mit dem Mann das Bett und noch viel mehr geteilt, der mir den Tod geschworen hatte. Fast eine halbe Ewigkeit stand ich bewegungslos da, während der ich von Bildern unseres Zusammenseins gequält wurde, und ein Teil von mir starb. „Ich fürchte mich trotzdem nicht," sagte ich schließlich mit ersterbender Stimme.
„Gehen wir," sagte Fe-, nein, Carlos di Vargas. „Einer von uns muß sterben."
„Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich will nicht gegen Euch kämpfen, der Ihr mir als erster Freundschaft anbotet... und noch viel mehr."
„Schweigt!" fuhr er mich offenbar unter großen Schmerzen an. „Das soll nicht entwürdigt werden."
„Ihr müßt mir glauben, Carlos, es war eine Fügung des Schicksals, weshalb Euer Vater starb, und Eure Schwester habe ich nicht angerührt." Ich konnte doch unmöglich mit ihm kämpfen. „Ihre unsterblichen Seelen sind meine Zeugen, daß ich keine Schuld trage."
„Ihr lügt," sagte er kalt. „Leonora ist geflohen und am Leben."
Ich taumelte einen Schritt zurück. Leonora war am Leben? Die Gerüchte über ihren Tod waren nicht wahr gewesen, auch ihr war die Flucht gelungen! Nach all den Jahren eine solche Nachricht zu erhalten... Ich konnte nur noch stammeln: „Sie lebt?"
„Ja, aber bald wird sie sterben." Carlos' Augen waren blanker Haß.
„Nein," rief ich aus, „wenn sie lebt, dann gibt es noch Hoffnung. Laßt sie uns gemeinsam suchen, und dann werde ich sie heiraten." Ich wollte Carlos auf diese Weise zu verstehen geben, daß ich bereit war, die Ehre Leonoras wiederherzustellen, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Ihr seid ein Narr!"
„Nein, Ihr versteht nicht." Meine Stimme nahm einen flehenden Beiklang an. „Ich bin von ebenso edler Herkunft wie Ihr. Suchen wir gemeinsam nach Leonora."
„Narr! Zwischen uns ist das Grab meines Vaters, und ich soll Euch Bruder nennen, nachdem Ihr alles zerstört habt, was mir wichtig war?" Seine Stimme war kurz davor zu brechen. „Ich muß Euch töten und dann sie, die ihr Blut verriet."
„Was?"
„Sie wird sterben, das schwöre ich."
Ich konnte es nicht glauben, daß Carlos tatsächlich vorhatte, Leonora zu töten, aber er schien es ernst zu meinen. Ich mußte ihn daran hindern; ich konnte doch nicht zulassen, daß er zum Mörder Leonoras wurde. Ich hatte ihr Leben zerstört, wenigstens retten wollte ich es nun noch. „Eher bringe ich Euch um," drohte ich. „Eure letzte Stunde hat geschlagen." Ich zog den Degen.
„Solange ich lebe, werde ich Leonora finden," schleuderte er mir entgegen und riß ebenfalls den Degen aus der Scheide. „Noch von Eurem Blut gerötet wird diese Klinge sie durchbohren."
Wir begannen zu fechten, doch bereits nach wenigen Augenblicken stürzten mehrere Soldaten auf uns zu und packten Carlos, um ihn von mir fortzuschleppen. Er stieß dabei wüste Beschimpfungen aus, die mir tief ins Herz schnitten.
Ganz langsam sank ich in mich zusammen. Was blieb mir jetzt noch für mein weiteres Leben? Ich flehte Gott an, mir ein Zeichen zu geben, und erfuhr doch nur, daß ich nach einem Ort suchte, an dem ich zur Ruhe kommen würde. Kämpfen wollte ich auf keinen Fall mehr; ich konnte es auch gar nicht. Ich hatte Ana verloren, Leonora, und Felice hatte sich als mein schlimmster Feind Carlos di Vargas herausgestellt. Mit einer heftigen Bewegung zerbrach ich meinen Degen und riß meine Rangabzeichen von der Uniformjacke.
„Ist alles in Ordnung mit Euch?" fragte hinter mir auf einmal Melitones Stimme.
„Nichts ist in Ordnung," stieß ich mit einem Schluchzen in der Stimme hervor. „Ich benötige einen Ort der Ruhe..." Mein Blick fiel auf seine Kutte. „Ein Kloster," rief ich aus. „Ja, ich werde in ein Kloster gehen. Wo liegt Euer Kloster, Padre?"
„Bei Sevilla."
Sevilla! Das erschien mir wie das göttliches Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Ich quittierte meinen Dienst, und... hier bin ich, Padre.« Don Alvaro blickte mich an. »Gestattet Ihr mir, in Eurer Kloster einzutreten, damit ich für mein Leben und meine Sünden büßen kann?«
Ich betrachtete ihn nachdenklich. Er hatte tatsächlich mehr Sünden auf sich geladen als irgendein anderes Wesen, das ich kannte, aber ich empfand es als gerechte Lösung, wenn er hier, weniger als eine Meile von Leonora di Vargas entfernt, für sein sündhaftes Leben büßen würde. »Weißt du nun, ob du bereust?«
»Ja,« antwortete Don Alvaro, und ich akzeptierte diese nicht ganz klare Antwort.
So wurde aus Don Alvaro de las Moras und Capitàn Don Federico Herreros der Padre Rafael.
Ich beobachtete ihn mit sehr genauen Augen, doch er gab in all den Jahren niemals Anlaß zur Sorge. Er schien mit Freude und großer Geduld die schwersten Arbeiten zu übernehmen und verrichtete seine Pflichten sehr sorgfältig. Zwar gab es unter den Mönchen, wie auch Dir, mein Freund, bekannt sein dürfte, das Gerücht, er sei in Wahrheit der Teufel, wegen seines exotischen Aussehens, und weil er einige ungewöhnliche Dinge tat, wie in Gewitterstürmen herumzulaufen, aber ansonsten war er ein vorbildlicher Mönch.
