Die nächsten Jahren waren dann wieder ruhig und mit den eigentlichen Aufgaben unseres Kloster angefüllt. Auch Alvaro, also Padre Rafael, wurde wieder zu dem vorbildlichen Mönch, der er gewesen war.
Leonora di Vargas lebte in ihrer Klause ein gottgefälliges Leben mit Fasten und Beten, so daß ihre Sünden wohl zu vergeben waren am Ende ihrer Buße, die selbstverständlich nur mit dem Tod enden konnte.
Doch dann, ganz unerwartet, brach das über uns herein, was wir nicht erwartet hatten. Gott strafte in seiner unendlichen Weisheit die Sünder.
Es war in den ersten Frühlingstagen dieses Jahres, als auf einmal völlig überraschend die Glocke zu läuten begann, die mit Leonora di Vargas' Klause verbunden war, und mit der sie bei Gefahr um Hilfe rufen konnte. Beinahe hätte ich zuvor die Existenz dieser Glocke fast schon vergessen, denn in all den Jahren hatte sie niemals geläutet. Nun jedoch hörte sie gar nicht damit auf.
So schnell ich es vermochte, machte ich mich auf zu der Klause und fand dort Entsetzliches vor. Vor der Klause lag ein mir unbekannter Mann und holte röchelnd Atem, während aus einer Stichwunde in seiner Brust Blut quoll. Einige Schritte von ihm entfernt kniete Rafael mit einem verwirrten Gesichtsausdruck und versuchte, Leonora aufrecht zu halten, die ebenfalls eine Wunde in der Brust aufwies.
»Er konnte mir nicht einmal in seiner letzten Stunde verzeihen,« brachte Leonora mühsam hervor. »Er mußte die Schande mit meinem Blut rächen.«
Rafael, nein, Alvaro war den Tränen nahe. »Dabei gab es doch gar keine Schuld bei dir. Verdammt seiest du, rachsüchtiger Gott!«
»Fluche nicht, mein Sohn,« griff ich ein. »Sag kein Wort von Zorn, von Sakrilegien. Dieser Engel wird seinen Weg zu Gottes Thron machen. Unterwirf dich Seinem Willen.«
»Ja,« stöhnte Leonora.
»Ich bin verflucht und verdammt,« stieß Alvaro hervor. »Soviel Blut zwischen uns...«
»Die Vergebung Gottes ist dir sicher,« sprach Leonora genau die Worte aus, die auch ich gerade hatte sagen wollen.
»Du kannst mir vergeben?« Alvaro schluchzte. »Dann kann es der Himmel auch.«
»Ja, und ich werde dir nur vorangehen dorthin.« Leonoras Stimme wurde schwächer.
»Du läßt mich allein zurück und verurteilst mich zum Leben? « Eine von Alvaros Händen krallte sich so fest um Leonoras Schultern, daß sie zusammenzuckte. »Ich, der Schuldige an all diesem, werde also ungestraft davonkommen?«
»Ich gehe dir nur voran, Alvaro,« brachte Leonora hervor. Sie stöhnte laut vor Schmerz, bäumte sich auf und rief noch einmal seinen Namen, um mit diesem auf den Lippen zu sterben.
Ich starrte auf sie herab. Alvaro umklammerte ihren Körper und schien in eine eigentümliche Starre verfallen zu sein. Ich wollte gerade ein tröstendes Gebet für Doña Leonora di Vargas sprechen, denn all ihre Reue hatte sie zu einer Büßerin gemacht, deren Platz im Himmel sicher war.
Doch genau in diesem Moment bewegte sich der fremde Mann und stieß mit großer Mühe hervor: »Padre, ich flehe Euch an, nehmt mir die Beichte ab, ich will nicht so sterben, ich muß beichten.«
Ich warf einen kurzen Blick zu Alvaro und Leonora, stellte fest, daß sie meiner Hilfe nicht bedurften und ging hinüber zu diesem Fremden. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und doch hatte ich das Gefühl, etwas mir Bekanntes darin zu entdecken. Ich kniete neben ihm nieder. »Du wünscht zu beichten, mein Sohn?«
»Ja. Padre, ich habe gesündigt.«
»Dann sprich, mein Sohn.«
»Ich habe gesündigt, Padre, ich muß mit jemandem sprechen. « Er mußte husten, und es war deutlich, daß er große Schmerzen litt. »Ich habe mit allem, was ich getan habe, meinen Namen, den Namen der di Vargas, der Marquès' di Calatrava, beschmutzt, so sehr beschmutzt, daß ich in der Hölle schmoren werde, wenn ich nicht beichte.«
»Ihr seid Don Carlos di Vargas?« Ich hatte schon zuvor den Verdacht gehabt, daß es sich bei dem Verletzten um den Marquès di Calatrava handelte.
»Das war schwer zu erraten unter diesen Umständen, nicht wahr?« Er verzog das Gesicht zu einer ironischen Grimasse. »Aber ich fürchte, ich habe keine Zeit mehr für Konversation. Ich werde sterben, und zuvor muß ich beichten.
Ich wurde geboren in Calatrava bei Sevilla, der einzige Sohn meiner Eltern, der Erbe, der sich allem, wofür Calatrava stand, würdig erweisen sollte. Meine Mutter starb früh bei der Geburt meiner Schwester Leonora. Ich vergötterte Leonora, ich wollte sie beschützen, immer für sie da sein, aber ich konnte es nicht.
Mein Vater und ich verstanden uns nicht sehr gut, wir stritten sehr häufig miteinander. Deswegen ging ich auf früh fort, um an der Universität von Salamanca die Rechte zu studieren. Es war eine echte Flucht vor meinem Vater; warum sonst sollte ein di Vargas die Rechtswissenschaft studieren?
Ich war eigentlich ein ganz normaler Junge, damals, ich hatte meine ersten Erfahrungen mit Frauen hinter mir, liebte den Wein und das Kartenspiel und interessierte mich herzlich wenig für mein Studium.
Ich hatte einen Kommilitonen namens Pereda, mit dem ich all diese Dinge unternahm. Er war aus dem Baskenland, der zweite Sohn eines Hidalgos, blond, blauäugig und schön wie ein Ritter aus einem Märchen. Wir hatte eine sehr enge Beziehung, sprachen über alles und freuten uns unseres Studentenlebens.
Ich empfand viel für ihn, aber wieviel, das wurde mir erst klar, als wir eines Abends ziemlich betrunken in meine Unterkunft zurückkehrten.
„Weißt du was, Vargas?" fragte Pereda mich, nachdem wir uns schwerfällig auf mein Bett hatten fallen lassen. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, daß du ein attraktiver Mann bist?"
„Das eine oder andere Mädchen erwähnte so etwas," erwiderte ich mit unsicherer Stimme.
„Nur Mädchen?" Pereda legte den Arm um meine Schultern und ließ die andere Hand auf meinem Oberschenkel liegen. „Noch niemals ein Mann?"
„Nein," antwortete ich einsilbig, denn es war mir trotz meiner Betrunkenheit peinlich, daß ich seine Berührungen als erregend empfand.
Seine Hand begann, sich zu bewegen. „Du bist auch für einen Mann attraktiv." Er atmete hörbar schwer.
Ich wußte, daß es unrecht war, daß er mich derart berührte, aber ich konnte ein Stöhnen nicht zurückhalten.
Daraufhin begann seine Hand, kühner zu werden. Auf einmal streichelte er mich sehr direkt, es war kein störender Stoff mehr da. Er drückte mich sanft auf das Bett. Ich wußte um die Strafe, die die Kirche für solch eine Sünde kannte, aber es war so wundervoll, daß ich nicht widerstehen konnte und ihn auch berühren mußte.
Wir lagen halb nackt auf meinem Bett und befriedigten uns gegenseitig, bis wir erschöpft nebeneinander liegenblieben.
„Ich liebe dich, Vargas," seufzte Pereda.
„Ich liebe dich auch," flüsterte ich zurück und meinte es ernst. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder ohne ihn zu sein.
Es geschah das eine oder andere Mal wieder, jedes Mal eigentlich, wenn wir betrunken waren. Mir war die ganze Sache peinlich, und Pereda ging es nicht anders. Deswegen hielten wir geheim, was uns verband, obwohl es ein sehr starkes Gefühl war. Trotzdem, wäre der Hemmungslöser des Alkohols nicht dagewesen, hätten wir versucht, es zu vergessen, aber der Wein hinderte uns daran, diese wundervolle Erfahrung nicht immer und immer wieder zu erneuern.
Der Beginn der Semesterferien zwang uns dazu, uns zu trennen. Er reiste heim ins Baskenland, und ich kehrte zurück nach Calatrava, um mich weiterhin mit meinem Vater herumzustreiten. Diesmal ging es darum, daß ich ihn dazu bringen wollte, Leonora am Hofe vorzustellen. Er gab letztendlich nach, und damit begann das Unglück meiner Familie endgültig.
Ich reiste zurück nach Salamanca, wo ich einen Brief von Pereda vorfand. Ich bin heute noch in der Lage, diesen Brief auswendig zu rezitieren: „Mein lieber Vargas, ich werde dieses Semester nicht an die Universität zurückkehren, ich werde überhaupt nicht an die Universität zurückkommen. Ich habe mich gestern mit der Tochter unseres Nachbarn verlobt. Ich liebe sie schon seit einer ganzen Weile, und jetzt endlich gestattet ihr Vater uns die Heirat. Ich weiß, Du wirst Verständnis dafür haben, Pereda."
Meine Welt brach zusammen. Er hatte mich nur benutzt für ihn war es niemals Liebe gewesen!
Ich vergaß mein Studium und trieb mich nur noch herum. Ich spielte, ich trank, und ich hurte herum, und wenn ich betrunken genug war, kaufte ich mir einen Jungen, und mit diesen gekauften Jungen ging ich weiter, viel weiter als jemals mit Pereda. Ich versuchte auf diese Weise, mich dazu zu zwingen, ihn zu vergessen, aber das gelang mir nicht. Ich mußte andauernd an ihn denken.
Doch dann war das alles auf einmal nicht mehr wichtig, was ich für Pereda empfand oder nicht. Ich kehrte von einem meiner Gelage zurück in meine Unterkunft, wo einer der Diener meines Vaters auf mich wartete. Als er mich sah, sank er vor mir auf die Knie.
„Was ist?" fragte ich unwillig.
„Señor," begann der Diener mit tränenerstickter Stimme, „Ihr seid der neue Marquès di Calatrava."
„Was?" stieß ich hervor. „Aber dann, dann muß mein Vater ja tot sein. Wie ist das geschehen?"
„Oh, Señor, es ist einfach schrecklich."
„Jammere nicht," fuhr ich den Lakaien an. „Antworte mir lieber."
„Doña Leonora hat in Madrid die Aufmerksamkeit eines Don Alvaro de las Moras auf sich gezogen, eines Mestizen," erzählte der Diener. „Euer Vater verbot diesen Umgang und schickte Doña Leonora zurück nach Calatrava. Dorthin folgte ihr der Mestize und vor... einer Woche kam er nach Calatrava, tötete Euren Vater und entführte Doña Leonora."
Ich starrte ihn an. Mein Vater tot? Leonora von einem Mestizen entführt, der ihr zuvor nachgestellt hatte? Ganz langsam sank ich in mich zusammen. Alles, was von meiner Welt noch existent gewesen war, hatte sich davongemacht.
„Was werdet Ihr jetzt tun, Señor?" fragte der Lakai.
Ich hob den Kopf und sah ihn an. „Ich werde meine Schwester finden, und dann werde ich diesen Indianer töten," sagte ich mit flacher Stimme. „Du bist Zeuge meines Racheschwurs."
„Ja, Señor."
„Ich werde diesen Mann finden, und wenn es mein ganzes Leben andauern wird, und ich ihn durch alle Höllen verfolgen muß, ich werde ihn töten."
Ich spürte, wie die Trunkenheit von mir wich, und wie ich klar sah. Es würde lange Zeit, vielleicht Jahre meines Lebens kosten, diesen Mestizen zu töten, aber ich würde sie opfern um der Familienehre willen, die befleckt worden war. Ich war es der Tradition schuldig.
Noch in der selben Nacht packte ich meine Sachen und verließ Salamanca, um nicht wieder dorthin zurückzukehren. Ich reiste nach Sevilla, aber nicht zurück nach Calatrava, um mein Erbe anzutreten, denn das stand mir nicht zu, noch nicht, zuerst mußte ich meinen Vater rächen und vor allem die durch Leonora befleckte Familienehre wiederherstellen.
Sevilla schwirrte voller Gerüchte. Einige von ihnen besagten, Leonora sein auf der Flucht umgekommen, andere sprachen davon, daß sie mit dem Indianer in die Kolonien gegangen sei, und schließlich behaupteten Menschen, daß sie und der Indianer getrennt worden seien.
Von einer alten Verwandten erfuhr ich, daß Leonora es bis Sevilla geschafft hatte und dort um ein Nachtlager nachgesucht hatte, was unsere Verwandte ihr verweigert hatte. Daraufhin war sie spurlos verschwunden.
Ich sorgte dafür, daß jedes Schiff, das Spanien verließ überprüft wurde, doch auf keinem war ein Indianer allein oder in Begleitung als Passagier gebucht worden. Da man mir sagte, daß die Diener meines Vaters den Indianer auf der Verfolgung getroffen hatten, befragte ich die Ärzte, doch mit ebensowenig Erfolg. Niemand hatte eine Spur von Alvaro de las Moras gesehen.
Schließlich beschloß ich, mich in den Tavernen durchzufragen. Irgendwo mußte er sich doch aufhalten, jemand mußte ihn doch gesehen haben. Doch nirgendwo war eine Spur zu entdecken. Die Hölle, aus der er gekrochen war, mußte ihn wieder verschlungen haben.
Eines Tages betrat ich eine Taverne, die ich unter anderen Umständen nicht einmal von außen angesehen hätte. Ich hatte gerade bestellt, da sprang auf einmal eine junge Frau auf einen der Tische und begann, ein aufputschendes Lied zu singen. Sie war schön auf eine sehr irdische Art, und ich merkte, wie die Männer auf sie reagierten.
Auf ihren Gesichtern erschien der blanke Neid, als sie auf meinem Schoß landete. Mehr aus Spaß fragte ich sie, was sie in meiner Hand lesen konnte, denn sie war eine Zigeunerin und hatte schon anderen Anwesenden die Zukunft vorausgesagt. Sie sah mich an, erklärte mir, daß meine Zukunft schrecklich sei, und daß ich auf keinen Fall der Student wäre, für den ich mich ausgab.
Ich wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment hörten wir von weitem einen Pilgerchor. Die Stimmen kamen näher und näher, bis einige der Pilger die Taverne betraten. Mein Blick blieb an einem Jüngling hängen, der aus dem Hinterzimmer gekommen war, und sofort erwachte die Anspannung in mir. Er sah aus wie die lebende Versuchung, schmalhüftig, weiche Gesichtszüge und ein Gang... Himmel, was für ein Gang!
Ich sah ihn, und im gleichen Moment wurde mir bewußt, wie lange ich abstinent gelebt hatte. Seit ich den Indianer verfolgte, war weder eine Frau noch ein Mann in meinem Bett gewesen. In gewisser Weise machte sich das bemerkbar. Für einen Augenblick vergaß ich den Indianer, meine Rache, ja, sogar die Familienehre, es war nur noch wichtig, daß ich diesen Jungen bekam. In irgendeiner Weise kam er mir bekannt vor, aber das war nur ein Nebeneffekt meiner fleischlichen Begierde.
Ich dachte mir alles mögliche aus, um diesen Jüngling, der sich in einem Hinterzimmer vor meinen Blicken verborgen hielt, nahe zu kommen. Ich versuchte, dem schäbigen Maultiertreiber, der ihn begleitete, etwas zu entlocken, aber das führte nur dazu, daß ich vom Alcalden des Ortes zur Ordnung gerufen wurde, der von mir verlangte, daß ich meinen Namen nannte. Ich benutzte den ersten Namen, der mir einfiel - es war Peredas - und erzählte eine Geschichte, in der ich als treuer Freund von Carlos di Vargas diesen begleitet hatte, bis er den Indianer weiter in die Kolonien verfolgt hatte.
Das schien die Anwesenden zu beruhigen, alle bis auf Preziosilla, die Zigeunerin. Sie gab mir deutlich zu verstehen, daß sie genau wußte, wer ich war. Ich befürchtete, mein Incognito könne auffliegen und nahm daher ihre schamlose Einladung an, sie nach oben zu begleiten. Ich bat sie dort um ihr Schweigen und wollte sie dann fortschicken, doch das schien ihr nicht zu gefallen.
Sie... schrie mich an und behauptete, ich... ich sei kein wirklicher Mann. Ich habe ihr... daraufhin bewiesen, daß ich sehr wohl ein Mann bin. Ich nahm sie mir voller Zorn und Wut, kein anderes Gefühl leitete ich dabei, doch selbst damit konnte ich sie nicht dazu bringen, mich zu respektieren.
Ganz im Gegenteil, sie hatte noch die Stirn, mich aufzufordern, es ein weiteres Mal zu tun. Eigentlich war ich dazu nicht in der Stimmung, meine Wut war abgekühlt, ich wollte nur fort, doch andererseits wollte ich nichts von dem, was sie mir an den Kopf geworfen hatte, auf mir sitzen lassen. Ich dachte sehr intensiv an den Jungen in der Taverne und mein Verlangen nach ihm, und auf einmal war ich in der Lage, das zu tun, was Preziosilla von mir erwartete.
Ich warf keinen Blick zurück, als wir uns trennten. Sie war nur eine Hure mehr auf meinem Weg, so dachte ich damals.
Ich jagte weiter hinter dem Indianer her, doch es war nach wie vor unmöglich, eine Spur von ihm zu entdecken. Irgendwann stieg die Frustration in mir so stark an, daß ich mich in einer Taverne hemmungslos betrank. Am nächsten Morgen wachte ich in den Armen eines Lustknaben auf, was mir ausgesprochen unangenehm war. Ich wollte nicht eines dieser... Subjekte ansehen müssen, wenn ich erwachte, ich wollte nicht, daß der Sonnenaufgang Zeuge meiner Schande wurde. Doch an diesem Tag war es geschehen, und ich begann, mich ernsthaft zu fragen, ob ich tatsächlich kein wirklicher Mann war, wenn es mir nicht einmal gelang, meine Hände von Jungen zu lassen, während ich den Tod meines Vaters und die Ehre meiner Schwester rächen mußte.
Als ich an jenem Morgen in der Taverne mein Frühstück einnahm, erzählte ein Kaufmann aus Gijon, daß er einem Indianer begegnet sei, der sich auf dem Weg nach Italien befunden habe.
Italien! Fast hätte ich aufgeschrieen. Nach über einem Monat endlich die erste Spur von dem Indianer. Italien, ich würde ihm dorthin folgen, durch die Hölle und wieder zurück, um endlich die Ehre meiner Familie wiederherzustellen. Bereits wenige Minuten später hatte ich mich auf seine Spur gesetzt.
Die erste Pause gönnte ich mir erst am Abend in einer anderen Taverne. Dort mußte ich feststellen, daß auch Preziosilla sich dorthin verirrt hatte. Sie sah mich nicht, aber sie war wieder einmal dabei, Soldaten anzuwerben.
Während ich ihr dabei so zusah, hatte ich auf einmal eine Idee. Wenn ich in Begleitung einer Frau reisen würde, dann würde es nicht mehr passieren, daß ich mich morgens neben gekauften Jünglingen wiederfände. Ich würde gar nicht erst in die Versuchung geraten, mich wieder eines echten Mannes unwürdig zu verhalten. Also verwandte ich an diesem Abend und in der folgenden Nacht meine ganze Überredungskunst darauf, Preziosilla davon zu überzeugen, mich nach Italien zu begleiten, und es gelang mir. Bereits am nächsten Tag waren wir auf dem Weg.
Es wurde immer deutlicher, daß ich wirklich auf die richtige Spur gestoßen war. Der Indianer hatte sich tatsächlich auf den Weg nach Italien gemacht. Er hatte zwar einen beträchtlichen Vorsprung, doch ich war mir sicher, ihn früher oder später einholen zu können.
Die Verfolgung zusammen mit Preziosilla weiterzuführen, hatte tatsächlich so seine Vorteile. Ich kam nicht in die Versuchung zu trinken, weil mich die Einsamkeit meiner Jagd auffraß, und wenn ich nicht trank, dann landete ich auch nicht im Bett mit irgendwelchen Jungen.
Es ging gut, bis wir die italienische Grenze überquerten und Venedig erreichten. Und dort, ganz unvermittelt, verlor ich des Indianers Spur. Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich gerade in Venedig, zwischen all diesen Kanälen, nicht mehr in der Lage war, diesen Indianer zu finden. Es war, als habe er die Stadt betreten und sei dann von einem der Kanäle verschluckt worden.
Ich war frustriert von diesem neuerlichen Mißerfolg, und die eigenartige Stimmung dieser Stadt tat ihr übriges. Ich blieb abends lange fort aus dem Gasthaus, in dem ich mich mit Preziosilla eingemietet hatte. Ich trank viel, zu viel, wie ich weiß und... ich kaufte mir aufs Neue Jungen. Es war wie ein Zwang, irgendetwas trieb mich dazu. Preziosilla schien das nichts auszumachen, sie suchte selbst ihre Abenteuer.
Doch dann, eines Tages, als ich in einem der wenigen klareren Momente schon damit rechnete, neben meiner Ehre, daß ich als Rächer versagt hatte und meinem Namen Schande bereitete, auch noch meinen Verstand zu verlieren und endgültig in die Halbwelt abzusinken, da brachte ich auf einem Spaziergang zufällig in Erfahrung, daß sich ein Indianer als Söldner den Truppen der für Italien kämpfenden Spanier zur Verfügung gestellt haben sollte.
Ich zögerte keinen Augenblick. Vielleicht konnte ich doch noch meine Ehre wiederherstellen. Ich ging schnurstracks zum Rekrutierungsbüro und ließ mich als Stabsoffizier unter dem Namen Don Felice de Bornos anwerben. Auf diese Weise, so glaubte ich, würde ich am ehesten den Indianer ausfindig machen können.
Preziosillas Begeisterung über meinen Plan hielt sich in Grenzen. Sie sah nicht ein, was sie in einem Soldatenlager anfangen sollte, denn daß sie mich begleiten würde, stand für mich fest. Ich hatte sie nach Italien gebracht, jetzt sollte sie auch bei mir bleiben. Wer weiß, vielleicht könnte mir ihre Anwesenheit ja noch von Nutzen sein?
Nachdem ich eine Weile nach dem Indianer gesucht hatte in den Lagern und auf den Feldern, glaubte ich schon fast, einer falschen Geschichte aufgesessen zu sein. Ich begann zu glauben, daß er niemals in die Armee eingetreten war, sondern mit einem Stein beschwert auf dem Grund der venezianischen Lagune lag.
Wie immer, wenn ich frustriert war, trank ich zuviel. Hier unter den Soldaten wagte ich allerdings selbst in betrunkenem Zustand nicht, meine Vorliebe für Männer auszuleben. Zu leicht hätten meine Kameraden meine Ehrlosigkeit erkennen können. Stattdessen widmete ich mich einem Zeitvertreib, der eines Mannes eher würdig war: Ich spielte.
Schon in Salamanca hatte ich kleine Vermögen verspielt, und je mehr ich getrunken hatte, desto waghalsiger spielte ich. Ich vergaß regelmäßig, daß ich nicht mehr Carlos di Vargas war, der über große Summen Geld verfügen konnte, sondern daß ich von meinem bescheidenen Sold leben mußte. Ich aß zeitweise Dinge, die ich in Calatrava nicht einmal dem dritten Stallburschen angeboten hätte, aber es war mir unmöglich, mit dem Spielen und dem Trinken aufzuhören.
Irgendwann schien es nur noch eine Möglichkeit zu geben, wo sich der Indianer, wenn er denn überhaupt bei diesem Heer war, aufhalten konnte. Bei denjenigen Regimentern, die sich an vorderster Front befanden, hatte ich noch nicht gesucht. Dorthin ließ ich mich schließlich versetzen.
Gleich nachdem die Versetzung genehmigt war, bezogen Preziosilla und ich unser neues Quartier in einem requirierten Bauernhaus. Doch auch hier war niemand in Sicht, der in irgendeiner Weise mit meiner Vorstellung von Alvaro de las Moras Ähnlichkeit hatte. So ließ ich mich bereits kurz nach meiner Ankunft auf ein Kartenspiel mir einigen nicht sehr vertrauenserweckenden neapolitanischen Soldaten ein. Wir spielten um hohe Summen, so daß ich langsam merkte, daß ich sehr bald nicht mehr würde mithalten können.
„Ein letztes Spiel," schlug der eine der Soldaten vor. „Alles, was wir von dir gewonnen haben, gegen deinen Einsatz."
„Was sollte ich noch dagegen setzen?" Ich betrachtete meine Karten. Sie sahen recht vielversprechend aus.
„Du hast doch diese Zigeunerin bei dir," begann der Zweite. „Alles, was wir gewonnen haben, gegen sie."
Für einen Moment zweifelte ich an seinem Verstand, doch dann begann ich, ernsthaft zu überlegen. Preziosilla und mich verband doch nur die Zweckmäßigkeit und keine Gefühle. Außerdem war sie doch nur eine Zigeunerin, die zufällig meine Geliebte geworden war. Ich dachte an das Geld, blickte meine Karten an und nickte langsam. Irgendwo in mir verspürte ich ein Schuldgefühl, doch ich ignorierte es und starrte stattdessen wie gebannt auf meine Karten.
Ich konnte nicht verlieren, nicht mit diesen Karten, dachte ich noch, als der dritte Soldat sein Blatt auf den Tisch legte und sagte: „Ich glaube nicht, daß einer dieses Blatt schlagen kann."
Entgeistert blickte ich von seinen Karten auf die meinen. Seine waren tatsächlich besser. Aber das war logisch kaum möglich.
„Na, dann wirst du uns wohl deine Zigeunerin überlassen müssen, Bornos." Der erste der Soldaten grinste schmierig.
„Niemals," stieß ich hervor. „Das werde ich nicht. Ihr habt falsches Spiel gespielt."
„Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, Bornos, daß wir, neapolitanische Offiziere, Falschspieler sind?" Der Zweite sprang auf, und seine Hand griff nach seinem Degen.
„Doch, genau das seid Ihr. Nichts weiter als ein paar Falschspieler," schrie ich, und plötzlich hatten alle drei ihre Waffen zur Hand und kamen auf mich zu.
Erst jetzt wurde mir tatsächlich bewußt, wie gefährlich die Situation eigentlich war. Ich schrie auf und wollte ebenfalls meinen Degen ziehen, um feststellen zu müssen, daß ich unbewaffnet war. Ich wußte, ich konnte gegen drei Gegner gleichzeitig nicht bestehen, aber ich wollte mein Leben so teuer wie möglich verkaufen.
Der erste Angreifer holte gerade aus, da donnerte eine Stimme: „Halt! Was geht hier vor?"
Vor uns stand ein... ich weiß kaum, wie ich es beschreiben soll, ein Kriegsgott, ein Racheengel, so unglaublich beeindruckend. Er trug die Uniform eines Capitàns, durch die seine hohe, schlanke Gestalt noch betont wurde. Sein Haar war pechschwarz, sein Gesicht sonnengebräunt, die hohen Wangenknochen, die markante Nase und die sensiblen Lippen gaben seinem Gesicht etwas aristokratisches. Und dann diese Augen, Himmel, was für Augen! Schwarz und zu allem entschlossen, verliehen sie diesem Gesicht etwas Unvergeßliches.
Ich konnte bei diesem Anblick kaum die Augen abwenden, um zu sehen, daß meine Angreifer den Ort verlassen hatten.
„Seid Ihr verletzt?" fragte mich mein Retter mit einer Stimme, die mir durch und durch ging.
„Nein," brachte ich mühsam hervor. „Ich verdanke Euch mein Leben." Ich wollte ein paar Worte des Dankes aussprechen, doch er unterbrach mich.
Er fragte, wer die Angreifer gewesen seien, und nachdem ich zunächst versuchte, ihn anzulügen, gab ich zu, daß es sich um einen Streit beim Kartenspiel gehandelt hatte.
Er schüttelte den Kopf. „Wie habt Ihr Euch nur mir solchem Pack einlassen können?"
Ich gab eine Antwort, an die ich mich nicht mehr erinnere und fragte ihn dann nach seinem Namen, indem ich wissen wollte, wem ich mein Leben verdankte.
„Dem Zufall?" fragte er sehr trocken.
Also stellte ich mich unter meinem falschen Namen zuerst vor.
„Ich bin Capitàn Don Federico Herreros," erwiderte er, und mir fiel der leichte katalanische Akzent auf, den er hatte.
Natürlich kannte ich diesen Namen; jeder bei der Armee kannte diesen Namen. Don Federico Herreros war der kühnste Offizier dieses Krieges, mehrfach ausgezeichnet und immer freiwillig an vorderster Front stehend. Daß der Mann, der mich derartig faszinierte, auch noch ein Held war, machte mich noch nervöser. „Der Stolz der Armee," rief ich aus.
„Señor?" fragte er ein wenig verlegen über ein solches Lob und sich selbst kaum bewußt, womit er ein solches verdient haben könnte.
Ich wußte bereits in diesem Moment, daß ich mit ihm zusammensein wollte, daß er in mir Empfindungen auslöste, die ich lieber nicht haben wollte. Ich bat ihn um seine Freundschaft, und er war bereit, sie mir zu gewähren.
In diesem Moment schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, und der brachte mich kurzfristig wieder zu Verstand. Preziosilla! Da war dieser Mann, der mich faszinierte, dem ich auf der Stelle alles anvertraut hätte, mein Leben, meine Ehre, und dann war da noch Preziosilla, für die in dieser Art Gedanken kein Platz war. Don Federico war nicht von der Art wie die Jungen, die sonst meine Aufmerksamkeit erregten. Es war mir sogar bewußt, daß die Gefühle, die ich auf einmal verspürte, nicht erwidert werden würden. Federico war einer der männlichsten Männer, die ich jemals gesehen hatte, die Vorstellung, daß ein anderer Mann ihn auch nur attraktiv finden könnte, würde ihn vermutlich anwidern. Und doch war ich nicht in der Lage, anders zu handeln, als ich letztendlich handelte.
Ich verabredete mich mit ihm für den Abend und kehrte in mein Quartier zurück. Ich mußte Preziosilla loswerden, und ich wußte auch bereits wie. Ich sagte ihr ganz einfach die Wahrheit, daß ich sie beim Kartenspiel verloren hatte.
Natürlich raste sie vor Wut, ging auf mich los, schlug und trat nach mir, doch ich reagierte auf all das mit einer geradezu stoischen Ruhe. Nur zu sehr war mir bewußt, daß dies der Preis war, um in Federicos Nähe sein zu können. Schließlich stürmte sie los, einfach davon. Sie suchte nicht die Offiziere auf, die sie gewonnen hatten, sondern wurde ein Hure. Ich sah sie noch hin und wieder im Lager, wobei mich ein wenig das schlechte Gewissen quälte, nicht jedoch genug, um meinen Entschluß jemals zu bedauern.
An jenem ersten Abend, den ich mit Federico in der Taverne verbrachte, fehlte mir ein wenig der Mut, ihn zu fragen, woher er kam, was seine Familie machte, und wie er in diesen Krieg geraten war. Ich war begierig, alles zu erfahren, was ihn betraf, doch ich wußte, daß er nicht über sich selbst sprechen wollte... Irgendwo in seiner Vergangenheit gab es ein dunkles Geheimnis, aber er sprach nicht darüber. Nicht mit mir und auch mit niemandem sonst.
Außer mit mir sprach er sowieso kaum mehr als nötig war. Er war ein Einzelgänger, der in der Zeit, die er in der Armee verbracht hatte, keine Freundschaften geschlossen hatte. Diese Aura des Geheimnisvollen ließ meine Faszination für ihn nur noch stärker werden.
Nach jenem ersten Abend verbrachten wir immer mehr Zeit miteinander. Wir sprachen abends bei Wein über alle möglichen Themen, wir kämpften Seite an Seite, wobei ich immer darauf gefaßt war, Federico aus der Schußlinie zu reißen, wenn er wieder eine besonders tollkühne Aktion unternahm, und mit der Zeit schien meine Rache fast vergessen zu sein. Der Indianer war nicht bei dieser Armee, ich hatte die Spur verloren, weshalb sollte ich mir in dieser Verfolgung, die doch schon so endlos lange andauerte, nicht eine Pause gönnen?
Ich machte mir nicht die Mühe, meine Gefühle für Federico leugnen zu wollen. Es war mir zeitweise unangenehm, aber es war überdeutlich für mich, daß ich ihn... begehrte. Ja, warum soll ich es nun verschweigen? Ich begehrte Federico Herreros so, wie ich zuvor weder Mann noch Frau begehrt hatte.
An einem der Abende, die wir zusammen verbrachten, erzählte er mir im Vertrauen, daß er in den Kolonien eine Frau geliebt hatte, die er verlassen mußte, und in Spanien ein Mädchen verloren hatte, welches er liebte. Ich fragte nicht genauer nach, denn die Trauer in seinen Augen war für mich fast so schmerzhaft wie das, was er empfinden mußte. Außerdem wollte ich auch gar nicht so genau wissen, daß er Frauen liebte.
Ich begann, des Nachts von ihm zu träumen, wilde Phantasien, in denen ich Federico in den Armen hielt, ihn körperlich liebte und von ihm geliebt wurde. Gewöhnlich erwachte ich aus solchen Träumen vor Erregung schweißgebadet. Himmel, ich träumte von Dingen, die ich mit ihm tun wollte, die so verworfen waren, daß ich kaum wußte, wie ich meiner Erregung Herr werden sollte.
In einer Nacht erwachte ich wieder einmal aus einem dieser Träume und merkte, daß ich es kaum noch ertrug. Ich begehrte Federico so sehr, daß ich ganz dringend eine Abkühlung benötigte, um nicht eine Dummheit zu machen. Ich erhob ich von meinem Lager und lief zum Fluß herunter, riß meine Kleider vom Leib und stürzte mich ins Wasser. Die Abkühlung verschaffte mir ein wenig Erleichterung, doch sie war nicht von langer Dauer.
Während ich mich im Wasser treiben ließ, bemerkte ich auf einmal am Ufer eine Bewegung. Ich sah genauer hin und erkannte Federico, der gerade aus seiner Uniform schlüpfte. Beinahe wäre mir ein lautes Stöhnen entflohen. Ich war auf der Flucht vor diesem Mann, und gerade, als ich mich sicher fühlte, da wurde ich mich neuerlicher Wucht von meinem Begehren heimgesucht.
Es war mir unmöglich, den Blick abzuwenden, während Federico im Wasser untertauchte, und als er auf einmal mitten im Fluß auf einer Sandbank stand, klopfte mein Herz zum Zerspringen.
Er sah so unglaublich aus, daß mir nichts vergleichbares einfällt, um ihn zu beschreiben. Das lange schwarze Haar fiel naß auf den Rücken, die Augen blitzen im Mondlicht, sein schlanker, aber dennoch muskulöser Oberkörper glänzte vor Nässe und einzelnen Wassertropfen suchten einen Weg über seine schmalen Hüften nach unten.
Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen, indem ich laut aussprach, was ich empfand. Die meine Qualen lindernde Wirkung des kalten Wassers war auf jeden Fall nicht mehr vorhanden.
Federico ließ sich zurück ins Wasser fallen, durchquerte den Fluß zweimal, kehrte ans Ufer zurück, zog sich wieder an und verschwand irgendwo in der Dunkelheit.
Ich benötigte Stunden, bis ich mich wieder in der Lage fühlte, zurück in mein Quartier zu kehren. Und wann immer ich in den nächsten Tagen Federico begegnete, mußte ich mich zwingen, nicht meinen geheimen Wünschen nachzugeben, ihn einfach in die Arme zu reißen, zu küssen und seinen Körper zu erforschen.
Wenige Tage darauf erhielten wir den Befehl, in eine Schlacht zu ziehen, die sich als sehr verlustreich erwies. Wir siegten, aber all diese Toten lasteten auf unseren Seelen, und so betranken wir uns hinterher in Federicos Zelt.
Am Ende des Abends war ich nicht mehr in der Lage, in mein eigenes Quartier zurückzukehren. Ich hatte mich dazu gedrängt gefühlt, Federico meine Gefühle zu offenbaren, aber meinen Lippen war kein einziges Wort entflohen.
So war es auch das Normalste von der Welt, daß Federico mir anbot, in seinem Zelt zu übernachten. Mir war bewußt, daß dies ein Fehler sein würde, aber mein alkoholisiertes Hirn war nicht mehr in der Lage, mich einen klaren Gedanken fassen zu lassen.
Und dann war es für mich zu spät. Ich lag neben Federico auf seinem Lager ausgestreckt, und seine körperliche Nähe machte mich noch trunkener als es durch den Wein bereits geschehen war. Federico war sehr schnell eingeschlafen, wie mir seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten, doch ich konnte unmöglich schlafen. Es war unmöglich für mich, mich daran zu hindern, ihn zu berühren.
Zärtlich fuhr ich mit der Hand durch sein Haar und zeichnete seine Gesichtszüge nach. Er lag mit dem Rücken zu mir, so daß ich nicht sehen konnte, ob er reagierte.
Die Dämonen Alkohol und blinde Begierde müssen Besitz von mir ergriffen haben, als ich Federicos Hemd von seinen Schultern schob und meine Finger über die glatte Haut seiner Brust gleiten ließ. Meine Lippen preßten sich in seine Halsbeuge.
Er gab ein leises Seufzen von sich, zeigte sonst jedoch keine Reaktion.
Meine Hände schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Sie glitten von seiner Brust tiefer, über den flachen Bauch in seine Hosen hinein. Als ich ihn direkt berührte, war mir längst klar, daß ich etwas tat, das in jeder Beziehung ehrlos, das schmutzig und verworfen war, doch mein Verstand hatte jegliche Funktion eingestellt und alles, was geschah, diktierte mir mein Körper. Dieses brennende Verlangen, welches mich bereits seit Wochen quälte, mußte nun gestillt werden, ich war machtlos dagegen.
Ich schob Federicos Hosen von seinen Hüften, und zog sie ihm aus. Dann zerrte ich ihm das Hemd vollends von den Schultern. Es kostete mich einen einzigen Griff, meine Hose zu öffnen, dann nahm ich ihn mir, wie ich auch die gekauften Jungen genommen hatte.
Er, nein, sein Körper reagierte auf mich, aber es war eine unbewußte Reaktion, denn Federicos Verstand war vom Alkohol zu umnebelt, um zu wissen, was geschah. Es war nur sein Körper, der sich vor Lust wimmernd in meine Arme schmiegte, und dem ich zeitgleich mit mir einen Höhepunkt verschaffte.
Bereits in dem Augenblick, in dem ich mich zurückzog, war mir bewußt, was ich getan hatte. Ich hatte den Mann, den ich so sehr liebte wie noch keinen Menschen vor ihm, benutzt, wie ich die Lustknaben in den Bordellen benutzt hatte. Ich hatte ihm meinen Körper aufgezwungen, als er sich nicht dagegen wehren konnte. Er gab ein Wort für diese Tat: Ich hatte den Mann, den ich liebte, vergewaltigt.« Don Carlos di Vargas holte röchelnd Luft.
Ich blickte ihn an. Carlos di Vargas war vielleicht ein größerer Sünder als Alvaro, aber wenigstens wußte er, daß seine Taten Sünde waren. »Sprich weiter, mein Sohn,« forderte ich ihn auf.
»Ja, Vater, ich hoffe, daß ich diese Beichte noch vollenden kann, bevor ich endgültig der höllischen Verdammnis anheim falle.« Carlos hustete. »Diese Schande, die ich verspürte...
Ich raffte meine Sachen zusammen, ordnete hastig meine Kleider und stürzte aus dem Zelt. Mein Gott, ich fühlte mich so entsetzlich schmutzig! Ich weiß nicht, aber wenn mich in diesem Moment ein Blitz niedergestreckt hätte, ich hätte es nicht bereuen können, doch die Gefühle von Schuld waren im Übermaß vorhanden.
Ich setzte mich an den Fluß und starrte aufs Wasser. Als die Sonne aufging, wußte ich, daß ich noch nicht bereits war, Federico entgegenzutreten. In der Stimmung, in der ich mich befand, hätte ich mir wahrscheinlich bei dem ersten berechtigten Vorwurf die Kehle durchgeschnitten.
Also ließ ich mein Pferd satteln und gab vor, zum Generalstab zu reiten. In Wahrheit jedoch ritt ich den ganzen Tag nur ziellos in der Gegend herum, bis mir klar wurde, daß ich wohl kaum den Rest meines Lebens vor ihm davonlaufen konnte.
Ich kehrte zurück in mein Quartier und wartete einfach ab. Tatsächlich betrat Federico weniger als eine Stunde später den Raum.
Er war nicht gekommen, um mich zu fordern, nein, er erinnerte sich nicht einmal an die letzte Nacht! Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken zu schweigen, aber das war unmöglich. Ich mußte die Konsequenzen für mein ehrloses Handeln tragen. So schwer es auch war, ich gestand Federico die Wahrheit.
Seine Hand fuhr zu seine Degen, und ich machte mich bereit, für meine schändliche Tat sterben zu müssen. Doch dann sagte er, daß er mir verzeihe, und wie betäubt fragte ich, wer er sei, daß er soetwas fertig bringe.
„Der Mann, der dich liebt, Felice?" stellte er die Gegenfrage, und ich war nicht in der Lage, meine Tränen zurückzuhalten.
Er liebte mich! Er liebte mich!! Eine Liebe, die ich ohne Hoffnung wähnte, wurde erwidert.
Er trat ganz dicht an mich heran und flüsterte: „Ich wäre sehr dankbar, wenn du meine Erinnerung etwas auffrischen könntest wegen letzter Nacht."
Ich konnte nicht mehr anders, ich zog ihn an mich und küßte ihn. Er erzählte mir später, er sei noch niemals mit einem Mann zusammen gewesen, aber dafür wußte er sehr genau, was er tun mußte. Sein Körper war förmlich für die Liebe geschaffen. Ich hatte noch niemals einem Mann erlaubt, sich meines Körpers zu bedienen, doch Federico gestattete ich es, zum einen weil ich nie zuvor so sehr geliebt hatte, zum anderen weil es mir nach der letzten Nacht als angemessenes Zeichen der Demut erschien. Es tat weh, aber der Schmerz war meine Buße, und dann, dann wurde er süß, so süß...
In dieser Nacht wollte mir Federico sagen, wer er in Wahrheit war, doch ich wollte es nicht hören, weil ich nicht wollte, daß diese Liebe mit der bitteren Realität in Berührung kam. Und so blieb ich im Unklaren darüber, wer dort des Nachts in meinem Armen lag, wem ich eine Liebe geschenkt hatte, die so groß, so einzigartig war...
Wir lebten nach dieser Nacht miteinander, und niemanden schien das weiter zu interessieren. Wir verstiegen uns sogar darauf, Zukunftspläne zu machen, ich versuchte, mir ein Leben mit Federico auf Calatrava vorzustellen, und ich konnte es tatsächlich vor mir sehen.
Diese Liebe, die ich für ihn empfand, löschte alles andere aus. Meine Rache? Ach, so eine kleine läppische Angelegenheit, dachte ich damals, denn sie erschien mir so neben meinen Gefühlen, doch dann, dann...« Don Carlos schluckte mir schmerzverzerrtem Gesicht.
»Dann kam es zu diesem unseligen Tag... Es gab eine Schlacht an diesem Tag, und Federico war wie immer an meiner Seite, als ich ihn plötzlich zusammensacken sah. Eine Kugel hatte ihn in die Brust getroffen. Ich schrie auf, stürzte auf ihn zu und zog ihn, ohne die mich umschwirrenden Kugeln zu beachten, vom Schlachtfeld. Ich weiß kaum, woher ich die Kraft hatte, ihn in mein Quartier zu tragen, aber es gelang mir. Sofort ließ ich einen Chirurgen holen. Der untersuchte Federico und wiegte bedenklich den Kopf. „Ich werde die Kugel entfernen müssen."
„Ihr müßt ihn retten," flehte ich verzweifelt. Federico zu verlieren, das war für mich unvorstellbar. Ohne ihn würde ich sterben.
In diesem Moment erwachte Federico aus seiner Bewußtlosigkeit. „Wo bin ich?" fragte er mit schwacher Stimme.
„Bei mir." Ich brachte ein besorgtes Lächeln zustande.
„Laß mich sterben," keuchte Federico.
„Unsinn, durch unsere Pflege wirst du leben... Und für deine Tapferkeit den Orden von Calatrava erhalten."
Federicos Reaktion war irritierend. Er stemmte sich auf und schrie: „Nein, nicht von Calatrava."
Sein Zusammenzucken ließ mich für einen Moment zögern; was störte ihn an Calatrava? Hatte er womöglich von der Schande meiner Familie gehört?"
„Mein Freund...," begann Federico.
„Ihr solltet nicht sprechen," unterbrach der Chirurg ihn.
„Nur ein Wort," bat Federico.
Ich winkte den Chirurgen aus dem Raum. „Was kann ich tun?"
„Du mußte mir etwas schwören, Felice."
„Alles, was du willst."
„Auf meinem Herzen trage ich einen Schlüssel. Nimm ihn. Dieser Schlüssel öffnet meine Truhe. Dort ist ein versiegeltes Päckchen. Ich vertraue es deiner Ehre an, es enthält ein Geheimnis, das mit mir sterben soll. Verbrenne es, wenn ich tot bin..."
„Ich schwöre, es wird geschehen, aber du wirst leben," flüsterte ich und nahm den Schlüssel.
„Jetzt sterbe ich ruhig." Sein Blick traf meine Augen mit einem unendlich liebevollen Ausdruck. „Ich drücke dich an mein Herz, Felice."
Der Chirurg kehrte zurück und schob mich sanft aus dem Schlafzimmer meines Quartiers.
Im Wohnraum ließ ich mich auf einen der Stühle fallen. Meine Lippen formten ein Gebet, doch dann unterbrach ich mich selbst. Unsere Liebe war sündig, wie konnte Gott dann mein Gebet erhören? Mein Gott, ich saß hier tatenlos herum, während mein Geliebter um sein Leben kämpfte, und ich war nicht einmal in der Lage, für ihn zu beten!
Ruhelos stand ich wieder auf und begann, durch das Zimmer zu laufen. Auf einmal war da Federicos Stimme, die sich den Orden von Calatrava verbat. Wenn er diesen Orden nur deswegen nicht wollte, weil er die Schande meiner Familie kannte, dann mußte er sich doch nicht so sehr darüber erregen. Und auf einmal war dieser Gedanke in mir da, ganz plötzlich hatte er sich eingeschlichen... Das Haar, die Augen, die Farbe seiner Haut, die hohen Wangenknochen... Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, aber immer mehr war ich davon überzeugt, daß es wahr war.
Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob mein Verdacht richtig war. Aber nein, das konnte ich nicht tun. Ich konnte unmöglich das Päckchen öffnen, um sicherzugehen. Ich hatte versprochen, nein, geschworen, es nicht zu tun, aber diese Ungewißheit machte mich verrückt.
Schließlich öffnete ich die Truhe. Das Päckchen lag dort drinnen, aber ich rührte es gemäß meinem Schwur nicht an. Stattdessen durchsuchte ich nur den Rest der Truhe. Dabei fiel mir eine Miniatur in die Hände. Zitternd drehte ich sie herum und erkannte meine Schwester.
Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben. Der Verletzte, der mir als Federico Herreros bekannt war, war niemand anderer als Alvaro de las Moras, als der Mann, hinter dem ich so lange hergejagt hatte. Ich hatte ihn, ich konnte endlich den Tod meines Vaters und die Entehrung meiner Schwester rächen...
Und auf einmal wurde mir das ganze Ausmaß dieser Erkenntnis bewußt. Ich liebte den Mann, dem ich Rache geschworen hatte! Ich hatte mein Lager mit dem Mörder meines Vaters, mit dem Verführer meiner Schwester geteilt! Ich hatte einem Mestizen gestattet, mich anzurühren!!
Mein Magen drehte sich um, und meine Knie wollten ihren Dienst versagen. Wie hatte mich die Liebe so blind machen können? Alvaro de las Moras kämpfte nur wenige Schritte von mir entfernt um sein Leben, und ich wußte, daß er leben mußte, damit er büßen konnte. Büßen für all das, was er meiner Familie angetan hatte, was er mir angetan hatte.
Für einen Moment dachte ich darüber nach, einfach in das Schlafzimmer zu stürmen und mit dem Skalpell des Arztes meine Rache zu nehmen, doch das wäre gegen alle Ehre gewesen. Er mußte sterben, daran gab es keinen Zweifel, die di Vargas mußten Rache nehmen, auch wenn es Felice de Bornos das Herz zerriß, aber ich war nicht in der Lage, ihn wie den Hund, der er war, zu töten. Er hatte mein Leben gerettet, weshalb er einen ehrenhafteren Tod verdiente.
„Er ist gerettet," unterbrach auf einmal die Stimme des Chirurgen meine Gedanken.
Ich fuhr herum. Jetzt mußte ich nur noch darauf warten, daß er wieder zu Kräften kam, damit ich ihn töten konnte. Mein Glück wäre vollkommen gewesen, wenn ich Leonora mit ihm zusammen in die Hölle, aus der er gekrochen war, hätte schicken können, doch zunächst mußte ich mich damit zufrieden geben, an ihm Rache für all die Demütigungen zu nehmen.
Ich betrat das Schlafzimmer und betrachtete Alvaro. So wie er dort lag, wirkte er so unschuldig, so daß ich gar nicht glauben konnte, daß er meinen Vater getötet, meine Schwester entehrt und mich getäuscht hatte. Aber es war die Wahrheit, und aus diesem Grund mußte ich mich von seinem Anblick losreißen, um nicht weich zu werden.
Solange Alvaro geschwächt war, und sich bei ihm Phasen von Bewußtlosigkeit mit kurzen wachen Momenten abwechselten, pflegte ich ihn mit einer wahren Hingabe, doch sobald er nur zu geschwächt war, um seinen Dienst wieder aufzunehmen, ansonsten jedoch wiederhergestellt, mied ich seine Gegenwart und ließ mich nicht mehr bei ihm blicken. Es war nur wichtig, daß er bald in der Lage war, ein Duell auszufechten; alles andere zählte nicht, und für diese Zweck war meine Anwesenheit an seinem Krankenbett nicht vonnöten.
Die Wochen vergingen, und ich bemühte mich, mir einzureden, daß ich nur Alvaro de las Moras töten würde. Capitàn Federico Herreros wäre bei der Schlacht ums Leben gekommen. Solange ich ihn nicht sah, war dies möglich, doch als ich ihm dann gegenübertrat nach seiner Genesung, da wäre ich fast schwach geworden und ihm in die Arme gestürzt.
Ich forderte ihn, sagte ihm, wer ich sei, und daß meine Schwester am Leben wäre. Da letzte ließ ihn sehr erregt werden, und dann erklärte er mir, daß wir doch gemeinsam nach Leonora suchen könnten. Um die Ehre der di Vargas wiederherzustellen, würde er sie auch heiraten. Schließlich wäre er von ähnlich edler Herkunft wie wir.
Mein Gott, er war ein solcher Narr. Er, der Mestize, hielt sich den di Vargas für ebenbürtig. Und glaubte er denn ernsthaft, daß ich meine Schwester mit dem Mörder unseres Vaters verheiraten würde? Ganz zu schweigen davon, daß mir allein der Gedanke, daß er heiraten könnte, das Herz zusammenkrampfte.
Ich schwor ihm, daß ich Leonora töten würde, wenn sie mir in die Hände geriete, und darauf begannen wir, aufeinander loszugehen. Wäre die Militärpolizei nicht aufmerksam geworden und hätte mich von Alvaro fortgezerrt, es wäre schon damals entschieden worden, dann wäre schon damals einer von uns im Staub liegengeblieben.
Aber man zerrte mich fort, sperrte mich für eine Nacht in eine Zelle, und als man mich am nächsten Morgen entließ, war Alvaro wie vom Erdboden verschluckt. Man sagte mir nur, daß er seinen Abschied genommen hatte.
Er war mir erneut entkommen, doch diesmal würde mich nichts und niemand von einer weiteren Verfolgung abhalten, das schwor ich in einer kleinen italienischen Kirche auf die örtliche Reliquie. Mein Lebenszweck sollte die Jagd sein, mein Ziel die Rache.
Ich besorgte mir einen zweiten Degen, um Alvaro, wenn ich ihn fand, jederzeit, an jedem Ort fordern zu können.
Hin und wieder stieß ich in Gasthäusern oder bei Poststationen auf kleine Hinweise, die mir zeigten, daß er auf dem Weg zurück nach Spanien war, doch es gelang mir nicht, ihn einzuholen. Er war mir immer einen Schritt voraus.
Dann plötzlich verlor sich die Spur wieder, doch diesmal war ich so sehr von dem Wunsch besessen, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen und ihn mit meinem Degen zu durchbohren, daß ich mir nicht gestattete, deswegen in Schwermut zu versinken. Ich mied auch den Alkohol, die Karten und die Bordelle, denn das Gefühl der Rache füllte mich so vollständig aus, daß mich nach nichts anderem verlangte. Ich lebte in einer geradezu klösterlichen Askese, nur von einer einzigen Begierde getrieben, der Rache.
Ich begann, nach ihm zu suchen, zuerst in Katalonien, wo ich ihn vermutete, weil er Spanisch mit diesem Akzent sprach, dann forschte ich in sämtlichen Häfen des Landes, ob er vielleicht in seine Heimat zurückgekehrt war, und als auch das erfolglos blieb, drehte ich jeden Stein in ganz Spanien um. Doch ich hatte keinen Erfolg. Obwohl ich viele Jahre gesucht hatte, war Alvaro wie von der Hölle, aus der er stammte, wieder verschluckt worden.
Die Rache war das einzige Bedürfnis, was ich noch hatte, und was mich noch aufrecht hielt. Wäre sie mir genommen worden, mein Leben wäre sinnlos geworden.
Nach vielen Jahren der erfolglosen Suche kehrte ich nach Calatrava zurück. Ich wollte mich ein paar Wochen ausruhen, um dann die Jagd erneut aufzunehmen. Als ich den Boden von Calatrava betrat, mußte ich feststellen, daß das Calatrava meiner Kindheit und Jugend nicht mehr existierte. Überall herrschte Verfall und Niedergang. Es hatte eine starke Hand gefehlt, die all dies aufhielt.
Die Pächter der di Vargas, meine Pächter, konnten kaum von dem leben, was der Boden hergab. Einige von ihnen gingen sogar betteln, wie ich erfuhr. Als ich einer dieser Familien einen Besuch abstattete, sagte Maria, die Frau des Pächters und Mutter seiner sechs Kinder: „Wir können sehr froh sein, daß das Kloster Madonna d'Angels so nah ist, Herr. Dort bekommen wir manchmal Suppe von den Brüdern. Besonders wenn Padre Rafael sie verteilt, er hat ein gutes Herz. Ich meine, er sieht ein wenig ungewöhnlich aus mit diesen langen schwarzen Haaren, dieser dunklen Gesichtsfarbe und diesen unheimlichen Augen, aber er ist ein Heiliger, ein Engel... Und diese unvergeßlichen Augen..."
Normalerweise hätte ich einem derartigen Geschwätz keine Beachtung geschenkt, aber ihre Beschreibung von den Augen dieses Padres ließ mich aufmerksam werden. „Seit wann ist dieser Padre denn in dem Kloster?" fragte ich atemlos. Konnte es sein, war es denkbar?
„Er kam dorthin, kurz bevor die Männer aus dem italienischen Krieg heimkehrten," antwortete sie.
Zufall? Konnte es wirklich einen derartigen Zufall geben? „Ist er ein großer, schlanker, fast hagerer Mann mit hohen Wangenknochen? Ein attraktiver Mann?" Beinahe hätte ich Maria an den Schultern gepackt und geschüttelt.
„Woher wißt Ihr das Herr?" fragte sie mit großer Überraschung, doch ich war bereits davongestürzt, zurück nach Calatrava. Dort rannte ich ins Waffenzimmer, griff mir zwei Degen, schrie nach meinem Mantel und meinem Pferd und galoppierte fort, als beide gekommen war.
Das Kloster! Herr im Himmel, er war die ganze Zeit kaum einen Steinwurf von Calatrava entfernt gewesen, während ich in ganz Spanien nach ihm gesucht hatte! Mich verhöhnend hatte er sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft verborgen... Aber ich würde ihm diesen Hohn schon austreiben, ah, endlich, endlich, nach so vielen Jahren würde ich meinen Vater und meine Schwester rächen können und ihm heimzahlen, daß ich ihm gestattet hatte, mich anzurühren.
Ich erreichte das Kloster und betätigte die Glocke. Von einem dicken Mönch wurde mir geöffnet. „Den Padre Rafael," verlangte ich.
„Wir haben zwei," antwortete der Mönch. „Einen aus Percuna, dick und stocktaub. Der andere ist hager, dunkel und hat Augen, Himmel, was für Augen... Welchen wollt Ihr?"
„Den aus der Hölle."
Der Mönch zuckte kurz zusammen. „Und wen soll ich melden?"
„Einen Kavalier," antwortete ich nur. Der Mönch schloß die Tür wieder. Ich holte tief Lust und wappnete mich einerseits gegen eine erneute Enttäuschung, daß ich wieder einmal einer falschen Spur gefolgt war, andererseits für eine Begegnung mit Alvaro. Umsonst hatte er sich hinter Klostermauern verborgen, es gab keine Rettung für ihn, sein Blut mußte unsere Schande tilgen.
„Bruder," hörte ich auf einmal seine unverwechselbare Stimme hinter mir.
Ich fuhr herum und starrte ihn an. Vor mir stand Alvaro de las Moras in Mönchskutte, aber ansonsten unverändert, vielleicht waren seine Züge noch ein wenig mehr ausgeprägt worden. Das Feuer seiner Augen war nicht erloschen, es brannte nur etwas gezügelter. „Erkenne mich," forderte ich ihn auf.
„Don Carlos! Ihr lebt!" stieß er hervor, und in seinem Gesicht war eine Spur von Freude zu erkennen.
Beinahe... beinahe hätte mich diese Freude schwach gemacht. Doch dann riß ich mich zusammen. Das, was ich für ihn empfunden hatte, war jetzt vergessen, mußte vergessen sein. „Jahrelang bin ich deiner Spur gefolgt, denn nur Blut kann die Schmach auslöschen, die du uns angetan hast. Das Schicksal hat entschieden, daß ich dieses Blut vergießen werde. Da du als Mönch keine Waffe hast, habe ich zwei Degen mitgebracht."
„Ihr wißt, ich habe in der Welt gelebt und verstehe Eure Worte," erwiderte er, und ich fragte mich unwillkürlich, weshalb er mich auf so förmliche Weise ansprach. „Aber diese Kutte, das Kloster, zeigt Euch doch, daß ich für meine Sünden bereits büße. Verlaßt mich."
„Weder Kutte noch dieser Ort können dich schützen, Feigling," fuhr ich ihn an.
„Feigling, so eine Behauptung...," brach es aus ihm heraus, und ich schöpfte Hoffnung, doch dann schüttelte er den Kopf. „Der Wind möge Eure Drohungen und Beschimpfungen mit sich forttragen. Vergebt mir, habt Mitleid, Bruder, Mitleid. Warum der Haß gegen jemanden, der nur das Opfer eines Unglückes war? Beugen wir uns dem Schicksal."
„Mitleid!" sagte ich verächtlich. „Du mißbrauchst dieses Wort. Eine Schwester hast du mir gelassen, die du verraten und der Schande und Entehrung preisgegeben hast."
„Nein, sie wurde nicht entehrt, ich schwöre es als Priester, der ich bin. Ich habe sie angebetet, aber niemals angerührt. Ich liebe sie noch immer, und sollte sie mich auch noch immer lieben, dann hat mein Herz keine weiteren Wünsche."
Ich starrte ihn an und spürte die Eifersucht in mir. Wie konnte er dies sagen, wo er doch auch mir Liebe geschworen hatte? „Du kannst meinen Zorn nicht durch Lügen und feiges Geschwätz besänftigen. Bewaffne dich und kämpfe mit mir, Verräter!"
„Wenn es noch nicht reicht, daß ich bereue, daß ich weine, dann werde ich tun, was ich noch nie getan habe. Ich werfe mich Euch zu Füßen." Tatsächlich ging er vor mir in die Knie.
Mein stolzer Federico, Don Alvaro, der behauptet hatte, mir ebenbürtig zu sein, kniete vor mir und flehte um Gnade. „Mit dieser Tat beweist du mir endgültig die Schande deines Wappens," entgegnete ich verächtlich.
Sofort war er auf den Füßen. „Mein Wappen ist reiner als jeder Edelstein."
„Es ist gefärbt von Mulattenblut."
„Diese Lüge werde Ihr büßen. Ein Schwert und dann gehen wir."
„Endlich!" rief ich aus. Endlich würde ich den Schwur erfüllen können, der mich soviele Jahre angetrieben hatte.
„Nein, die Hölle soll nicht triumphieren," sagte Alvaro plötzlich mit toter Stimme und warf den Degen von sich. Seine Schultern sanken nieder, und er bekreuzigte sich. „Geh, entferne dich."
„Willst du mich verspotten?"
„Geh." Seine Stimme klang unglaublich müde.
Aber ich kannte kein Mitleid. „Wenn du jetzt immer noch keinen Mut zeigst, verdamme ich dich zur Ehrlosigkeit." Ich schlug ihm mit solcher Kraft ins Gesicht, so daß sein Kopf zur Seite flog.
„Jetzt hast du dein Schicksal besiegelt." Seine Augen funkelten mich an. Ohne den Blick von mir zu wenden, hob er den Degen auf. „Gehen wir."
„Ja, gehen wir beide dem Tod entgegen," rief ich aus, und auf einmal wußte ich, wie wahr dies war. Konnte ich etwa mit dem Wissen leben, Alvaro getötet zu haben?
Wir stürmten vom Kloster fort zu diesem Ort, wo wir begannen, miteinander zu fechten. Ich weiß nicht, wie lange wir miteinander kämpften, es kam mir wie eine Ewigkeit vor, während der keiner von uns einen Vorteil erringen konnte.
In einem Moment der völligen Klarheit, vielleicht hervorgerufen durch die Erschöpfung, wurde mir bewußt, weshalb Alvaro nicht hatte mit mir kämpfen wollen. Es war keine Feigheit gewesen, es war im Kampf tollkühn wie immer, nein, er wollte nicht gegen mich kämpfen müssen! Diese Erkenntnis machte mich für einen Moment unaufmerksam, und dann breitete sich in meiner Brust ein großer Schmerz aus.
Im ersten Augenblick wußte ich nicht, was geschehen war, während meine Knie den Dienst versagten, doch dann sah ich in Alvaros Gesicht. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, seiner Hand entglitt der Degen.
Ich stürzte zu Boden. Erst jetzt wußte ich, was geschehen war. In dem Moment der Unaufmerksamkeit hatte ich einen Angriff nicht ausreichend pariert, und Alvaros Degenspitze war mir tief in die linke Seite der Brust gedrungen. „Ich sterbe," brachte ich hervor. „Laß mich beichten. Rette meine Seele."
Alvaro taumelte zurück. „Und das ist wieder das Blut eines Vargas auf meinen Händen," schrie er verzweifelt.
„Ich muß beichten," rief ich. Ich würde sterben, aber ich konnte doch nicht sterben, ohne die Absolution zu erhalten. Alvaro war doch ein Priester, warum sollte er mir dann nicht die Absolution erteilen?
Er wich zurück. „Ich bin verdammt, ich kann nicht... Aber hier wohnt ein Eremit." Er verschwand aus meinem Gesichtskreis, so daß ich ihn nur noch hören konnte. „Kommt schnell, einem Sterbenden beizustehen."
Aus der Klause, die mir bisher nicht aufgefallen war, drang eine gedämpfte Stimme. „Ich kann nicht."
„Bruder, im Namen des Herrn!" flehte Alvaro, er flehte um mein Seelenheil. „Es ist dringend."
Irgendwo läutete eine Glocke, und jemand schrie um Hilfe. „Verwegener, fliehe den Zorn des Himmels!"
Ich versuchte, mich aufzurichten, denn ich glaubte, eine Frauenstimme gehört zu haben, und ich hatte das Gefühl, sie zu kennen.
Auch Alvaro erkannte sie. „Diese Stimme. Nein, ein Geist... Du, Leonora!"
„Alvaro!" rief meine Schwester.
Noch immer konnte ich nichts sehen, aber der Himmel hatte mich hierher geführt, wo sich meine Schwester befand. Jetzt, jetzt konnte ich wenigstens einen Teil meines Schwurs halten, wo ich doch schon beim Töten Alvaros versagt hatte.
„Bleib weg von mir," schrie Alvaro sie gerade an. „Meine Hände triefen vor Blut. Bleib fort!"
„Wovon sprichst du?" fragte sie.
„Dort... liegt ein Toter." Alvaros Stimme zitterte. „Ich habe ihn getötet, obwohl ich alles versucht habe, um den Kampf zu vermeiden. Ich sperrte mich in ein Kloster. Er fand mich, beleidigte mich,... und ich habe ihn getötet."
„Wen?"
Es entfuhr Alvaros Kehle wie ein Schrei. „Deinen Bruder."
Leonora stürzte zu mir herüber, so daß ich sie endlich sehen konnte. Sie wirkte mager, verhärmt und bar aller Illusionen.
Wie von weither hörte ich Alvaros Verzweiflungsschrei: „Feindliches Schicksal, willst du mich verspotten? Leonora lebt, und dann finde ich sie, nachdem ich Carlos' Blut vergossen habe."
Ich bemerkte, daß ich noch immer meinen Degen umklammert hielt. Alvaro lebte, Leonora lebte, das mußte bedeuten, daß sie zusammenbleiben würden. Konnte ich es ertragen, daß Alvaro meine Schwester berührte? Nein, dafür war ich nicht jahrelang auf der Jagd gewesen. Ich umklammerte den Degengriff fester und stieß zu.
Leonora schrie auf und schwankte fort von mir.« Don Carlos' Gesicht zeigte große Erleichterung, seine Beichte noch beendet zu haben. »Ich bitte Euch, Padre, die Absolution.«
»Te absolvo, mein Sohn, denn ich sehe, daß du wirklich bereust,« sagte ich und spendete ihm die Sterbesakramente.
»Etwas muß ich Euch noch sagen, Padre,« keuchte er; es war überdeutlich, daß es mit ihm zuende ging. »Es ist verrückt. Ich habe diesen Mann meine besten Jahre hindurch gejagt, ich habe ihm den Tod geschworen, und, Padre, ich kann mir nicht helfen, ich liebe ihn noch immer.« Mit diesen sündigen Worten starb Don Carlos di Vargas, der rechtmäßige Marquès di Calatrava.
Ich wandte mich zu Alvaro und Leonoras leblosem Körper um. Alvaro ließ sie sanft zu Boden gleiten und erhob sich mit quälender Langsamkeit. In seinen Augen leuchtete etwas, was ich nur Wahnsinn nennen kann. »Sie sind tot. « sagte er mit soetwas wie Überraschung in der Stimme.
»Nein, mein Sohn,« widersprach ich ihm. »Sie sind bei Gott.«
Er blickte mich an, als müßte er über diese Worte ernsthaft nachdenken. Eine ganze Weile stand er unbeweglich vor mir, und es sah so aus, als könnte er diese Wahrheit akzeptieren.
»Gehen wir zum Kloster zurück,« forderte ich ihn auf, doch er zeigte keine Reaktion. »Padre Rafael?« fragte ich vorsichtig und griff nach seinem Arm.
Auf einmal kam Leben in ihn. Er stieß meine Hand von sich. »Ihr könnt Padre Rafael suchen,« schrie er, und ich war sicher, daß Gott, unser Herr, ihm den Verstand geraubt hatte. »Ich bin ein Bote der Hölle, der Geist der Zerstörung. Hölle, öffne dein Maul und verschlinge mich! Laß den Himmel einstürzen! Laß die Menschheit verschwinden! Vernichtung!«
Ich wich vor ihm zurück und schlug ein Kreuz, doch er lachte nur, und dieses Lachen war so entsetzlich, daß er tatsächlich eine Kreatur der Hölle sein mußte.
Für einen Moment glaubte ich, er wollte mich angreifen, doch dann wandte er sich ab, beugte sich über Leonoras Körper, küßte sie sanft auf die Stirn und ging hinüber zu Don Carlos' Leiche. Er kniete neben ihm nieder, preßte seine Lippen auf den Mund des Toten, sprang dann auf und stürzte davon.
Ich habe ihn seit seiner Flucht nicht mehr gesehen, ich vermute, diese arme verwirrte Seele hat eine weitere Sünde begangen und Hand an sich gelegt, um sich selbst zu töten, indem er sich in eine Schlucht gestürzt hat.
Wie Du Dich vielleicht noch erinnerst, mein Sohn, ließen wir die leblosen Hüllen von Don Carlos und Doña Leonora zurück nach Calatrava bringen, wo man sie bestattete. Da ich keine weitere Aussagen darüber traf, wer Leonora getötet hatte, wurde allgemein davon ausgegangen, daß der Mörder von Carlos und Leonora der selbe war: Don Alvaro de las Moras.
Ich hoffe, mein Sohn, ich habe Dir mit diesem Brief ein gutes Beispiel dafür geben können, in welche heiklen Lagen der Padre Guardian eines Klosters wie des unseren kommen kann. Man hört Beichten mit soviel Schrecklichem, mit soviel Sündigem, daß man sehr deutlich um Gottes Beistand flehen muß, um es ohne Schaden für sein Seelenheil zu überstehen.
Selbstverständlich wirst Du lernen, was zu tun ist, um mit derartigen Situationen umzugehen in einigen Jahren, wenn Du mehr Erfahrung hast.
Aber ich bin davon überzeugt, daß es Dir gelingen wird, während ich fortan die Geschicke unserer Kirche in Rom mitbestimmen werde.
Nun also, mein Sohn, sei mit Gott, handele nach den Geboten unserer Kirche und leite dieses Kloster mit aller Kraft Deines Glaubens. Lebe wohl, mein Freund, Dein ehemaliger Padre Guardian, nun Seine Eminenz Kardinal Brogni.
