Der neue Padre Guardian des Klosters Madonna d'Angels legte mit einem sarkastischen Lächeln den Brief seines Vorgängers aus der Hand. Ihm war die Bigotterie des jetzigen Kardinals Brogni schon immer störend aufgefallen, und auch seine Selbstgerechtigkeit hatte oft genug an seinen Nerven gezehrt.

Dieser unerträglich lange Brief war allerdings entlarvender als alles andere. Und dieser Mann hatte ihn so häufig zu Geduld, Demut und Mitgefühl geraten, und selbst hatte er weder mit Leonora oder Carlos di Vargas nach mit Preziosilla oder Alvaro de las Moras Mitleid gekannt. War es denn ihre Schuld gewesen? Nein, das Schicksal hatte sich gegen sie verschworen und ihre Leben auf Gedeih und Verderb miteinander verknüpft.

Der neue Padre Guardian erinnerte sich sehr gut an die beteiligten Personen, Leonora di Vargas, die am frühen Morgen vollkommen verzweifelt vor der Tür des Klosters gestanden hatte, der wortkarge Mann, der sich als Carlos di Vargas herausstellte, der gekommen war, um einen der Klostermönche zu töten, Preziosilla, schön, wild, zynisch und doch mit einem so guten Herzen, daß sie ihm in Italien mehrfach das Leben gerettet hatte, und schließlich Alvaro de las Moras. Als Padre Rafael war er ein guter Freund des neuen Padre Guardian gewesen. Nicht, daß er jemals in der Lage gewesen war, Alvaro wirklich zu verstehen, aber niemand im Kloster hatte diesem so nahe gestanden wie er.

Der neue Padre Guardian vermißte Padre Rafael, denn im Gegensatz zu diesem waren die anderen Mönche manchmal furchtbar eindimensional und nur an der nächsten Gebetszeit und der nächsten Mahlzeit interessiert. Wie war soetwas nur möglich bei all den Dingen, die draußen in der Welt geschahen?

Ein weiterer Brief befand sich auf dem Schreibtisch des neuen Padre Guardian. Der Brief kam aus den Kolonien und war noch an den Namen adressiert, den der Padre als einfacher Mönch getragen hatte. Neugierig erbrach er das Siegel, welches das Wappen einer berühmten Adelsfamilie aufwies, und begann zu lesen:

»Mein lieber Padre, ich bin Euch unbekannt und erlaube mir trotzdem, diesen Brief an Euch zu richten.

Mein Name ist Doña Ana di Colbran i Guzman, ich bin die Witwe des vorherigen Vizekönigs von Peru. Ich schreibe Euch diesen Brief im Auftrage eines gemeinsamen Freundes. Er ist Euch unter dem Namen Padre Rafael bekannt, obwohl er auch den Namen Capitàn Don Federico Herreros trug. Sein wirklicher Name ist jedoch Don Alvaro de las Moras.

Er läßt Euch mitteilen, daß er am Leben ist und dieses auch zu bleiben gedenkt, denn seiner Ansicht nach müßt Ihr ihn für tot oder aber am Rande des Selbstmordes stehend halten.

Alvaro und ich sind mehr als alte Freunde, wir waren Liebende über mehrere Jahre hinweg. Allerdings hatten wir uns schon vor einer Ewigkeit getrennt, als er nach Spanien ging. Zuerst sandte er mir Briefe, doch da ich aus bestimmten Gründen niemals antwortete, verlor ich bald den Kontakt zu ihm.

Als die Nachricht vom Tod des Marquès di Calatrava und der Entführung seiner Tochter durch einen Mestizen nach Lima drang, machte ich mir Sorgen, versuchte jedoch nicht, Kontakt mit Alvaro aufzunehmen. Was hätte ich auch von Peru aus unternehmen können?

Nun, vor einigen Wochen meldete mir ein Diener einen Capitàn Herreros. Der Name sagte mir nichts, und da ich nicht viele unbekannte Besucher habe, ging ich neugierig in meinen Empfangssalon.

Mein Besucher trug billige Kleidung und starrte ins Leere. Erst, als ich die Tür geschlossen hatte, blickte er auf und sagte: „Es scheint so zu sein, daß ich niemals vor Euch in angemessener Kleidung erscheine, Doña Ana."

Jetzt erst erkannte ich ihn und hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen. Die Jahre hatten ihn verändert. Den hübschen Jungen, der mein Bett geteilt hatte, gab es nicht mehr, er war einem in dem Schmerz, der auf seinem Gesicht lag, immer noch attraktiven, ernsten Mann gewichen. „Alvaro," brachte ich hervor.

„Es ist schön, daß Ihr Euch an mich erinnert." Seine Stimme, die früher vor Leidenschaft geglüht hatte, klang nun flach.

„Es ist mir unmöglich, dich jemals zu vergessen," antwortete ich.

„Das scheint mein Fluch zu sein, niemals vergessen zu werden," murmelte er fast unhörbar.

Seine Veränderung irritierte mich, und so flüchtete ich mich in Konversation. „Was führt dich nach all den Jahren nach Lima?"

„Ich hatte versprochen, einmal zurückzukehren, und ich will wenigstens dieses Versprechen halten. Außerdem bin ich hier geboren und halte es deswegen auch für eine gute Idee, hier zu sterben," antwortete er.

„Weshalb sprichst du vom Sterben, Alvaro?" Was war nur mit ihm geschehen?

„Niemand kann leben mit dem, was ich erlebt habe, was ich getan habe," stieß er hervor und wirkte zum ersten Mal lebendig. „Diese Alpträume, sie lassen mich nicht in Ruhe, jede Nacht quälen sie mich, es kann so nicht weitergehen."

Mir war überdeutlich klar, was diese Worte bedeuteten, und ich war entschlossen, es zu verhindern. „Was ist geschehen, Alvaro?" fragte ich sanft. „Was hat dich in diesen Zustand versetzt?"

„Ach, Ana, es ist so entsetzlich," stöhnte er.

Ich ging zu ihm herüber, legte meine Arme um ihn herum und hielt ihn fest.

Seine Tränen durchnäßten mein Kleid, doch ich kümmerte mich nicht darum. Stattdessen dirigierte ich uns zu einer Chaiselongue. Ich wollte ihn dazu bringen, sich neben mich zu setzen, doch er fiel vor der Chaiselongue auf die Knie und verbarg das Gesicht in meinem Schoß.

Und dann brach die ganze Geschichte aus ihm heraus, das ganze grausige Geschehen, was ihn nach Spanien, dann nach Italien in die Armee und schließlich in Euer Kloster getrieben hatte. Nach dem Tod von Leonora und Carlos di Vargas war er nach Cadiz geflohen, hatte sich dort auf einem Schiff in die Kolonien anheuern lassen und sich mit Gelegenheitsarbeiten nach Lima durchgeschlagen.

Als er geendet hatte, bebten seine Schultern noch immer vor Schluchzern, und meine Hand strich durch sein Haar. Daß er nach derartigen Erlebnissen an Selbstmord dachte, war ja kein Wunder. Ich wußte auch nicht, was ich sagen oder tun konnte, um ihm zu helfen. Es mußte mir erst der Zufall zur Hilfe kommen, damit ich es wußte.

Wir verharrten noch immer in dieser Stellung, Alvaro den Kopf in meinem Schoß, da flog die Tür auf einmal auf, und meine jüngste Tochter Miranda stürmte herein.

Sofort sprang Alvaro auf und wandte das Gesicht ab. Mir gegenüber Schwäche zu zeigen, war für ihn in Ordnung, nicht jedoch gegenüber einer Fremden.

„Oh, Verzeihung," entschuldigte sich Miranda, „ich wußte nicht, daß Ihr Besuch habt, Mutter."

„Miranda, dies ist Don Alvaro de las Moras, ein alter Freund von mir. Don Alvaro, darf ich Euch meine Tochter Miranda vorstellen?" fragte ich, um die Situation so normal wie möglich erscheinen zu lassen.

Alvaro hatte sich wieder in der Gewalt. Er verneigte sich vor Miranda und beugte sich über ihre Hand. „Doña Miranda, Ihr habt die Schönheit Eurer Mutter geerbt."

Miranda wurde verlegen und wandte sich an mich. „Mutter, was ich eigentlich wollte... Ich bin mit dem Plato fertig, darf ich jetzt mit El Principe spielen?"

„Natürlich," antwortete ich, und Miranda knickste kurz vor Alvaro und rannte davon.

„Wer ist El Principe?" fragte er ablenkend, um sich wieder vollständig zu fassen.

„Ein junger schwarzer Jaguar, dessen Mutter bei einer Jagd getötet wurde. Miranda hat ihn aufgezogen. Vermutlich hält er jetzt sie für seine Mutter." Ich lächelte, als ich Miranda und die Raubkatze vor dem Salonfenster auftauchen sah, und El Principe sich auf den Rücken warf, um sich von meiner Tochter den Bauch kraulen zu lassen.

Alvaro beobachtete sie ebenfalls. „Ihr habt nicht nur eine bezaubernde Tochter, sondern auch eine bemerkenswerte. Plato und Raubkatzendressur." Auf seine Lippen stahl sich ein Lächeln. Für einen Moment schwiegen wir, dann brach er das Schweigen. „Sie könnte meine Tochter sein. Verdammt, sie sollte meine Tochter sein."

Dies war wohl der geeignete Moment, ehrlich mit ihm zu sprechen. „Sie ist deine Tochter, Alvaro," erwiderte ich sehr ruhig.

Er fuhr herum und starrte mich an. „Was?"

„Als ich dich damals fortschickte, wußte ich, daß ich ein Kind von dir erwartete," erklärte ich. „Du in meiner Nähe, das hätte zuviel Gerede gegeben. Außerdem... Ich mußte vortäuschen, daß mein Gemahl der Vater war, und ich wollte nicht, daß du Zeuge dieses Betruges sein würdest. Es wäre für uns beide zu schwierig, entwürdigend und demütigend geworden."

„Eine Tochter," murmelte er. „Ich habe eine Tochter."

„Ja." Es tat gut, ihm dies endlich sagen zu können.

„Sie ist eine Mestizin," stellte er fest. „So wie ich ein Mestize bin."

„Das liegt nahe." Er hatte sich gerade mit dem Begriff bezeichnet, den die Spanier für ihn benutzten, und den er bisher immer abgelehnt hatte.

„Ana, ich will nicht, daß es ihr so gehen wird wie mir," sagte er sehr gedehnt. „Ich bin hierher gekommen, um zu sterben, aber das kann ich nun nicht mehr, ich muß für Mirandas Zukunft leben."

Alvaro blieb über Nacht bei mir in meinem Haus, genauer gesagt in meinen Armen, und am nächsten Morgen zog er in den Urwald, aus dem er damals gekommen war.

Seit diesem Tag ist auf einmal ein Capitàn Alvaro in aller Munde in Lima. Dieser geheimnisvolle Mann kämpft gegen die spanische Armee, steht den Eingeborenen bei, verlangt die Unabhängigkeit und die Gleichberechtigung von Spaniern und Eingeborenen. Die Soldaten jagen ihn, doch ohne jeden Erfolg. Er scheint die Wälder zu kennen wie andere Leute ihren Kräutergarten, er taucht auf und verschwindet wie ein Geist und ist immer dort, wo man ihn am wenigsten vermutet.

Er und ich stehen in brieflichen Kontakt über einen hohlen Baum, in dem ich Nachrichten und Warnungen für ihn niederlege. Auch als Witwe eines Vizekönigs bringe ich noch einiges in Erfahrung, was ihm nützlich sein kann. Er sendet mir neben kleinen Briefen verbotene Bücher und Flugblätter, die ich zusammen mit Miranda lese.

Ich habe Miranda darüber aufgeklärt, daß sie nicht die Tochter des Vizekönigs ist; sie war kaum schockiert. Vielmehr findet sie es weitaus aufregender, einen Revolutionär zum Vater zu haben.

Mein guter Padre, nun ist dieser Brief doch länger geworden, als ich beabsichtigt habe. Eigentlich wollte ich Euch doch nur darüber informieren, daß Alvaro de las Moras am Leben ist.

Ich bitte um Verzeihung, daß ich Eure Zeit länger in Anspruch genommen habe, als ich beabsichtigt hatte, und verbleibe Doña Ana di Colbran i Guzman.«

Der Padre Guardian, der einmal Fra Melitone geheißen hatte, betrachtete den Brief noch einmal. Daß sein Freund Rafael - es fiel ihm schwer, ihn als »Don Alvaro« zu bezeichnen - am Leben war, erleichterte ihn sehr. Gleichzeitig war ihm bewußt, welch gefährliche Informationen dieser Brief enthielt. Es war nicht auszudenken, wenn er in falsche Hände geriet...

Mit einem bedauernden Aufseufzen hielt er Doña Anas Brief in die Flamme der Kerze auf seinem Schreibtisch und sah zu, wie das Papier zu schwarzer Asche verbrannte...