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„Okay ... langsam verstehe ich", sagte Benji. „Du willst mir also weismachen, dass die beiden Rotschopfe einen Zeppelin geklaut haben, obwohl sie das nicht durften, und dass sie ihn zum Fliegen gebracht haben, obwohl sie das nicht konnten?"
Bill verdrehte zum X-Tausendsten Mal die Augen. „Jaha!" Sein Blick fiel auf ein stehen gelassenes Cocktailglas. Erfreut schnappte er es sich, während Benji seine Gedanken ordnete, und soff ein bisschen.
Dabei sah er sich in der Halle um. Sie war ziemlich leer, waren alle draußen. Auch Tom war nicht da. Bill rückte auf seinem Stuhl herum und sah durch die Glaswand. Der Zeppelin war schon weit entfernt, trotzdem starrten die Leute ihm noch nach.
Ein Polizeiauto stand auf der Auffahrt, und ein schwarzer Mercedes, der gerade rückwärts den Weg hinunterfuhr. Platz zum Wenden war nicht vorhanden.
„Und was sollen wir dagegen machen? Also echt!", rief Benji aus. Gleichzeitig stand er auf und sah sich um.
„Joel! Was wolltest du vorhin von mir? Joel?"
Bill stellte den Cocktail auf den Tisch. Er entfaltete seine Beine, die er in einen Schneidersitz gequetscht hatte, stand auf und ging zur Tür.
„Sicher ist er draußen, so wie Tom", meinte Bill zu Benji.
Sie traten vor die Tür. Der schwarze Wagen fiel Bill ins Auge. Er fuhr immer noch rückwärts, quetschte sich durch das Fußvolk. Bill kniff die Augen zusammen. Es war ein ganz normaler schwarzer Wagen, nichts ungewöhnliches. Nach ein paar weiteren Sekunden zwang er sich, den Blick abzuwenden und sah sich nach Tom um.
„Wo ist mein Zwilling?", fragte Benji.
„Wo ist meiner?", fragte Bill.
„Der Mercedes da sieht gruselig aus. Der hat so 'ne düstere Ausstrahlung", meinte Benji. Er zeigte auf den schwarzen Wagen. Bill seufzte.
„Ja, hab ich auch gemerkt. Aber wir sollten unsere Brüder finden, und nicht Autos gucken. Ich habe noch nicht mal einen Führerschein."
Benji lachte kurz auf, sah Bills Blick und verstummte.
„Hast Recht, Kleiner. Hm. Wie viel krieg ich eigentlich pro Stunde?"
„Was?" Bill zog die Brauen zusammen.
„Bezahlung, dass ich auf dich aufpasse", sagte Benji. Er wartete auf den blöden Kommentar in Bezug auf Babysitten von Joel, da fiel ihm ein, dass Joel verschollen war und er sah sich erneut um.
„Gar nix! Wer bin ich denn!" Kurze Pause, in der Bill wohl einfiel, wer er war. „Ach ja, ich vergesse immer dein Autogramm", sagte er. „Kriegst zwei, okay? Eins kannste deiner Freundin oder so schenken."
„Es ist komisch, wenn er nicht da ist", stellte Benji fest. Langsam begann er, sich Sorgen zu machen. Hätte er Joel nicht schon längst gesehen, wenn er hier wäre?
„Hä?"
Benji sah zu Bill. „Joel!"
Bill sah sich um. „Wo? Ist Tom dabei?"
Benji verdrehte die Augen. Was für ein Idiot. Unwahrscheinlich ungeistreich. Ach, hätte Benji heute morgen seinen Computer einfach nicht fallen gelassen, dann hätte er sich nie Joels ausleihen müssen, dann wäre der ganze Schlamassel nicht entstanden. Alles Benjis Schuld. Da behielt Joel mal Recht. Und wo war er, um diesen Triumph auszukosten? Nicht da.
„Wo denn jetzt, Himmelherrgott noch mal!", rief Bill aus.
„Nirgendwo, ich habe über ihn geredet!"
„Oh." Bill sah zur Straße. Der schwarze Wagen fuhr gerade weg. Er wurde immer schneller und bog ab, verschwand aus Bills Sichtfeld. Er sah wieder zu Benji, der sein Chap abgenommen hatte und aussah, als würde er nachdenken. Schon das zweite Mal an diesem Tag.
„Was machen wir jetzt?", fragte Bill, um Benji noch mehr Stoff zum nachdenken zu geben.
„Ja, das wollte ich gerade fragen", sagte Benji. „Im Grunde warten wir einfach, bis sie wiederkommen." Er zuckte mit den Schultern.
„Nö. Ich warte doch nicht auf den werten Herrn, der es nicht für nötig hält, mir zu sagen, wo er ohne mich hingeht. Ne, ne. Ich kann meinen Spaß auch ohne ihn haben." Bill sah sich um.
Benji runzelte die Stirn. Es sah so aus, als müsste dieser Junge noch sehr viel lernen. Er setzte sein Chap wieder auf.
„Wie alt bist du?", fragte er.
„So was fragt man nicht!", quietschte Bill.
„Sag doch! Ich verrate dir auch mein Alter."
Bill sah Benji zweifelhaft an. „Das will ich gar nicht wissen."
„Mann, Bernd!"
Bill fielen fast seine Glubschäugelein aus dem Kopf. „Bitte, wie hast du mich genannt?"
„Jedenfalls bin ich siebenundzwanzig", sagte Benji.
„Ich heiße Bill, du alter Knacker, schon vergessen? Du kennst mich doch. Na, ich bin um die zehn Jahre jünger."
„Also siebzehn?"
„Sagte ich doch."
Benji kaute auf seiner Unterlippe herum. War er mit Siebzehn auch so naiv gewesen?
„Äh... wie heißt du noch mal?", fragte Bill.
Benji versuchte, eine Augenbraue zu heben. „Kennst du mich etwa nicht? Kulturbanause. Bin der Benji."
„Aha." Bills Gesicht blieb ausdruckslos.
Benji hatte keine Lust, zu streiten und dem jungen Spund Musikgeschmack beizubringen. Dazu bräuchte er Joel, und das Fehlen genau dessen bereitete ihm im Moment mehr Sorgen.
Schauen wir unterdessen mal, was Fred und George so trieben.
Wie aus unterschiedlichen Augenzeugenberichten erfahren, hatten sie einen Zeppelin gekapert. Ihn zum Fliegen zu bringen war für die beiden Zauberer ein Kinderspiel. Genauso wie es ein Kinderspiel für sie war, ihn zu steuern.
„Ich beginne, mich zu langweilen", meinte Fred.
„Nun, der Reiz des Verbotenen ist vorbei", sagte Georg.
„Wir sind Verbrecher", grinste Fred. George winkte ab.
„Komm mir nicht damit. Gegen wie viele Regeln wir schon verstoßen haben ... die eine oder andere mehr zählt wirklich nicht."
„Wir werden, sobald wir den Boden betreten, verfolgt und eingesperrt werden."
„In ein Muggelgefängnis?", fragte George ebenfalls grinsend.
„Japp."
„Das wird ein Spaß", freute George sich. „Sollen wir direkt vorm Gefängnis landen?"
„Ne, zu einfach machen wir es ihnen doch nicht."
„Hast Recht."
George tippte mit seinem Zauberstab gegen das geflochtene Holz. Er saß auf dem Boden des Korbes. Fred stand und schaute nach unten, während er ab und zu ihre Flugrichtung änderte.
„WAS wollen Sie von uns?", fragte Joel. Er saß eingequetscht zwischen Tom und seinem Polizisten. Gegenüber von ihnen saßen Toms Polizist und Superhero.
„Bill!", rief Tom. Er sah dabei aus dem Fenster. Joel folgte seinem Blick. Da kamen Benji und Bill aus dem Gebäude. Tom quetschte sich gegen die getönte Fensterscheibe. Joel räusperte sich. Er war guten Mutes, bald schon wieder freizukommen.
Der Mut schwand ein wenig, als er bemerkte, dass das Auto rückwärts fuhr. Aber bestimmt nur, um woanders zu parken.
„Sie werden uns jetzt alles über die Verbrecher erzählen", sagte der Anführer der Polizisten.
Joel verschränkte die Arme. „Wir haben sie heute erst kennen gelernt, ich weiß noch nicht einmal mehr, wie sie heißen", sagte Joel.
„Fred und George", sagte Tom. Sein Gesicht klebte noch an der Scheibe.
„Sie heißen Fred und George", sagte Joel. „Und haben rote Haare. Können wir gehen?"
„Wie haben sie es geschafft, den Jahrhundertalten Zeppelin zum Fliegen zu bringen?"
„Woher soll ICH das wissen?", rief Joel verzweifelt.
Der Mann sah ihn kritisch an. „Die übertriebenen Formatierungen können Sie sich sparen, das beeindruckt mich überhaupt nicht."
Der Wagen wendete, fuhr auf eine Straße auf und beschleunigte. Hm, war der Parkplatz wohl etwas weiter weg.
„BILL!", rief Tom. Er sah auf der anderen Seite hinaus, gab es dann aber auf. Er sackte zusammen, richtete sich wieder auf, verschränkte die Arme und sah den einzigen Polizisten, der hier reden durfte, bitterböse an.
„Sie haben mich von meinem Bruder getrennt!"
„Ja, genau. Wenn du mir alles erzählst, was du weißt, wirst du ihn bald wiedersehen."
„Ich glaube Ihnen kein Wort. Und ich werde keins sagen, ohne meinen ... Bruder."
Joel sah zu Tom. Was für ein Brudersöhnchen. Aber egal, er konnte schließlich länger als zehn Minuten ohne Benji auskommen. Auch wenn es nach fünfzehn Minuten kritisch wurde.
Benji währenddessen hielt sich die Ohren zu. Er saß mit Bill, dessen Namen er sich jetzt merken konnte, auf einer Bank im Innenhof. Die Atmosphäre wäre okay gewesen, wegen dem Springbrunnen und der Wiese, sehr romantisch und kitschig, aber Bill litt wohl unter Trennungsschmerzen. Jedenfalls gab er komische Laute von sich.
Zwischendurch hatte Benji den Verdacht, er sang. Die Sprach, die er benutzte, verstand er nicht, konnte also aus dem Text keine Rückschlusse ziehen.
Aber manchmal schlug er eben hohe, manchmal tiefe Töne an. Ganz komisch.
„Es reicht!", rief Benji endlich aus. Er legte eine Hand auf Bills Mund, die Töne verstummten. Bills Augen sahen ihn empört an, aber das störte Benji nicht, da er zum Springbrunnen sah. Oh, das Wasser plätscherte ja!
Ein jäher Schmerz an seiner Hand ließ sie zurückzucken.
„Ey, geht's noch?", fragte er. „Du bist schlimmer als Nina! Und die ist acht!"
Bill streckte ihm die Zunge heraus. Benji fühlte ein Gefühl der Leere, das auftauchte, weil kein blöder Kommentar zu seiner achtjährigen Freundin kam. Er musste Joel unbedingt wiederfinden! Vielleicht war er entführt worden? Weil einfach so weggehen, das würde er nicht tun.
Benji stand auf. „Ich mach mich auf die langwierige und schwere Suche, bei der ich nicht weiß, wo und wie ich anfangen soll, denn ich habe ein inneres Bestreben, meinen nervtötenden Bruder wiederzusehen. Mit anderen Worten: Tschüss."
Er lief ganze zwei Schritte.
„Warte!"
Bill war neben ihm. „Ich fühle genau dasselbe wie du. Ich werde dich nicht verlassen. Ich bleibe an deiner Seite, gemeinsam schaffen wir das!"
„Ja", murmelte Benji. „Ein unbrechbarer Wille führt immer zum Ziel."
„Sag ich ja. Wir sind gar nicht so verschieden, du und ich", meinte Bill zufrieden, einen neuen Freund gefunden zu haben. Seiner Meinung nach.
Benji hatte nichts dagegen, von jüngeren Menschen begleitet zu werden. Allerdings erwartete er dafür Kohle.
Sie durchquerten die nun wieder vollere Halle und kamen draußen an. Ein Polizeiauto stand noch da, Polizisten befragten Augenzeugen. Benji schubste einen Zeugen zur Seite und sah den Polizisten an.
„Wo ist Joel?"
Der untersetzte älterer Polizist in blauroter Uniform (an für sich schon ungewöhnlich, aber Benji wunderte sich heute über nichts mehr) sah von seinem digitalen Notizbuch auf.
„Wer sind Sie?"
„Ich bin Benji."
Der Polizist musterte Benji aus blutunterlaufenen Augen. Dann sah er auf sein Notizbuch hinunter.
„Und Sie haben mir was zu sagen?"
„Nein, ich möchte etwas wissen! Ich habe meinen Bruder verloren, irgendwo hier."
„Ja, Herr Benji, das ist nicht mein Problem. Lassen Sie ihn doch ausrufen."
„Meiner ist auch weg!", warf Bill ein. Benji sah ihn an, er hatte ganz vergessen, dass der Bursche auch noch da war.
Der Polizist sah Bill uninteressiert an. „Und Sie sind?"
„Bill Kaulitz!", meinte Bill stolz. „Wollen Sie ein Autogramm?"
Benji runzelte die Stirn. Er beugte sich zu dem Polizisten und meinte hinter vorgehaltener Hand: „Der leidet unter einem zu großen Ego, fragen Sie besser nicht weiter nach!"
Der Polizist nickte. „Wie auch immer, ich bin nicht von der Brüder-Wiederbeschaff-Institution. Die ist drei Blöcke entfernt. Gehen Sie doch dort hin."
Benji und Bill sahen sich an. Leider konnte Benji nicht Bills Gedanken lesen, das war ungewohnt für ihn. Also benutzte er die laute Sprache.
„Was denkst du darüber?"
„Wie panne muss man sein, um eine Brüder-Wiederbeschaff-Institution zu gründen?", meinte Bill.
„Gregor!", rief der Polizist. Die beiden Bruderlosen sahen ihn an. Ein junger Mann in blauroter Uniform kam angetrabt.
„Zu Diensten, Herr Beinhart!"
„Ja, beschreib diesen Herren doch den Weg zur BWI." Herr Beinhart begab sich zu dem Zeugen, den Benji zur Seite gestoßen hatte und half ihm, aufzustehen.
Voller Enthusiasmus sah Gregor sie an. Er hatte kurze dunkelbraune Haare und eine muskulöse Statur. Trotzdem hätte Benji es natürlich jederzeit mit ihm aufnehmen können, wenn es darauf angekommen wäre.
„Ich habe meinen Bruder auch einmal verloren, und die Herren von der BWI –" Gregor überlegte kurz. „Na, sie haben mir gezeigt, wie ich die Suche nicht gestalten sollte. Aber sicher haben sie mittlerweile dazugelernt."
„Wir wollen nur wissen, ob jemand sie hier gesehen hat", sagte Bill. Er holte sein Portmonee aus seiner Jeans, schlug es auf und hielt es Gregor hin. Mit einem langen dünnen Finger zeigte er auf ein Bild von Tom.
„Da, das ist er."
„Meiner sieht anders aus", versicherte Benji. „Viel besser. Ein bisschen wie ich."
Bill kicherte. „Natürlich. Als würde der Kerl von vorhin besser aussehen als Tom. Träum weiter."
„Hey, den Typen habe ich wirklich gesehen. Der hat rumgeschrieen und Kollegen angegriffen."
Benji lachte, aber Bill sah schockiert aus.
„Was hat er denn geschrieen? So was macht Tom nur, wenn er – sich bedroht fühlt."
Gregor fuhr sich durch die zentimeterkurzen Haare. Eine Hand stemmte er in die Hüfte.
„Ich habe nur gehört: Nein, will, nein, will." Er zuckte mit den Schultern.
„Nein will? Meinte er ‚will nicht'?", fragte Benji.
„Oder vielleicht Bill?", fragte Bill. Gregor zeigte mit einem Finger auf ihn.
„Bill oder Will, ist doch fast dasselbe."
„Oh Tom! Was hast du getan, wo bist du jetzt?", rief Bill verzweifelt aus. Benji lachte wieder.
„Da war auch ein anderer Mann dabei, der abgeführt wurde", sagte Gregor. Benji verstummte.
„ABGEFÜHRT?", hakte er dann nach.
„Ja, von Oberkommissar Ratte. Muss sich um Verdächtige gehandelt haben. Sie sagten, das wären Ihre Brüder?" Gregor kniff seine Augen zusammen.
„Es muss sich um eine Verwechslung handeln", sagte Bill und ließ sein Portmonee schnell in seiner Tasche verschwinden. „Ich habe gar keinen Bruder."
„Aber wer war dann –"
„Da haben Sie gewaltig etwas missverstanden. Vergessen Sie es, gehen Sie Spuren sichern, und wir gehen etwas essen oder trinken, das, wozu Zivilisten halt hier sind", sagte Benji.
Gregor nickte lahm. „Aber Zivilisten sind hier, um das Museum der Luftfahrtsgeschichte –"
„Ja, da gehen wir hin", meinte Bill und machte Gehbewegungen auf der Stelle. Gregor schaute verwirrt aus der Wäsche.
Benji und Bill gingen ein paar Schritte rückwärts, dann drehten sie sich um und fingen an zu laufen.
Fred und George waren auf einer Wiese gelandet, auf einer weiten großen Wiese, in deren Umkreis nichts war außer eine Landstraße und in der anderen Richtung sich ein Wäldchen erstreckte.
„Okay, wohin apparieren wir jetzt?", fragte George.
Fred überlegte. „Lass mal unsere Freunde suchen."
„Aber dann müssten wir zu dem Ort des Verbrechens zurückkehren."
Fred und George sahen sich an.
„Wir könnten auch nach Hogsmeade apparieren", sagte Fred.
„Und sie hier ihrem Schicksal überlassen", spann George weiter.
„Aber wir sind ehrenhafte Bürger", meinte Fred. Sie fingen an zu lachen.
„Okay, sagen wir, wir sind gute Freunde. Aber wie können wir sie finden, ohne erwischt zu werden? Meine Lust auf Gefängnis ist mir vergangen. Ich meine, wir könnten leicht raus apparieren, aber der ganze Aufwand davor ..."
George gähnte. „Ja ... und ich habe Hunger und bin müde. Können wir nicht eben nach Hogwarts gehen, uns was einverleiben und dabei Hermine fragen, wie wir die vier nach Hause schicken können?"
„Das ist wohl die beste Möglichkeit", meinte Fred.
Joel saß in einem Verhörzimmer. Die klischeehafte einzelne Glühbirne hing über seinem Kopf. Er hoffte nur, dass der Junge Tom keinen Nervenzusammenbruch erleiden würde. Es schien, als hätte er schon alles durchgemacht, außer eine zeitlang von seinem Zwilling getrennt zu sein. Aber auch das würde er überleben.
Wie gesagt, hoffte Joel.
Ihm gegenüber saß Kommissar Ratte. Ein unpassender Name, wie Joel fand. Superhero hatte schon besser gepasst.
Er haute mit der Faust auf den Tisch auf.
„Ich will Daten, Zahlen, Fakten", stieß er aus.
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, mein Gott", sagte Joel. Er fächerte sich Luft zu. Es roch unangenehm nach Rauch, obwohl niemand rauchte. Weder er, noch Superhero.
Die goldblonden Haare des Kommissars fielen ihm in Strähnchen ins Gesicht. Seine Augen strahlten meerblau und waren wohl das schönste in diesem Raum.
Abgesehen von Joel natürlich.
Ratte sah auf seinen handlichen Organizer.
„Sie heißen Fred und George und haben rote Haare. Rote Haare, wer hätte das gedacht! Mit albernen Vornamen kann ich auch nichts anfangen, ich will Daten, Zahlen, Fakten!"
„Heute, am 03.09.2006 sind Fred und George in mein Zimmer eingedrungen und haben mich und meinen Bruder entführt", zischte Joel. Dann überlegte er. Datum, ja. Fakten gab es auch, also fehlten noch Zahlen.
„Wir waren sechs Leute, der Junge, der bei mir war, mit seinem Bruder. Die beiden wurde auch verschleppt. Kann ich jetzt gehen?"
Ein klägliches Gejammer durchdrang das Polizeirevier. Die diensthabenden Beamten hatten schon ihren Ohropax rausgeholt. Die, die keinen mithatten, wurden anfangs mitleidig angesehen, danach nicht mehr beachtet.
Ging man den Gang runter und in das letzte Zimmer auf der rechten Seite, wurde das Gejammer unerträglich laut.
„Aber schon eine halbe Stunde ist um!", erklang es zwischendurch.
„Beruhige dich, du musst nur dem lieben Onkel sagen –", versuchte die Polizistin den aufgebrachten Jungen zu beruhigen.
„Der liebe Onkel kann mich mal am Arsch lecken!", beschwerte Tom sich. „Der kann mir den Buckel runterrutschen!"
„Ja, was denn nu?", fragte die Polizistin stöhnend. Ihre aschblonden Haare waren zu einem Zopf gebunden, und ihre blaurote Uniform unterschied sich nicht von denen der männlichen Polizisten. Make-Up hatte sie nicht nötig, sie blieb bei ihrem natürlichen Typ.
„Lieber den Buckel runterrutschen", meinte Tom überzeugt. „Obwohl ich keinen habe."
Er saß an einem Tisch, vor ihm ein Glas Wasser. Zum trinken, nicht, um seine Tränen aufzufangen.
Dazu hatte er einen Eimer auf dem Schoss, der schon halbvoll war.
Gerade jetzt in diesem Moment spürte er sich eine neue Flutwelle anbahnen. Und dann ging es wieder los. Tom heulte Rotz und Wasser in den Eimer.
„Armer Bill, ohne mich stehen seine Überlebenschancen gleich null!"
„Sagen Sie gerade dritter September Zweitausendundsechs?", bellte Ratte.
Joel hielt sich die Ohren zu. „Ich habe zwar Ziffern benutzt, aber im Prinzip Ja."
Ratte strich sich über das kahlrasierte Kinn.
„Wollen Sie mich verarschen? Wir schreiben das Jahr Zweitausendzehn."
Joel lachte. „Ja, klar, und ich bin der Weihnachtsmann."
Ratte seufzte. Er nahm ein Diktiergerät auf, schaltete es an und sagte hinein: „Anscheinend ist der Verdächtige geistesgestört. Er lebt in der Vergangenheit und behauptet weiterhin, der Weihnachtsmann zu sein."
Joel sprang auf, Ratte wich demonstrativ ein paar Schritte zurück.
„Das habe ich nicht behauptet! Also ja, aber doch nur, weil ..." Joel blieben die Worte im Hals stecken. Wie konnte es sein, dass er in der Zukunft war? Müsste es dann nicht auch ein zukünftiges Ich von ihm geben? Oder ‚war' er hier nie weggekommen, so dass er nun nur noch hier existierte?
Dann fiel ihm etwas anderes auf. „Was heißt denn hier: Der Verdächtige?", fragte er lauthals. Langsam wurde ihm alles zuviel. Wenn Benji hier wäre, müsste er ihn nur auf die Polizisten loslassen und sie wären im Nullkommanichts raus.
„Ist nun mal so! Wollen Sie mein Urteilsvermögen anzweifeln?", entgegnete Ratte.
Joel kräuselte seine Lippen. „Hm. Darf ich das denn, ohne dass sie ... was böses in ihr Ding sprechen?"
„Keine Chance."
„Dann nicht. Kann ich jetzt gehen?"
Ratte zischte etwas unverständliches. Joel wich einen Schritt zurück, erinnerte sich daran, dass man bei Tieren keine Furcht zeigen durfte und blieb dann mutig auf der Stellen stehen.
Zwei Polizisten kamen herein. Sie führten Joel unsanft aus dem Zimmer.
Auf dem Flur hörte er gleich das Heulen des Jungen. Joel riss sich los.
„Ihr Kinderquäler, der weiß doch nichts! Ich werde nun zu ihm gehen."
Die Polizisten sahen ihn an wie sein Kohlkopf im Kühlschrank es immer tat.
Joel zog seinen rechten Mundwinkel nach oben, als er sich langsam rückwärts entfernte. Dann drehte er sich um und ging schnellen Schrittes zu dem Zimmer, aus dem der Lärm drang.
„Und meine auuuuuuch", heulte Tom. Er hörte die Tür aufgehen und blickte von seinem Eimer hoch.
Joels Blick fiel zuerst auf eine blonde Frau, die ihre Ohren zuhielt. Dann sah er Tom. Dessen Miene erhellte sich, als er Joel sah. Er sprang auf, ignorierte dabei, dass sich der Inhalt des Eimers über den Boden ergoss und kam zu Joel angerannt. Kurz darauf hatte Joel zwei Ärmchen um seine Taille geschlungen.
„Bring mich hier raus!", forderte Tom. „Du großer, lieber Mann!"
„Joel wurde also abgeführt. Sobald er wieder sicher hier ist, werde ich ihn erst einmal auslachen", bemerkte Benji.
„Ja, aber ... Tom", meinte Bill mit zittriger Stimme. Seine Unterlippe zitterte, als wäre sie ein eigenständiges Wesen.
Benji legte einen Arm um Bills Schultern. „Wir werden sie schon wiederfinden", ermutigte er zusätzlich. Mit Kindern kannte er sich aus.
Sie liefen auf einer der sauberen Straßen, zum BWI. Es war ausgeschildert, als würde es sehr oft vorkommen, dass jemand seinen Bruder verlor.
„Die Frage ist nur: wann?", fragte Bill.
„Öh ... In spätestens einer Stunde", sagte Benji voller Hoffnung. Länger würden seine Nerven nicht mitmachen. Er gab es vor dem Knabe zwar nicht zu, aber auch ihn strapazierte die Trennung von seinem Gegenstück.
Er nahm seinen Arm wieder zu sich.
„Ich frag mich nur, ob die BWI uns weiterhelfen kann", sagte Bill. Benji zuckte mit den Schultern.
„Fragen kostet nichts", meinte er. Er hatte auch seine Zweifel, aber er wollte sich das Institut mal anschauen.
