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„Joel wurde also abgeführt. Sobald er wieder hier ist, werde ich ihn auslachen", bemerkte Benji.

„Ja, aber ... Tom", meinte Bill mit zittriger Stimme. Seine Unterlippe zitterte, als wäre sie ein eigenständiges Wesen.

Benji legte einen Arm um Bills Schultern. „Wir werden sie schon wiederfinden", ermutigte er zusätzlich. Mit Kindern kannte er sich aus.

Sie liefen auf einer der sauberen Straßen zum BWI. Es war ausgeschildert, als würde es sehr oft vorkommen, dass jemand seinen Bruder verlor.

„Die Frage ist nur: wann?", fragte Bill.

„Öh ... In spätestens einer Stunde", sagte Benji voller Hoffnung. Länger würden seine Nerven nicht mitmachen. Er gab es vor dem Knabe zwar nicht zu, aber auch ihn strapazierte die Trennung von seinem Gegenstück. Er nahm seinen Arm wieder zu sich.

„Ich frag mich nur, ob die BWI uns weiterhelfen kann", sagte Bill. Benji zuckte mit den Schultern.

„Fragen kostet nichts", meinte er. Er hatte auch seine Zweifel, aber er wollte sich das Institut mal anschauen. Als sie eintraten, bimmelte eine Glocke. Benji musste an Joels Spieluhr denken und grinste.

„Kann ich ihnen helfen?", fragte eine dicke alte Frau hinter einer blauen symmetrischen Theke. Benji lobte sich innerlich dafür, all die Details bemerkt zu haben und nickte ihr zu.

„Jo. Wir haben unsere Brüder verloren. Was kann man dagegen tun?"

Die Frau schnappte sich ein Formular und einen Stift. Den hielt sie schreibbereit darüber.

„Name."

„Joel."

„Name des Bruders."

„Hä, Joel ist mein Bruder. Mein eigener Name ist Benji."

„Haben Sie auch einen Nachnamen?"

„Madden."

„Und Tom Kaulitz wird vermisst!", mischte Bill sich ein.

„Sch, warte, bis du dran bist", meinte Benji.

„Datum der letzten Sichtung."

„Heute."

„Ort der letzten Sich-"

„Museum für Luftfahrttechnik." Benji ließ sie gar nicht erst ausreden. Er wurde ungeduldig.

„Kreditkartennummer."

„Drei sieben acht vie- wozu wollen Sie die wissen?"

Die Frau sah auf. Eine Augenbraue flog in die Höhe. Benji bekam eine Gänsehaut, und das bestimmt nicht, weil er die Frau attraktiv fand. Unheimlich träfe es besser. Unterdessen drangen klägliche Laute in sein Ohr. Er sah sich um, ob hier eine sterbende Katze rumlag.

Bill saß im Schneidersitz auf dem Fußboden. Die Laute kamen aus seinem Mund.

„Einen Augenblick", sagte Benji zu der unheimlichen Frau. Dann hockte er sich vor Bill hin.

„Ist es dein erstes Mal?", fragte er. Bill sah auf. Er antwortete nicht. Benji seufzte.

„Dass du von deinem Zwilling getrennt bist, meinte ich."

Bill nickte. „Ohne dass ich weiß, wo er ist, ja."

„Hm", machte Benji. Er dachte an sein erstes Mal zurück. Damals hatten sie Verstecken gespielt, und als Benji Joel nach zehn Minuten nicht gefunden hatte, hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten, sodass Joel schnell aus seinem Versteck hervorspringen und den Notarzt rufen musste.

„Wird schon wieder. Äh, kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte er. Bill sah neugierig auf.

„Pass auf, bei drei springst du hoch und rufst ‚Buh', und während die Frau einen Herzanfall hat, rennen wir weg, okay?"

Der superschlaue Joel war unterdessen aus dem Polizeirevier geflohen (okay, er hatte seine natürliche Autorität eingesetzt und auf ‚in dubio pro reo' bestanden). An seine Hand klammerte sich Tom. Joel hatte es zugelassen, weil der Junge gedroht hatte, seinen Klammergriff um seine Hüften beizubehalten, darauf konnte Joel nun wirklich verzichten. Sobald Benji in Sichtweite kam, würde er ihn loslassen. Falls Tom sich dann noch nicht alleine losgerissen und zu seinem Zwilling, der noch bei Benji sein musste, gelaufen war.

Da Joel einen Totaldurchblick und den überaus besten Orientierungssinn hatte, waren sie nun endlich bei der Luftfahrtechnik angekommen.

„Boah", schnaufte Tom. „Ich hasse Laufen."

„Also, die zwei Blöcke", sagte Joel. Er sah sich um. Langsam wurde die ganze Sache nervig, nicht spaßignervig, sondern kotzignervig. Dieser verdammte Benji... wo war er?

„Zwei Blocks sind fünf Minuten Fußbewegung! Was tue ich nicht alles für Bill", kam es weiter von dem Dreijährigen neben ihm. Ach ne, der war mindestens schon fünf, so wie der fluchen konnte.

Am leicht aufwärts-führenden Kiesweg, an dem sie zuallererst angekommen waren, herrschte wieder normaler Betrieb. Kein Polizeiauto war mehr in Sicht. Nach einem Rundgang durch die Halle, in der sie ihre Brüder verlassen hatten, stellten sie sich unten an die Straße. Das heißt, Tom setzte sich und verschränkte schmollend die Arme. Joel blieb stehen, blickte die Straße auf und ab und tippte mit dem Fuß auf den Boden.

„Drei, zwei, eins", sagte er.

Um die Straßenecke kamen Benji und Bill angerannt. Sie näherten sich ihnen und liefen an Joel vorbei. Dieser verdrehte die Augen, dass Benji aber auch nie nachdachte.

„Benji", rief er. Toms Kopf sprang ruckartig nach oben.

Benji sah sich im Laufen um, legte eine Vollbremsung hin und kam zurückgerannt. Kurz vor Joel stoppte er und sah ihn verlegen an.

„Ah, hi", meinte er. „Hab mich schon gewundert, wo du abgeblieben bist."

„Biiiiiiill!" Tom flitzte an ihnen vorbei. Bill hatte natürlich mitbekommen, dass Benji umgekehrt war und auch auf dem Weg hierher. Da Tom ihm entgegenkam, hatte er es nicht weit. Die Kaulitz-Zwillinge fielen sich in die Arme und verharrten so.

„Hmm", machte Benji mit Blick auf sie. „Haben sich wohl vermisst."

„Boah, du Idiot", sagte Joel. Er drückte Benji auch an sich, ein paar Sekunden. Dann kniff er ihn in den Arm. So musste eine Begrüßung aussehen. Benji grinste.

„Ich habe für Bill den Babysitter gespielt."

„Ich dachte, der heißt Bernd? Aber egal... du kannst es nicht lassen, hm?"

„Joel... du wurdest abgeführt?", grinste Benji weiter. Joel zuckte mit den Schultern.

„Jo... halb so schlimm. Nur der Offizier war total am Spinnen. Laberte etwas von dem Jahre 2010. Na egal... ich will nach Hause, wo sind die Rotschöpfe?"

„Keine Ahnung", sagte Benji.

Joels Blick fiel auf die beiden anderen Jungs, die sich noch immer in den Armen lagen.

„Sollen wir sie trennen?", fragte er.

„Wie kannst du nur so herzlos sein?", fragte Benji. „Das war ihr erstes Mal", hängte er leiser an. Joel machte große Augen.

„Ach, die Armen. Okay, sind ja auch erst fünf."

„Wovon redest du, die sind siebzehn."

„Klar, Benji, und du gehst sorgsam mit deinen Sachen um."

Benji verschränkte die Arme. „Es war Billys Sch-"

„War es nicht."

Sie blickten sich wütend an. Dann gab Benji nach.

„Okay... ich habe meinen PC fallen gelassen. Zufrieden?"

Joel grinste. „Wusste ich es doch."

Währenddessen bei den anhänglichen kleinen Jungens: Schweigen. Unterbrochen von Toms Schluchzen. Bill tätschelte ihm den Kopf. Es ging ihm auch an die Nieren, aber er musste stark sein. Für Tom.

Der schniefte. Nach unendlich langen Minuten löste er sich von Bill und sah ihn an.

„Es tut mir so leid! Ich hätte niemals aus dem Gebäude gehen dürfen!"

„Sch... ist alles wieder gut", sagte Bill. Tom wischte sich über die Nase.

„Das war so schrecklich. Ich war im Gefängnis."

„Du warst WAS?"

Tom erzählte in breitester Ausführung (mit ein oder zwei klitzekleinen Übertreibungen) was passiert ist.

„Zum Glück war der liebe Mann dabei", meinte er und zeigte auf Joel. Der ‚liebe Mann' und Benji kamen in diesem Augenblick zu ihnen.

„Und, beschlossen, euch ab jetzt aneinander zu ketten?", fragte Benji grinsend. Joel schüttelte den Kopf über Benjis dumme Sprüche. Tom sah zu seinem Zwilling.

„Keine schlechte Idee."

Benjis Grinsen verschwand.

„Nein, Scherz! Meine Güte, ich lerne es auch nie, kleine Kinder nicht aufziehen", sagte er, mehr zu sich selber. Bei dem ‚kleine Kinder' sah Bill ihn böse an.

„Ich dachte eigentlich, du bist halbwegs in Ordnung."

„Bill, tun wir es mit Handschellen?", fragte Tom, aber Bill ignorierte ihn. Benji konnte sich nicht entscheiden: über Toms Frage lachen oder sich vor Bill verteidigen?

„Hey, ich habe dich unter meine Fittiche genommen", entschied er sich für letzteres. Bill stemmte die Hände in die Hüften.

„Du hast mich bei der Frau bei der BWI gelassen, nachdem sie mich festgehalten hat, um an Geld zu kommen."

„Die hätte mich vergewaltigen wollen, dich nur berauben", verteidigte Benji sich weiter.

Bill warf seine Haare nach hinten. „Ach ja, ich bin auch im reifen Alter."

Benji lachte. „Na klar."

Tom kniff Bill. Da hatte er ihn wieder, und dann schenkte er ihm nicht die nötige Aufmerksamkeit. Unerhört war das.

In diesem Moment kamen die zwei Rotschöpfe an. Bei ihnen befand sich ein Mädchen, das hauptsächlich aus Haaren zu bestehen schien. Braune Locken, die wirr von ihrem Kopf abstanden.

„Aaah, meine lieben Freunde!", rief Fred aus.

„Ui, ui", meinte George aufgrund der sauren Mienen, die ihnen entgegenschlugen.

„WO WART IHR?", hallte es durch die Straße.

„Haben eure Rettung geholt", meinte Fred. Er zeigte zu dem Mädchen. Es entblößte ihren Überbiss, sollte wohl ein Grinsen sein und hob einen Ast hob. Beim Anblick dieses Asts klammerte Tom sich angstvoll an Bill, und Benji an Joel. Sie hatten alle schlechte Erfahrungen mit Ästen gemacht.

Im nächsten Augenblick fanden sie sich Zuhause wieder.

Benji sah sich verwirrt um. Er saß auf dem Boden von Joels Zimmer. Hatte dieser ihn k.o. geschlagen? Musste so sein. Nur warum saß Joel dann genauso verwirrt neben ihm?

Ach, sie hatten sich geprügelt. Ja, plötzlich erinnerte Benji sich an alles. Er stand ächzend auf.

„Kriege ich jetzt deinen PC?"

„Wo kommt ihr denn her? Warum seid ihr nicht in der – habt ihr euch versteckt, um die Schule zu schwänzen?", kreischte Siemone.

Bill und Tom saßen in der Diele auf dem Boden und schüttelten synchron die Köpfe. Zu mehr waren sie im Moment nicht zustande.

„Auf eure Zimmer, und ihr kommt nicht raus, bevor ich euch wieder rufe!"

Bill stand auf, und Tom beeilte sich, ihm hinterher zu laufen. Er hatte das Gefühl, im Moment überhaupt nicht alleine sein zu können. Deswegen folgte er ihm auch in sein Zimmer. Was ihre Mutter nicht wusste, machte sie nicht heiß.

„Tom", sagte Bill, als er sich auf sein Bett setzte. „Kann es sein, dass wir beim Frühstück leicht übertrieben haben?"

„Ja", meinte Tom. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Dann umarmte er Bill. „Lass uns nie wieder streiten... oder zumindest in den nächsten zehn Minuten nicht, okay?"

Fred streckte sich grinsend auf seinem Bett aus, die Arme hinterm Kopf verschränkt.

„Mal wieder ist alles zu unserer Zufriedenheit ausgegangen, fast wird das langweilig."

„Es gibt eben keinen ebenbürtigen Gegner für uns", sprach George. Er warf sich auf sein Bett.

„Was Jordan wohl gerade macht? Sollen wir ihm was ekeliges ins Bett legen?"

„Hm... weißt du was, George? Ich denke, es wäre schlau, mal die Zaubersprüche zu lernen. Ich finde es peinlich, dass Hermine uns manchmal raushelfen muss."

George kaute an seiner Unterlippe herum. Sein Bruder hatte Recht, irgendwie. Lernen hatte vielleicht doch einen Sinn, auch wenn es in dem Moment der Tätigkeit langweilig war. Und so begaben sich die Weasley-Zwillinge dazu hinab, in ein Buch zu schauen.

So endet auch die Erzählung der diesmaligen Entführung durch Zauberkraft und Zwillinge.