Kapitel 2
Schon bevor sie ihren neuen zukünftigen Klassenraum betritt wird Tally beinahe von einer übermächtigen Präsenz überwältigt, die sie sogar durch die geschlossene Tür wahrnehmen kann. Genau wie bei Atsushi am Vortag bleibt der jungen Weißhaarigen bei diesem erstaunlichen Gefühl beinahe das Herz stehen. Dieses Mal ist es eine Aura so wild, frei, ursprünglich und ungezügelt wie ein Hurrikan. Wirklich, wie viele Kerle mit einer Ausstrahlung wie eine Naturgewalt laufen denn hier rum? Ist das Standard in Japan?! Hoffentlich kann sie sich davon abhalten ihn anzustarren, wenn sie gleich vor ihre neue Klasse tritt. Wenn sie gleich am ersten Tag anfängt einen Jungen völlig fasziniert anzuglotzen macht sie sich bestimmt nicht sonderlich beliebt. Noch dazu das Gerede und die Gerüchte, die das heraufbeschwören würde.
Nervös wippt die Teenagerin auf ihren Zehenspitzen und zupft an der unbequemen Kleidung. Die Schuluniform der Touou Akademie besteht aus einem schwarzen Minirock mit weißen Streifen, die sich unten um den Saum herum ziehen, einer weißen Bluse und einem dunkelgrauen Blazer. Normalerweise tragen die Mädchen wohl noch eine Art Krawatte oder eine rote Schleife oder ein sonstiges Accessoire um den Hals, aber Tally hat dankend darauf verzichtet und die oberen Knöpfe ihrer Bluse lieber etwas offen stehen lassen, um sich nicht ganz so zugeknöpft und eingeengt vorzukommen. In diesen steifen Klamotten hat sie sowieso schon das Gefühl nicht richtig atmen zu können, deshalb hat sie auch den Blazer nur lässig übergeworfen und sich nicht extra die Mühe gemacht, ihn irgendwie zuzuknöpfen. Außerdem ist zu ihrer Erleichterung ihre Mutter noch nicht anwesend, also konnte sie auch um Kniestrümpfe, Leggings oder Strumpfhosen einen riesen Bogen herum machen. Stattdessen hatte sie sich ein Paar schwarze Lederstiefel mit leichten Absätzen besorgt, die ihr bis zu den Knien reichen. Eigentlich ja fast dasselbe wie Kniestrümpfe, oder? Sie könnte ja so tun als hätte sie welche drunter.
Als der Lehrer endlich die Tür von innen öffnet und sie bittet hereinzukommen, zwingt sich Tally durchzuatmen und eine lockere Körperhaltung einzunehmen. Mit ihrem dunkelblauen Rucksack über einer Schulter schlendert sie lässig ins Klassenzimmer und versucht mit mittelmäßigem Erfolg das allgemeine Raunen und Flüstern ihrer zukünftigen Klassenkameraden auszublenden. Trotzdem landet ihr erster Blick nachdem sie sich neben den Pauker vor die Tafel gestellt hat natürlich genau auf demjenigen, den sie krampfhaft versucht hatte zu ignorieren und was noch viel schlimmer ist, seine Augen bohren sich auch direkt in ihre. Vorher hatte er gelangweilt an seinem Tisch gelümmelt und gähnend seinen Kopf in eine Hand gestützt, aber sobald sie ihn das erste Mal angesehen hatte, veränderte sich seine gesamte Körperspannung. Jetzt sitzt er aufrecht und mustert sie intensiv und interessiert und Tally muss sich unter dem heftigen Druck seiner Gegenwart und seiner Aufmerksamkeit davon abhalten zurückzuschrecken. Ein bisschen fühlt es sich so an, als könnte er ihre Gedanken lesen, es ist beinahe gruselig, aber auch aufregend. Als würde man von einem wilden Raubtier mit übermenschlichen Instinkten und Fähigkeiten beobachtet und analysiert werden.
Sie kann einfach nicht anders, als mit großen Augen sein Starren zu erwidern und darüber hinaus auch noch festzustellen, dass er ziemlich gut aussieht. Besonders seine funkensprühenden Augen haben es ihr angetan, obwohl sie sich nicht ganz sicher ist, was für einen Farbton sie nun haben. Es ist etwas irgendwo zwischen dunklem Blau oder dunklem Violett und seine kurzen Haare haben denselben Ton. Außerdem hat er einen sonnengebräunten Haut Ton, der ihn ganz klar aus der breiten Masse herausstechen lässt, genau wie seine gesamte Art sich zu bewegen, jemanden anzusehen oder sie ganz frech anzugrinsen, was er genau in diesem Moment tut. Seine Mundwinkel verziehen sich teils spöttisch und teils irgendwie anerkennend nach oben zu einem schiefen Grinsen und Tallys Herz setzt einen Schlag aus, bevor es anfängt zu rasen.
Glücklicherweise rettet der Klassenlehrer sie aus dieser furchtbar unangenehmen Situation indem er sie bittet, ihren Namen an die Tafel zu schreiben, was sie nur zu gerne nickend bestätigt und sich umdreht, damit sie endlich den Blickkontakt brechen kann und auch noch eine gute Ausrede dafür hat. Tarri Bennetto schreibt sie in geübten, hübschen Katakana Zeichen an die Tafel und stellt sich höflich ihren neuen Klassenkameraden vor, die daraufhin kurz applaudieren. Einige der Jungs sind feuerrot angelaufen und die meisten Mädchen gaffen sie mit offenen Mündern und funkelnden Augen an, als käme sie von einem anderen Stern. So auch ein niedliches Mädchen mit langen, rosa Haaren und gleichfarbigen, großen, runden Augen das begeistert von seinem Platz zu ihr aufsieht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die die Weißhaarige vorne ausharren musste, zeigt ihr Lehrer auf einen freien Platz relativ weit hinten im Klassenraum und bittet sie sich dort hinzusetzen und so gut es geht seinem Unterricht zu folgen. Er bietet ihr noch freundlich an, dass sie mit Fragen gerne auch nach dem Unterricht zu ihm kommen kann, was sie nur noch mit einem halben Ohr mitbekommt, denn sie durchschreitet schon mit hoch erhobenem Haupt das Zimmer, um sich auf ihrem Stuhl niederzulassen und die Beine übereinanderzuschlagen. Ihren Rucksack lässt sie beinahe achtlos neben ihren Tisch fallen und lenkt ihre Konzentration bewusst in Richtung Fensterfront, um nicht wieder einen ganz bestimmten Klassenkameraden anzuglotzen. Daran wird sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen. Das oder sie wird ihn für den Rest des Schuljahres in jedem Unterricht, den sie zusammen haben ständig aus dem Augenwinkel beobachten, was recht schnell falsche Eindrücke hinterlassen könnte, falls er es bemerkt. Und so, wie sie ihn einschätzt, würde er es ganz sicher bemerken.
Besagter Klassenkamerad namens Daiki Aomine allerdings hat nicht wirklich so viel Anstand seinen Blick von ihr abzuwenden nachdem sie sich da hinten auf ihren Platz gesetzt hat. Im Gegenteil, je mehr sie versucht ihn irgendwie zu ignorieren und total aus ihrem Bewusstsein auszublenden, desto mehr scheint er sie anzustarren und desto intensiver kann sie quasi seinen Blick auf ihr spüren. Fast wie federleichte Berührungen. Tally unterdrückt ein Schaudern und sieht weiter stur aus dem Fenster oder ab und zu mal nach vorne an die Tafel, obwohl es da nun wirklich nichts Interessantes zu sehen gibt. Ihr Mitschüler seinerseits nimmt sich gemütlich alle Zeit der Welt sie genauestens unter die Lupe zu nehmen und von oben bis unten zu studieren, als wäre sie sein neuestes Forschungsobjekt.
Etwas an diesem Mädchen hat sein Interesse geweckt und er hat sich in den Kopf gesetzt herauszufinden, was es genau war. Seinen Instinkten kann er normalerweise blind vertrauen, trotzdem fragt er sich auf was an ihr sie gerade so heftig reagiert haben, als die Kleine den Raum betreten hatte. Als sie ihn mit ihren verschiedenfarbigen Augen angesehen hatte, schien kurzzeitig die Zeit stillzustehen. Ihr Blick hatte sich angefühlt wie ein Stromschlag unter der Haut, sowas war ihm noch nie passiert und natürlich findet er es faszinierend.
Noch einmal betrachtet er sie eingehend von Kopf bis Fuß. Die silberweißen Haare, die mit einer dunkelgrauen, langen Schleife zu einem hochsitzenden Zopf nach oben gebunden wurden und ihr selbst in diesem Zustand trotzdem noch bis über die Hüften reichen, die ungewöhnlichen Augen, das rechte saphirblau, das linke rubinrot, die im Moment leider nicht mehr auf ihn, sondern auf den fernen Horizont gerichtet sind und die vorher dieses eigenartige Feuer in seinem Inneren entfacht hatten, ihre zwar sportlichen, aber trotzdem mehr als weiblichen Proportionen und diese ewig langen Beine in diesen verdammten Stiefeln! Nein, wirklich, spannt die Bluse vorne rum nicht sogar etwas? Daikis Augen verweilen vielleicht etwas zu lange auf den absichtlich offen gelassenen Knöpfen und dem so entstandenen Ausschnitt der Bluse und er seufzt genervt. Ja, gut, sie ist mehr als nur ein bisschen scharf, aber das alleine ist es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hat. Schließlich hat das jeder andere Kerl in dieser Klasse auch wahrgenommen, das ist offensichtlich.
Aber was war es dann? Wenn es nicht alleine die Tatsache war, dass eine neue, heiße Transferschülerin die Tür reinkommt, was hat ihn dann dazu bewegt sich so auf sie zu konzentrieren? Die Art, wie sie ihn angesehen hat vielleicht? Es ist recht selten, dass sich das bei ihm jemand traut. Nur wenige haben die Nerven dazu, seinem Blick derart störrisch und lange standzuhalten und ihn auch noch nieder zu starren, so wie sie es getan hat. Der Lehrer hatte ihren stummen Wettkampf gestört, aber er ist sich ganz sicher, dass sie es sogar noch länger ausgehalten hätte. Also hat sie Mut und Feuer in ihrem kleinen, süßen Hintern, das ist ja auch schon mal nicht übel. Aber auch wie sich ihre Augen bei seinem Anblick leicht geweitet hatten, als wäre sie zu einer bestimmten Erkenntnis gekommen, hatte Daiki neugierig werden lassen. Was genau hatte sie in diesem Moment in ihm gesehen? Dass sie sich bloß verknallt hatte, wäre zwar auch nett, aber eigentlich schließt er das im Augenblick noch aus. So simpel und langweilig wie die anderen Mädchen auf dieser Schule erscheint sie ihm nicht, sonst würde er sich überhaupt nicht für sie interessieren. Hatte sie ihn also als Ass der Generation der Wunder erkannt? Auch das scheint ihm unwahrscheinlich, auch wenn er nicht genau sagen kann, wieso.
Und dann diese Bewegungen… Ihre gesamten Abläufe beim Gehen, wie sie ihren Kopf dreht und wendet, sich absolut flüssig und geschmeidig auf ihren Platz hat gleiten lassen, ohne dabei allzu viele Geräusche zu verursachen, selbst mit den leichten Absätzen an ihren Schuhen… Das alles wirkt so anders als bei anderen Mädchen und er kann zu seiner Frustration immer noch nicht genau einordnen, wieso. Es kommt ihm bekannt vor und dann auch wieder nicht. Alles, was er mit Sicherheit sagen kann ist, dass sie besonders ist.
Der Rest dieses Schuljahres verspricht also auf jeden Fall sehr interessant zu werden. Daiki kann ein neuerliches Grinsen nicht länger zurückhalten. Also, wie genau könnte er ausprobieren, was an diesem Mädchen so speziell ist, dass sie einen bleibenden ersten Eindruck bei ihm hinterlässt? Vielleicht sollte er sich für die kommende Mittagspause was Passendes einfallen lassen, aber zu seiner großen Überraschung ist seine Sandkastenfreundin Satsuki Momoi in diesem Punkt etwas schneller als er.
Die Rosahaarige springt beim Klang der Glocke aufgeregt von ihrem Sitzplatz auf, schnappt sich ein Mädchenmagazin und flitzt zu Tally hinüber, die ihre Mitschülerin erstaunt anblinzelt, als sie so aufgeregt und mit geröteten Wangen vor ihr steht und ihr das aufgeschlagene Magazin samt schwarzem Edding entgegenstreckt.
„H-hallo, ich bin Satsuki Momoi. F-f-freut mich wirklich sehr dich kennenzulernen, ich bin ein großer Fan! Bekomme ich bitte ein A-autogramm?!", stammelt das niedliche Mädchen und verbeugt sich leicht zittrig, was sowohl Tally als auch Daiki verblüfft erstarren lässt. Wenn Satsuki sie kennt und ein Autogramm von ihr will, muss sie ja bekannt sein. Vielleicht ist das ja des Rätsels Lösung.
„Ähm, klar gerne. Aber du musst nicht so nervös sein, weißt du. Hier in Japan bin ich eigentlich überhaupt nicht bekannt und außerdem sind wir im selben Alter und jetzt Klassenkameraden. Da brauchst du nicht so steif und förmlich mit mir umzugehen." Verlegen reibt sich Tally die Nase und unterschreibt quer über das große Foto von ihr selbst in der Zeitschrift. „Es überrascht mich tatsächlich, dass du weißt, wer ich bin. Hast du Beziehungen nach Amerika oder so?"
„Ich bin die Managerin von unserem Basketballteam.", antwortet Satsuki und nimmt strahlend ihr Heft und ihren Stift wieder entgegen. „Vielen Dank!"
„Ah, also kennst du wahrscheinlich meinen Vater.", vermutet die Weißhaarige sofort und ihre Mitschülerin nickt, immer noch sichtlich aufgeregt. „Natürlich. Mike Bennett, ehemaliger Profi Basketballspieler der NBA. Das mit seinen Verletzungen tut mir wirklich sehr leid, es ist furchtbar schade, dass er nicht mehr spielen kann. Das muss sehr hart für ihn und die gesamte Familie gewesen sein. Oh, aber deine Mutter kenne ich selbstverständlich auch. Ich habe sogar ein Poster von ihr in meinem Zimmer hängen aus der Zeit in der sie noch hier in Japan gemodelt hat, obwohl das ja vor meiner Zeit war."
NBA? Daiki horcht überrascht auf. Also ist die Kleine der Sprössling von einem Profispieler aus Amerika, wie interessant! Wenn man sich dann ihren gesamten Bewegungsablauf nochmal vor Augen führt, ergibt das durchaus Sinn. Er würde alles darauf verwetten, dass sie mit Basketball aufgewachsen ist, mehr noch, da sie in Amerika geboren und aufgewachsen ist, steckt ihr wahrscheinlich sogar Street Basketball im Blut. Eine süße, kleine, weibliche Taiga Kagami, könnte er denn tatsächlich so viel Glück in seinem Leben haben? Und ihre Mutter und sie selbst sind obendrein noch bekannte Models… Ob Satsuki ihm dieses unterschriebene Foto mal zeigen würde, wenn er nett fragt? Ganz sicher sogar!
Voller Vorfreude fangen in seinem Kopf schon an allerlei Ideen heranzuwachsen, wie man dieses Mädchen mal dazu bekommen könnte, eine Partie mit ihm zu spielen. Egal, ob sie nun weiblich oder männlich ist, sie scheint es voll drauf zu haben, genau deshalb hat er auch so ungewöhnlich auf sie reagiert. Bei Kagami hatte er es schließlich auch im Gefühl gehabt, dass er einen würdigen Rivalen abgeben würde. Ins Team würde sie wohl als Mädchen nicht eintreten können, aber vielleicht beim Training mal mitmachen? Sie macht nicht den Eindruck als wäre sie sich für sowas zu fein. Außerdem nimmt er sich fest vor, sie mal zu googlen und sich einige ihrer Modelbilder anzusehen, falls im Netz welche verfügbar sein sollten, ansonsten könnte er auch immer noch Satsuki fragen, ob sie noch mehr von diesen Klatschblättern zu Hause rumfliegen hat.
Mit einer gewissen Erleichterung stellt er fest, dass sein Leben in der nächsten Zukunft sehr viel weniger langweilig und öde werden würde. Nicht zuletzt dank Kagami, Tetsu, den anderen Mitgliedern der Generation der Wunder, die langsam aber sicher immer besser werden, Satsuki als Managerin und ganz neu im Programm, ein neues, hübsches Spielzeug, das es noch auszutesten gilt.
