Kapitel 3
In den nächsten Tagen bürgert sich sowas wie ein neuer Alltag in Tallys Leben ein. Sie gewöhnt sich langsam an die neue Schule, ihre Klassenkameraden, die alle ganz nett zu sein scheinen und sie entwickelt sogar eine recht gute und freundschaftliche Beziehung zu Satsuki, die sich öfter in der Mittagspause mal zu ihr gesellt oder der sie manchmal auf halbem Weg zur Schule begegnet. Ihre Hausaufgaben erledigt die Weißhaarige meistens schnell und mühelos und auch im Unterricht kann sie mehr oder weniger gut folgen, was zumindest ihre Sorge vermindert, eventuell das Schuljahr wiederholen zu müssen. Gut, dass Tally von Anfang an zweisprachig erzogen wurde, so hat sie jetzt wesentlich weniger zu befürchten als zunächst erwartet. Sie hatte sich den Wechsel zu einer komplett anderen Sprache und Kultur tatsächlich wesentlich schwieriger vorgestellt. Bleibt nur noch zu überlegen, in welchen Klub sie eintreten möchte und ob sie als Nebenjob auch hier in Japan wieder mit dem Modeln in Teilzeit anfangen soll.
Ansonsten erledigt das junge Mädchen alle Aufgaben, die im Haushalt so anfallen, kocht, putzt, räumt auf, kauft ein und macht zwischendurch ihre Sporteinheiten wie Jogging, Gymnastik, Krafttraining mit Hanteln oder lässt sich sogar mal dazu verleiten runter zu dem nahegelegenen Basketballplatz zu gehen und alleine ein paar Körbe zu werfen. Allerdings wird ihr dabei immer wieder schmerzlich bewusst, dass sie die Street Basketball Kultur aus Amerika furchtbar vermisst. Besonders die beiden Jungs, Taiga und Tatsuya, mit denen sie in ihrer alten Heimat ihre Grundschultage verbringen konnte und natürlich die verrückte blonde ehemalige Profi Basketballspielerin Alex, die sowas Ähnliches wie ein Coach für die Kindheitsfreunde geworden war.
Von ihrer neuen pinkhaarigen Freundin Satsuki hatte Tally schließlich von der Generation der Wunder, den ungekrönten Königen, Taiga, Tetsuya, dem Inter-High Turnier und dem Winter Cup erfahren und war mehr als bloß überrascht gewesen, dass jemand, der für sie mal wie ein Bruder gewesen war nun sowas wie ein Held für die besten Basketballspieler dieses Landes in seiner Altersgruppe sein soll. Weniger überrascht gewesen war sie über die Tatsache, dass sowohl Atsushi, als auch Daiki zu dieser besagten Generation der Wunder gehören, denn jetzt kann sie sich wenigstens einen Reim auf diese gewaltige mysteriöse Ausstrahlung machen, die die beiden an sich haben und mittlerweile ist sie sich auch fast sicher, dass die anderen Mitglieder eine ähnliche Aura um sich herum haben werden. Und da Taiga und sein Partner Tetsuya mit ihrem Team dazu in der Lage gewesen waren, alle Mitglieder zu besiegen und wieder auf den rechten Weg zu führen, werden die beiden wohl auch eine ganz besondere Präsenz haben. Bei Taiga wird es sich ganz sicher furchtbar merkwürdig anfühlen, plötzlich von so einer rohen Gewalt in seiner Nähe überwältigt zu werden, da Tally ihn ja noch von früher kennt. Irgendwie hofft sie, dass er sich dadurch nicht zu sehr verändert hat, denn sie hatte sich nach dem Gespräch mit Tatsuya eigentlich fest vorgenommen, den Rotschopf an seiner Oberschule mal besuchen zu gehen. Ganz sicher wäre sie schrecklich enttäuscht, wenn sie ihn durch seine Veränderung kaum noch wiedererkennen könnte.
Auf dem Weg zur Touou Akademie schlurft Tally müde und gelangweilt über den Gehweg, während sie sich entweder die Augen reibt oder sich gähnend streckt. Frühes Aufstehen gehörte noch nie zu ihren Favoriten im Leben. Wie so oft in den letzten Tagen begegnet ihr etwa auf der Hälfte der Strecke das niedliche, rosahaarige Mädchen mit den hübschen, glatten Haaren, die ihr bis in die Mitte vom Rücken reichen und den gleichfarbigen, freundlichen Augen. Aber dieses Mal wird sie von ihrem Sandkastenfreund Daiki Aomine begleitet, der in etwa genauso motiviert aussieht, wie Tally sich fühlt. Gähnend und mit seinen Händen in den Hosentaschen trottet er neben ihr her.
„Ah, Ri-chan, schönen guten Morgen!", flötet Satsuki mit ihrer glockenhellen Stimme und die beiden bleiben kurz stehen, um auf sie zu warten. Tally hebt bloß eine Hand zum Gruß und schließt sich ihnen kommentarlos an. „Wheez!"
„Du bist wirklich genauso ein Morgenmuffel wie Dai-chan!", beschwert sich die Rosahaarige und Tally unterdrückt ein lautes Auflachen und tarnt es als Husten. „Dai-chan?!", wiederholt sie ungläubig und wirft Daiki einen belustigten Seitenblick zu, den er auf eine Art und Weise erwidert, die deutlich ausdrückt, dass jedes weitere Kommentar ernsthafte körperliche Schäden zur Folge haben würde. Trotzdem kann sie sich ein Kichern und ein leichtes Kopfschütteln nicht verkneifen, was Satsuki dazu veranlasst kirschrot zu werden.
„Ich hab dir doch erzählt, dass wir uns schon so lange kennen…", murrt sie leise und verzieht die Lippen zu einem Schmollmund. „Eine Zeit lang hab ich mal versucht ihn Aomine-kun zu nennen, aber das fühlt sich einfach total falsch an!"
Tally tätschelt ihrer goldigen Freundin bloß den Kopf. „Schon gut, du musst dich ja nicht rechtfertigen. Es kam bloß unerwartet, das ist alles. Zumindest hätte ich erwartet, dass er selbst protestiert, aber dass ihr zwei euch so gut versteht ist doch super. Meine beiden Freunde aus Grundschulzeiten hab ich ewig nicht mehr gesehen. Der Kontakt ist total tot."
„Och, das ist aber schade! Du hättest sie anrufen sollen.", kommentiert Satsuki und Tally verschränkt grinsend ihre Arme hinter dem Kopf. „Das werde ich…" Gerade will die junge Weißhaarige ihren beiden Begleitern erklären, dass es sich um Taiga Kagami und Tatsuya Himuro handelt, als sie innerlich heftig zusammenzuckt bei dem bedrohlichen Gefühl, dass etwas kleines, rundes mit einer krassen Geschwindigkeit auf sie zugeflogen kommt.
„Sacchan!", ruft Tally alarmiert, packt ihre Klassenkameradin am Arm und während sie die Rosahaarige blitzschnell aus der Gefahrenzone zieht, tauscht sie in einer einzigen geschmeidigen Bewegung mit ihr den Platz, nur um ihre rechte Hand zu heben und damit den heranrasenden Baseball zu fangen, der ansonsten ganz sicher Satsukis Kopf getroffen hätte. Erleichtert atmet die weißhaarige Teenagerin aus. „Puh! Das war echt knapp! Wo zur Hölle kommt der denn so plötzlich her?!"
Kaum hat sie diese Frage gestellt und den kleinen, weißen Ball in ihrer Hand verwirrt betrachtet, kommt auch schon ein Mitschüler in Sportuniform und mit einem Baseballhandschuh panisch auf sie zu gerannt.
„Oh mein Gott, das tut mir so furchtbar leid! Geht's euch allen gut? Niemand verletzt?", ruft er aufgeregt und verbeugt sich unter vielen Entschuldigungen mehrmals vor den drei Klassenkameraden.
„Schon gut, reg dich wieder ab. Ist ja nichts passiert. Alles noch dran!", antwortet Tally lässig und wirft dem armen Kerl gekonnt seinen Ball wieder zu. „Passt bloß besser auf wo ihr hinzielt, sonst geht das nächste Mal vielleicht ins Auge."
Als der hypernervöse Junge sich noch einige Male entschuldigt und verbeugt hat, eilt er hektisch und zum Abschied winkend zu seinen Teamkameraden zurück aufs Spielfeld, während Satsuki und Daiki total entgeistert dastehen und Tally anstarren.
„R-Ri-chan, das war unglaublich! Wie konntest du das von deiner Position aus sehen?", platzt die Rosahaarige plötzlich hervor und auch Daiki neben ihr scheint sich zumindest wieder daran zu erinnern wie man blinzelt. „Und selbst wenn du es gesehen hast, deine Reaktionszeit war einfach großartig! Du hast mich wirklich gerettet, ich danke dir!"
Aber Tally weicht dem leuchtenden Blick ihrer Klassenkameradin bloß verlegen aus und zuckt scheinbar desinteressiert mit den Schultern. „War nur Intuition, weiter nichts.", winkt sie ab und spielt den Vorfall so herunter ohne dabei wirklich auf Satsukis Fragen zu antworten, was auch Daiki nicht verborgen bleibt. Bevor allerdings noch jemand was dazu sagen kann, läuft die Weißhaarige einfach weiter auf das Schulgebäude zu. „Lasst uns rein gehen!", ruft sie den beiden noch über die Schulter zu.
„Intuition, huh?!", wiederholt Daiki zynisch und grinst dabei sein schiefes Grinsen. „Interessant." Seine Sandkastenfreundin schenkt ihm einen fragenden Blick und er seufzt. „Sie hat den Ball nicht gesehen, sie wusste einfach, dass er kommt.", erklärt er ungefragt und setzt sich ebenfalls wieder in Bewegung, um das Schulgebäude zu betreten. „Deshalb konnte sie auch so schnell reagieren. Ihre Bewegungen an sich sind nicht außergewöhnlich schnell, sie sind zwar sehr flüssig und präzise, aber die Schnelligkeit kommt daher, dass sie die Situation im Voraus erkannt hat."
„Wie Akashi-kun?!", fragt die Pinkhaarige, aber Daiki schüttelt den Kopf. „Akashi sieht das Spielfeld und die Züge seiner Gegner bevor sie passieren. Das eben war was anderes. Sie brauchte diesen verfluchten Ball nicht mal aktiv zu sehen, um zu wissen, dass er auf uns zukommen würde. Von ihrer Position aus war es unmöglich das Ding mit den Augen zu sehen. Wir beide haben ihn ja auch nicht sehen können. Es war viel mehr als hätte sie den Ball gespürt, deshalb nennt sie es auch Intuition. Es ist ein Gefühl, aber ein so starkes und zuverlässiges, dass sie es scheinbar überhaupt nicht infrage stellt, also ist es wohl mehr ein Instinkt, auf den sie sich jederzeit hundertprozentig verlassen kann."
„Wow, sowas hab ich noch nie erlebt. Ich hab auch noch nie gehört, dass jemand so eine Fähigkeit hat.", gibt Satsuki verblüfft zurück und Daiki macht bloß ein zustimmendes, nachdenkliches Geräusch als Antwort darauf.
Als er irgendwann merkt, dass seine Kindheitsfreundin ihn die ganze Zeit dümmlich von der Seite angrinst, verliert er langsam die Geduld und runzelt verärgert die Stirn. „Was?!"
„Och nichts… Ich wünsche dir nur viel Glück.", trällert sie selbstzufrieden und schenkt ihm ein viel zu wissendes Grinsen. „Allerdings bezweifele ich, dass es in ihrem Fall einfach für dich wird…"
„Oi, Satsuki…!", beschwert sich Daiki sofort, aber seine Freundin lässt sich von seinem angepissten Tonfall gar nicht erst beeindrucken und stemmt selbstbewusst die Hände in die Hüften. „Ich bin nicht blind, Dai-chan! Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Ich sehe doch, wie du sie ständig anstarrst seit dem ersten Tag! Deswegen hast du mich auch nach den Fotos gefragt und genau deshalb wolltest du heute auch mit mir zusammen zur Schule laufen, stimmt's? Sonst fragst du mich vorher nie, entweder wir begegnen uns oder eben nicht. Dachtest du echt, dass mir das nicht auffällt?!"
Beleidigt wendet sich das Basketball Ass von der Rosahaarigen ab, um seine brennenden Wangen vor ihr zu verbergen. „Das heißt doch noch lange nichts, Idiotin!", motzt er ungehalten und Satsuki fängt an zu kichern, was ihn natürlich noch mehr ärgert. „Ehrlich, ich frage mich, warum dir das ausgerechnet vor mir so unangenehm ist. Ich freue mich doch, dass du dich endlich mal für ein Mädchen interessierst. Ich stehe da voll hinter dir, weißt du. Ri-chan ist echt super!"
„Hörst du jetzt gefälligst mal auf damit!", blafft Daiki, der immer mehr in Verlegenheit gerät und deshalb so aus der Haut fährt. „Ich interessiere mich überhaupt nicht für sie, verdammt! Sie ist einfach bloß anders als andere Mädchen und ja, das ist mir eben auch aufgefallen."
„Und es gefällt dir.", neckt Satsuki trotzdem weiter und kassiert dafür einen bösen Blick, der allerdings langsam der Resignation weicht. Seiner Sandkastenfreundin etwas vorzumachen wird in hundert Jahren nicht funktionieren. Seufzend kratzt sich Daiki am Hinterkopf. „Kann schon sein…", gibt er schließlich zu und die Rosahaarige lächelt und nickt, sagt aber zu dem Thema nichts mehr.
„Was soll das überhaupt heißen ich bezweifele, dass es einfach für dich wird, huh?", schiebt das Basketball Ass schließlich doch noch verärgert hinterher, weil er sich so ein Kommentar von der Rosahaarigen einfach nicht gefallen lassen will. Was glaubt sie wer sie ist?! Satsuki kichert schadenfroh und zuckt mit den Schultern. „Ri-chan wirkt nicht wie eins dieser Mädchen, das sich dir von sich aus plötzlich an den Hals werfen wird, Ass hin oder her.", beantwortet sie ihrem Sandkastenfreund ehrlich seine Frage und er schnaubt verächtlich. „Na Gott sei Dank! Du weißt doch, dass ich das sowieso nicht ausstehen kann!"
Die junge Managerin verdreht die Augen. „Meine Güte, Dai-chan. Alles in deinem Leben muss immer erstmal eine Herausforderung sein bevor es dich interessiert… Irgendwie bin ich froh, dass wir sie kennengelernt haben, sonst hättest du vermutlich nie eine Freundin abbekommen, aber damit du überhaupt eine Chance hast, versuch wenigstens nett zu ihr zu sein. Mit einem Mädchen kannst du nicht so umspringen wie mit Kagamin."
Verblüfft bleibt Daiki der Mund offen stehen. Freundin?! Er schnappt empört nach Luft. „Sag mal, Satsuki, hat dein Gehirn gerade einen Kurzschluss oder was?! Wer sagt, dass sie meine Freundin wird? Und wer sagt, dass ich das überhaupt will?! Und was hat das bitte mit Kagami zu tun?! Du redest wirres Zeug!"
„Tue ich nicht!" Die Rosahaarige bläst beleidigt die Backen auf. „Du hast eben gerade zugegeben, dass sie dir gefällt, also wieso solltest du dann keine Chance bei ihr haben, wenn du dich mal ein bisschen zusammenreißt? Aber das ist vermutlich zu viel verlangt bei so einem unsensiblen Grobian ohne Manieren, der pausenlos das Basketballtraining schwänzt, seine Schmuddelheftchen mit zur Schule schleppt und an nichts anderes denken kann als seine Freunde bei einem offiziellen Spiel fertig zu machen! Besonders bei Kagamin benimmst du dich wie ein kleines Kind und er ist auch nicht viel besser! Ständig streitet ihr euch und aus allem macht ihr einen Wettkampf, selbst aus den alltäglichsten Situationen. Das ist nicht nur unreif, sondern auch unheimlich peinlich, besonders für Tetsu-kun und mich! Außerdem könnt ihr euch beide selbst nicht eingestehen, dass ihr euch eigentlich mögt und respektiert und dass ihr mittlerweile richtig gute Freunde seid und wenn du mit Ri-chan dasselbe blöde Theater abziehst nur um lässig und cool zu wirken, machst du bei ihr bestimmt überhaupt keinen guten Eindruck. Sie ist Model und ziemlich hübsch und intelligent, freundlich und witzig. Du bist bestimmt nicht der einzige, der sie toll findet, also solltest du dir vielleicht etwas Mühe geben, sonst läuft sie irgendwann mit einem anderen Kerl im Arm an dir vorbei und dann guckst du blöd aus der Wäsche!"
„Hey Leute, wo bleibt ihr denn? Es klingelt gleich, wir kommen noch zu spät!", ruft Tally ihren beiden Klassenkameraden zu und Satsuki winkt ihr als Antwort, dass sie sofort bei ihr sein werden. Dann dreht sie eingeschnappt den Kopf von ihrem Kindheitsfreund weg. „Hmpf!", macht sie demonstrativ und stolziert dann zur Weißhaarigen hinüber und lässt den sprachlosen, wie vom Donner gerührten Daiki einfach stehen, der sich nun wirklich nicht daran erinnern kann jemals so eine heftige Ansage von der Rosahaarigen bekommen zu haben, nicht mal als Managerin seiner Mannschaft. Unsensibler Grobian? Ohne Manieren? Kleines Kind? Unreif? Peinlich?! Die Worte klingen noch eine ganze Weile in seinem Kopf nach. So sieht Satsuki ihn?! Wow… Sein Weltbild wurde soeben zerstört… Noch nie zuvor hatte ihm jemand in einem einzigen Atemzug so viele Beleidigungen auf einmal an den Kopf geworfen. Und dann auch noch ein Mädchen… Mädchen hatten ihn bisher immer cool gefunden und ihn angehimmelt. Das findet er zwar nervig, aber das ist eindeutig besser, als so dermaßen angeblafft zu werden. Er wusste vorher gar nicht, dass Satsuki das überhaupt kann. Irgendwie verdient das ja auch schon wieder Respekt…
Kopfschüttelnd und mit einem Grinsen schließt Daiki sich den beiden Mädchen wieder an und betritt mit ihnen zusammen den Klassenraum. Tally hatte recht gehabt, kurz danach ertönt schon die Schulglocke und die drei Klassenkameraden setzen sich auf ihre Plätze.
