Kapitel 10
Es ist Wochenende und Tally und ihre Mutter Nadeshiko begleiten ihren Vater Mike zu einem sehr wichtigen Geschäftsessen im Hause seines besten Klienten in ganz Japan und vielleicht sogar überhaupt. Mr. Akashi ist reich, sehr konservativ und streng, besteht zu jeder Zeit auf perfekte Ergebnisse und hat die gesamte Familie Bennett auf sein Anwesen zum Lunch beordert. Absagen unmöglich. Die junge Weißhaarige ist furchtbar nervös. Ihre eigene Familie ist auch nicht gerade arm, aber die ganze formelle und übermäßig höfliche Etikette als befände man sich an einem Adelshof liegen ihr so gar nicht. Das ist eher das Spezialgebiet ihrer Mutter. Und diese unbequemen Klamotten! Das alles nervt sie tierisch, aber am meisten stört sie die Tatsache, dass ihre Eltern noch gar nicht lange hier in Japan sind und schon jetzt von so einem exzentrischen Millionär herumkommandiert werden nur um das Geschäft am Laufen zu halten.
Die junge Weißhaarige trägt ein knielanges, hellrosa Kleid mit weißer Spitze unten am Saum, im Halsausschnitt und an den kurzen Ärmeln, dazu ein passendes Seidentuch, das man sich um die Schultern oder um den Hals legen kann und weiße Pumps mit halbhohen Absätzen. Ihre Mutter hat ihre langen, silberweißen Haare zu einer lockeren Hochsteckfrisur aufgesteckt und die Strähnen, die ihr Gesicht einrahmen mit einem Lockenstab eingedreht. Außerdem haben sie sich für ein natürliches, unauffälliges Make-up und dezenten Silberschmuck entschieden. Sie fühlt sich so vollkommen fehl am Platz, dass es fast körperlich schmerzt, also stellt sie sich einfach vor, dass sie zu einem Fotoshooting fährt und diesen Fummel vor der Kamera tragen soll.
Nadeshiko hat ihr langes, schwarzes Haar zu einem etwas strengeren Knoten nach oben gebunden und trägt dazu eine Kombination aus schwarzem Faltenrock und Blazer mit einer weißen Bluse und schwarzen Absatzschuhen darunter, die perfekt zum klassischen, schwarz-weißen Anzug mit Fliege passt, die ihr Mann Mike trägt und ständig darüber jammert, wie eng der Hemdkragen am Hals sitzt. Auch er ist normalerweise eher der locker leichte Typ. Ehemaliger Basketballer eben… Die einzige, die daran Freude hat sich für so ein Event herauszuputzen ist und bleibt Tallys Mutter, das japanische Topmodel. Die Weißhaarige seufzt und achtet darauf ihre Körperhaltung so gerade und würdevoll wie möglich zu halten während sie aus dem Auto ihres Vaters aussteigt und versucht das gigantische Herrenhaus nicht voll kindlicher Bewunderung anzustarren. Das ist ja schon keine Villa mehr, das gleicht beinahe einem Palast!
Von einem freundlichen Hausangestellten wird die gesamte Familie in Empfang genommen und Tally bereitet sich schon mental darauf vor gleich wieder auf eine mächtige Präsenz der Generation der Wunder zu stoßen, denn sie hat den Namen des Sohnes von Mr. Akashi, Seijuro Akashi sofort erkannt, als ihr Vater ihn erwähnte. Satsuki hat ihr erzählt, dass der Captain der Wundergeneration so heißt und langsam fragt sie sich tatsächlich, ob sie irgendwie dazu vorherbestimmt ist, jeden einzelnen von diesen Genies zu treffen. Seijuro ist der letzte aus dem Team dem sie bisher noch nicht begegnet ist, aber das wird sich wohl gleich ändern.
Seine Aura trifft sie wie immer mit voller Wucht, aber irgendwas ist dieses Mal anders. Es fühlt sich an, wie zwei unterschiedliche Präsenzen in einem, was sie im ersten Moment schrecklich verwirrt. Wie kann ein einzelner Mensch zwei getrennte Auren besitzen? Und alle beide so gewaltig! Diese Wundertypen sind wirklich eine ganz eigene Klasse Menschen für sich und Tally wird einmal mehr bewusst, dass sie da einfach nicht mithalten kann.
Tallys Familie wird in den pompösen Speisesaal geführt, indem ein adretter Mann im Alter von ihrem Vater ebenfalls in einem klassischen Anzug und ein rothaariger Teenager mit gleichfarbigen Augen in ihrem eigenen Alter in einem leicht cremefarbenen Anzug mit fliederfarbenem Hemd und einer etwas dunkleren Krawatte sitzen und bei ihrer Ankunft höflich aufstehen, um sie zu begrüßen. Wobei rothaarig nicht ganz richtig ist, wie das junge Mädchen interessiert feststellt. Es ist kein Rot wie bei Taiga, sondern eher ein grelles Hellrot oder ein dunkles Pink. Wie nennt man diese Farbe? Magenta? Oder Fuchsia vielleicht? Und seine Ausstrahlung ist wirklich noch außergewöhnlicher als die seiner früheren Teamkameraden, nicht zu vergessen, dass er wirklich ziemlich gut aussieht. Wie ein Prinz. Irgendwie passt das ja auch zum gesamten Umfeld.
„Mr. Bennett, Mrs. Bennett, junges Fräulein. Vielen Dank, dass sie meiner Einladung heute gefolgt sind. Mein Name ist Akashi. Ich möchte ihnen meinen Sohn vorstellen, Seijuro.", sagt Mr. Akashi und deutet eine Verbeugung an, während sein Sohn sie etwas tiefer ausführt. „Es freut mich sehr sie kennenzulernen." Selbst seine Stimme ist faszinierend und sein Lächeln scheint ehrlich und freundlich zu sein, sodass sich Tally gleich ein wenig entspannt und zurücklächelt.
„Mr. Akashi, wir freuen uns wirklich sehr heute hier sein zu dürfen. Vielen Dank für ihre freundliche Einladung. Das sind meine Frau Nadeshiko und meine Tochter Tally.", antwortet Mike ebenso förmlich und die drei verbeugen sich ebenfalls, bevor sein Geschäftspartner sie höflich auffordert sich zu setzen. Mit einer Handbewegung fordert Mr. Akashi seinen Bediensteten dazu auf den ersten Gang bringen zu lassen.
Während dem gesamten Essen ist Tally wahnsinnig angespannt und redet immer nur dann, wenn sie angesprochen wird um absolut sicherzugehen, dass sie nicht unhöflich ist oder Mr. Akashi versehentlich beleidigt. Gelegentlich betreibt sie etwas belanglose Konversation mit Seijuro über schulische Themen und bemüht sich dabei freundlich zu lächeln, aber als schließlich der letzte Gang irgendwann vorbei ist, ist die junge Weißhaarige sehr erleichtert darüber. Das Essen war wirklich spitze, aber die Atmosphäre lässt sie glauben schon den ganzen Tag so gut wie überhaupt nicht zu atmen.
„Seijuro, wie wäre es, wenn du dem jungen Fräulein unsere Gartenanlage zeigen würdest?", schlägt der Geschäftsmann seinem Sohn vor und eigentlich wird relativ klar, dass es sich dabei nicht wirklich um eine Frage, sondern vielmehr um einen nett getarnten Befehl handelt, weshalb sich beide Teenager auch direkt von ihren Plätzen erheben und Tally den ihr angebotenen Arm annimmt, um sich einzuhaken. „Natürlich, Vater. Bitte entschuldigen sie uns.", antwortet Seijuro ruhig und führt das gleichaltrige Mädchen aus dem Salon.
Sobald die beiden Teenager zusammen hinaus ins Freie treten und Tally die sogenannte „Gartenanlage" sieht, die tatsächlich aussieht wie ein gesamter Schlossgarten oder ein eigener Park, atmet sie tief durch und lässt etwas die verkrampften Schultern fallen. Ihr Begleiter schenkt ihr eines seiner bezaubernden Lächeln. „Du musst nicht so furchtbar nervös sein.", versucht er sie aufzumuntern und Tally seufzt. „Ich weiß. Entschuldige bitte, es ist nur… Dieses Essen ist für meinen Vater und sein Geschäft sehr wichtig, aber unser normaler Umgang miteinander ist für gewöhnlich eher locker und familiär. Meine Eltern sind nicht besonders streng bei meiner Erziehung und ich habe auch keinen Unterricht in Etikette oder Ähnliches bekommen, also hatte ich die ganze Zeit Angst davor irgendwie unhöflich zu sein und deinen Vater ausversehen zu verärgern oder zu beleidigen. Das wäre wirklich peinlich geworden, ich bin ganz froh, dass es vorbei ist und sich jetzt die Erwachsenen mit ihren Geschäften herumplagen."
Zu ihrer Überraschung fängt Seijuro an zu lachen und nickt verstehend. „Geht mir auch so. Ich bin es gewohnt, aber trotzdem wünschte ich mir jedes Mal ich wäre ganz woanders. Es ist so erdrückend." Tally wirft ihm einen leicht mitleidigen Blick zu. Wie muss es für diesen armen Jungen bloß sein in diesem goldenen Käfig wohnen zu müssen? „Ja, ich hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können.", gesteht sie, während ihr Blick über den wunderschön angelegten Garten gleitet. „Da kommt so ein atemberaubender Schlossgarten fast wie gerufen." Ihr Begleiter führt sie zu einer weißen Bank in der Sonne von deren Standort aus man den Großteil der Anlage überblicken kann und Tallys verschiedenfarbige Augen fangen an zu leuchten. Die bunte Blumenpracht gepaart mit den ordentlich gestutzten Hecken und Sträuchern und den sauberen, weißen Kieswegen, die in der Mitte zu einem Platz mit einem großen Springbrunnen führen, ist wirklich fast zu schön um wahr zu sein. Es sieht aus wie ein Set in dem sie als Model vor der Kamera posieren würde. „Es freut mich, dass es dir gefällt.", antwortet Seijuro nachdem sie sich gesetzt haben.
Eine Weile plaudern die beiden ganz unbefangen über Alltägliches miteinander und betreiben Smalltalk während sie die frische Luft, die Sonne und die lockere Gesellschaft des jeweils anderen genießen und während Tally immer noch die Schönheit dieses Anwesens bewundert. Sie lassen sich sogar dazu hinreißen, Seijuros Jackett und Tallys Seidentuch abzulegen und zusammen über die Lehne der Bank zu hängen. Der Basketball Captain schiebt die langen Ärmel seines fliederfarbenen Hemdes etwas nach oben und lockert sogar die Krawatte um seinen Hals, dann seufzt er als wäre ihm eine tonnenschwere Last vom Herzen gefallen und Tally kichert ein wenig. Er scheint eine ganz andere Persönlichkeit zu besitzen wie sein strenger, konservativer Vater und auf eine gewisse Art und Weise freut sie das, obwohl sie nicht genau weiß warum. Beziehungsweise… Persönlichkeiten?! Sind es nun zwei oder bildet sie sich das bloß ein? Auf den ersten Blick wirkt er nämlich ganz normal, wenn man von seiner gewaltigen Aura, die in zwei Teile gespalten zu sein scheint mal absieht. Sollte es sie mehr verstören jemanden kennenzulernen, der eventuell eine multiple Persönlichkeitsstörung oder etwas Ähnliches hat? Immerhin wäre das ein ernsthaftes psychologisches Krankheitsbild und sie kennt schließlich die Geschichten von Satsuki und mittlerweile auch kleine Teile von Taiga, Tetsuya, Daiki, Ryota und Shintaro.
Sie beschließt, dass sie sich darum auch später noch Sorgen machen kann und fängt an dem Captain der Generation der Wunder ihre eigene kleine Geschichte zu erzählen. Bei Amerika, Taiga und Tatsuya und ihrer Kindheit angefangen, über ihren ersten Umzug, die Verletzungen ihres Vaters und seine geschäftliche Umorientierung bis hin zu ihrem erneuten Umzug nach Japan und ihre Aufeinandertreffen mit seinen ehemaligen Teamkameraden und ihren beiden Sandkastenfreunden. Seijuro ist mehr als erstaunt als er ihren Erzählungen lauscht und hin und wieder auch ein paar Dinge von früher aus seiner Mittelschulzeit mit den Jungs berichtet.
„Also gehst du jetzt mit Satsuki und Daiki in eine Klasse und unterstützt sie bei ihrem Training und du modelst mit Ryota. Zumindest besteht die Chance, dass du öfter auf ihn treffen wirst. Und Kagami ist ein guter Freund von dir, das ist überraschend. Hast du ihn, Tetsuya oder Shintaro nach diesem Trainingsspiel noch einmal wiedergesehen?", fragt Seijuro mit ehrlicher Neugier in der Stimme, aber Tally schüttelt den Kopf. „Nein, leider hab ich weder Tai noch Tatsu bisher ein zweites Mal gesehen. Bei Tatsu wird es so wie es aussieht auch etwas schwieriger werden, weil seine und Atsu's Schule etwas weiter entfernt liegt, aber ich plane Tai jetzt öfter zu besuchen. Mit Alex, unserer früheren Trainerin habe ich auch schon telefoniert und mich auch nach dem Gesundheitszustand von Teppei Kiyoshi erkundigt, der für seine Knie OP mit ihr nach Amerika gereist ist. Sieht so aus als würde seine Genesung ziemlich schnell voranschreiten."
Seijuro atmet hörbar aus und nickt. „Das freut mich zu hören. Als einer der ungekrönten Könige wäre es eine Schande wenn er endgültig mit dem Basketball aufhören müsste. Trotzdem muss ich sagen, dass mich deine Geschichte ehrlich fasziniert. Du bist uns allen in so kurzer Zeit begegnet, obwohl du erst nach Japan umgezogen bist und du hast sogar aus deiner Kindheit noch alte Verbindungen, die jetzt wieder aufleben können. Kagami war das Beste was uns hätte passieren können und es sieht nun für mich fast so aus, als ob du ebenfalls auf irgendeine Art und Weise zu uns allen dazugehörst. Ich stimme Shintaro zu, ich glaube auch nicht an einen Zufall. Das wäre es vielleicht gewesen, wenn du nur einem von uns begegnet wärst, aber nicht so."
Die junge Weißhaarige wird leicht rot um die Nase. „Ich wüsste nicht, wie ich zu euch gehören sollte. Meine Fähigkeiten sind nicht ansatzweise vergleichbar.", gibt sie zu, aber Seijuro neigt nachdenklich seinen Kopf auf die Seite. „Das waren Tetsuyas auch nie und sind es auch heute noch nicht und trotzdem spielt er eine ganz entscheidende Rolle. Wenn nicht sogar die entscheidendste. Immerhin war er es, der Kagami gefunden und mit uns allen in Kontakt gebracht hat. Die beiden haben uns wirklich gerettet, anders kann man es nicht formulieren. Nur frage ich mich, wie du dann noch in diese Gleichung hineinpasst. Ehrlichgesagt hatte ich damit gerechnet, dass es für uns jetzt ganz normal weitergehen könnte, deshalb bringt es mich leicht aus dem Konzept, dass du nun auch noch in diese ganze Sache verwickelt wurdest seit du hier angekommen bist. Noch eine ganz neue Figur mit ins Spiel zu bringen erscheint mir zum jetzigen Zeitpunkt einfach vollkommen unangebracht zu sein. Es gibt ja nichts mehr für dich zu tun."
„Vielleicht interpretierst du auch ein bisschen zu viel hinein. Ich muss doch gar nichts für euch tun, nur um euch kennenzulernen. Es kann doch gut sein, dass es ganz normal weiter geht. Dass ich hier auftauche muss doch nicht zwangsläufig bedeuten, dass meine Existenz wieder alles durcheinanderbringt. Ich kann doch einfach eine Freundin, Kollegin und Klassenkameradin sein und Daiki und Sacchan bei ihrem Basketballtraining helfen. Dadurch verändert sich doch überhaupt nichts.", wiederspricht sie sanft, um ihm etwas die Sorge nehmen zu können, die sich allmählich auf seinen hübschen Gesichtszügen abzeichnet.
„Jede Begegnung bringt irgendetwas in Gang und verändert etwas. Nichts passiert ohne Hintergrund, nicht einmal die kleinsten Dinge. Schicksale werden miteinander verknüpft, Verbindungen entstehen, die wir mit bloßem Auge nicht sehen können. Es ist nur so ein vages Gefühl, aber ich kann spüren, dass irgendetwas geschieht. Das muss überhaupt nichts Schlechtes bedeuten, im Gegenteil, ich hoffe, dass wieder etwas Wunderbares in Zukunft auf uns alle wartet. Nur leider… kann man niemals hundertprozentig sicher sein…" Seijuros schöne Augen starren gedankenverloren in den blauen Himmel hinauf und für einen kleinen Augenblick wirkt er so viel älter und reifer als der Teenager, der er ist.
Plötzlich stellen sich Tallys Nackenhaare auf und sie schaudert ein wenig, als könnte sie nachempfinden, was der Basketball Captain in seinem Inneren spüren, aber nicht richtig deuten kann. „Verbindungen, huh…"
