Kapitel 2: Abendessen
Ich war überrumpelt worden, stellte ich frustriert fest und funkelte böse meinen Kleiderschrank an, vor dem ich frisch gebadet nur in Unterwäsche stand und überlegte, was ich anziehen sollte. Dieser dämliche arrogante kleine Attentäter! Wir sehen uns da um sechs? Verdammt! Eigentlich sollte ich einfach aus Prinzip nicht hingehen, aber ich war ziemlich sicher, dass sie dann hier wieder aufkreuzen würden, um mich abzuholen.
Schwester Rachel hatte sich nochmal bei mir erkundigt, wie es gelaufen war und ich hatte mies gelaunt und einsilbig geantwortet, bis die Nonne sich schließlich einen riesen Keks gefreut hatte, dass ich endlich mal mit ein paar jungen Leuten ausgehen würde. Sie war euphorischer gewesen, als ich. Ausgerechnet die beiden Zoldycks! Ich stöhnte aufgebracht und riss die beiden Türen meines Kleiderschrankes auf.
Meine Garderobe bestand hauptsächlich aus weiten Hosen, entweder im Militärstyle oder als Sporthosen aus dickem Stoff. Die waren super bequem und ich war damit aufgewachsen. Sie waren praktisch, hatten mehrere Taschen, in denen ich mein Zeug unterbringen konnte, weil ich Handtaschen hasste und im Training hatte ich noch nie etwas anderes getragen. Da ich oft auch im Fitnessstudio herumhing, brauchte ich nicht viel an Klamotte. Bewegungsfreiheit war eben wichtig, auch beim Nen-Training. Das machte ich natürlich zu Hause, ich hatte einen eigenen kleinen Trainingsraum bekommen, damit ich nicht aus der Übung kam. Außerdem durfte ich als professioneller Hunter jetzt auch Aufträge erledigen und auf Reisen empfahl es sich ebenfalls, nur das Nötigste bei sich zu tragen. Nicht, dass ich besonders oft unterwegs war.
Auch die Oberteile waren relativ übersichtlich. Lange und kurze Shirts oder Kapuzenpullis in hauptsächlich dunklen Tönen. Olivgrün, Dunkelbraun, Schwarz. Manchmal auch Dunkelblau, wenn ich gut drauf war. Ich seufzte schon wieder. Warum machte ich mir überhaupt Gedanken darüber, wie ich mich anzog? War ja nicht so, als würde ich die beiden heiraten wollen. Es war bloß ein Abendessen. In einem Nudelsuppenrestaurant mit ein paar Gleichaltrigen. Zumindest fast. Killua war älter, Alluka jünger als ich, aber nicht viel.
Ich sah mir den Bereich meines Schrankes an, in den ich Sachen verbannte, die ich nie trug. Geschenke von den Schwestern, meistens. Sie hatten es mittlerweile aufgegeben, mich in Kleider oder Röcke stecken zu wollen.
Wenigstens eine Jeans vielleicht? Die waren unauffällig aber trotzdem gesellschaftsfähig. Ich entschied mich für ein schwarzes Paar Jeans und ein dunkles weinrotes Shirt ohne Ärmel, dafür mit Kapuze. Darunter meine schwarzen Boots und die Haare gekämmt und zum Pferdeschwanz hochgebunden. Fertig.
Schon als ich mich möglichst langsam und gelangweilt dem ausgemachten Treffpunkt näherte, konnte ich zwei Gestalten davor erkennen. Eine davon winkte bereits begeistert in meine Richtung und ich rollte mit den Augen. Dieses Mädchen hatte eindeutig zu viel Motivation! Einfach aus Trotz ließ ich meine Hände in den Taschen stecken und betrachtete erstmal die Fassade. Das Ding sah von außen wirklich wie ein kleiner Tempel aus, wenn man von der gläsernen Front mal absah, durch die man die ganzen essenden Menschen beobachten konnte. Würde sich wohl anfühlen, wie in einem Schaufenster zu sitzen. Ich schauderte.
„Hallo Gwen" Alluka lächelte und ich überlegte mir, dass dieses Strahlen wohl ihr normaler Gesichtsausdruck war, sofern sie mit sich und der Welt zufrieden war. „Hey", antwortete ich und musterte weiterhin abwesend die Leute, die schon drin saßen, bevor ich auch Killua kurz zunickte und mich von seiner Schwester an die Hand nehmen ließ.
„Lasst uns reingehen, ich hab wirklich Hunger!", verkündete sie und zerrte uns beide hinter sich her.
Wir quetschten uns zu dritt an einen Tisch, der in einer Ecke von gepolsterten Sitzbänken umschlossen wurde. Alluka hatte wieder davon angefangen, mir alle möglichen Erlebnisse von ihrer Reise mit Killua zu berichten. Was sie gesehen und was sie so angestellt hatten, wen sie kennengelernt hatten und wie toll sie das Fliegen in einem Luftschiff fand, obwohl man da oben so gut wie nichts zu tun hatte und sich ständig Beschäftigung suchen musste. Während der Weißhaarige ab und zu Dinge ergänzte, hielt ich den Mund, lächelte manchmal oder nickte einfach als Zeichen, dass ich noch zuhörte.
Als endlich unsere drei Nudelsuppen kamen, funkelten die Augen der Braunhaarigen fröhlich und sie begann damit sich mit leisen zufriedenen Lauten die Nudeln in den Mund zu stecken. Die beiden hatten in einem Tempo ihr Abendessen quasi inhaliert, dass ich nur staunen konnte und immer noch mit der Hälfte von meiner eigenen Suppe zu tun hatte.
„Sag mal Gwen, was machst du eigentlich so, wenn du in einer Kirche wohnst?", fragte Alluka neugierig und putzte sich den Mund an einer roten Serviette ab.
Ich zuckte mit den Schultern und schenkte ihr einen Blick, bevor ich mich wieder der Nudelsuppe widmete. „Nicht besonders viel", antwortete ich vage. „Ich trainiere oft oder helfe den Schwestern bei ihren Arbeiten für die Gemeinde. Ab und zu bin ich auch mal unterwegs, aber eigentlich komme ich nicht oft aus dieser Stadt raus. Dafür kenne ich mich hier gut aus. Ich ärgere gerne mal ein paar Touristen, wenn sie bei uns die Führung mitmachen. Nichts Besonderes also"
„Du trainierst?", fragte Alluka wieder und durchbohrte mich beinahe mit ihren blauen Augen.
„Fitnessstudio", gab ich zwischen zwei Bissen zurück.
„Ah, das macht mein Bruder auch oft, obwohl wir unterwegs sind!"
„So bleibe ich in Form", erklärte Killua gelassen und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. „Und wenn du unterwegs bist, wo treibst du dich dann rum?"
Ich schob meine leere Suppenschüssel von mir und ließ die Stäbchen hineinfallen. „Jobsuche, meistens. Ich reise nur, wenn ich einen Auftrag annehme. Da wir hier in einer größeren Stadt sind, gibt es genug in der Nähe, ich war noch nie wirklich weit weg"
„Auftrag?", wunderte sich Killuas Schwester, bevor sie einen kleinen Geistesblitz hatte. „Oh, du bist auch Hunter"
„Mehr oder weniger. Erst seit einem Jahr, aber ich war die Einzige in meinem Jahrgang, die bestanden hat, also schätze ich mal, dass die Prüfung wohl schwierig war" Die Hunterprüfung hatte ich mit dreizehn gemacht, also ein Jahr nachdem Killua seine wiederholt und bestanden hatte. Und seit dem recherchierte ich intensiver über Ging und Gon. Zumindest bis vor einer Woche.
„Dann fandst du sie nicht schwer? Bist du so stark?" Mir wurde unwohl dabei, wie Alluka bei unserer Unterhaltung immer aufgeregter wurde. Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete.
„Naja, ich schätze mal, dass die anderen einfach eher durchschnittlich waren. Man sagt ja, dass nicht jedes Jahr wirklich talentierte Leute bei der Prüfung dabei sind", versuchte ich es möglichst diplomatisch auszudrücken. In Wahrheit waren die meisten anderen dort richtige Waschlappen gewesen und ich war irgendwie nicht richtig zufrieden gewesen, als ich meine Lizenz bekommen hatte. Eher enttäuscht, dass keine echte Herausforderung auf mich gewartet hatte.
Allukas Augen funkelten trotzdem verdächtig. „Wow, cool!"
In Gedanken versunken betrachtete ich die beiden Geschwister. Es war wirklich ein Wunder, dass aus der kleinen Braunhaarigen so ein lebensfroher Mensch geworden war. Von ihrer Familie weggesperrt und nie akzeptiert und von den Bediensteten wahrscheinlich sogar gefürchtet war sie von klein auf sicher sehr einsam und traurig gewesen. Ob sie verstanden hatte, warum sie isoliert wurde? An irgendeinem Punkt ihres Lebens vielleicht. Illumi, der älteste der Geschwister hatte sie sogar töten wollen. Trotzdem saß sie hier, dieses begeisterte Lachen in ihrem Gesicht, redete und redete und sah so aus, als wäre jeder Tag der schönste in ihrem Leben. Sie schien weder nachtragend zu sein, noch ängstlich oder depressiv oder sonst wie von schlechten Gedanken verfolgt zu werden. Sie wirkte ganz normal. Fröhlich und liebenswürdig und voller Liebe und Zuneigung für Killua, der diese offensichtlich erwiderte. Dabei hatte er ihr irgendwie das Leben gerettet und ihr ihre Freiheit geschenkt. Es konnte genauso ein Fluch, wie ein großer Segen sein, Geschwister oder überhaupt eine Familie zu haben. Aber eines wusste ich: Dieses Mädchen war stark und hatte ein gutes Herz, ganz egal, was da noch in ihr drinnen war.
„Gwen?"
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. „Hm?"
„Bist du sehr einsam?" Es war das erste Mal, dass Alluka mich ernst ansah und Killua warf ihr einen überraschten Seitenblick zu.
„Huh?" Einfach nicht dazu in der Lage, meine eigene Überraschung zu verbergen, starrte ich die beiden an, als hätten sie den Verstand verloren.
„Du bist doch das einzige Waisenkind in der Kirche oder? Fühlst du dich da nicht alleine?"
Ich nahm schnell einen Schluck von meinem Eistee, damit ich aus meiner Schockstarre herauskam. „Es war manchmal ziemlich öde", gab ich zu. „Aber die Schwestern haben sich immer ziemlich um mich bemüht. Es ist keine richtige Familie, aber sie sind freundlich zu mir. Naja aber stimmt schon, dass ich meistens von Erwachsenen umgeben bin"
„Kannst du uns dann nicht ein bisschen rumführen?" Auf meinem Gesicht muss sich ein riesiges Fragezeichen abgebildet haben. „Na du lebst hier und kennst dich gut aus", fügte Alluka hinzu. Ich hätte schreien mögen. Mir fiel einfach keine geeignete Ausrede ein, um abzusagen. Ich seufzte innerlich. Ich wusste genau, auf was sie hinauswollte. Sie versuchte sich mit mir anzufreunden, weil sie Mitleid mit mir hatte und weil ich nett zu den beiden gewesen war.
„Klar", antwortete ich leicht verspätet und hoffte, dass mir meine Verzweiflung nicht anzumerken war. Wieso ausgerechnet ich?
Als wir uns endlich auf den Heimweg machten, bezahlte Killua trotz meines Protestes die gesamte Rechnung, bevor wir hinaus auf die Straße traten und ich einen tiefen Atemzug nahm.
„Wo seid ihr denn untergebracht?", fragte ich beiläufig als wir die Straße hinunter liefen. Gerade sprangen die Straßenlaternen an. Es dämmerte bereits, war aber noch nicht richtig dunkel. Der Wind hatte etwas aufgefrischt und zog an meinem Pferdeschwanz, aber es war nicht richtig kalt. Es war eher eine warme Brise. Alluka nannte mir den Namen des Hotels und ich überlegte kurz, wie man am besten dort hinkam.
„Die Nächste rechts rein", rief ich der Braunhaarigen hinterher, die uns voraus lief und neugierig in Ladenfenster hineinlugte oder an den Fassaden der Häuser emporschaute.
„Du bist also Hunter", stellte Killua fest, der sich direkt neben mir hielt, den Blick aber weiter auf seine Schwester heftete. „Komplett?"
Ich grinste und ließ kurz meine Aura aufflackern. „Ja komplett. Ich verstecke sie, damit niemand weiß, dass in der Kirche dauerhaft jemand ist, der Nen nutzen kann" Und vor euch hatte ich sie versteckt, weil ich mich eigentlich vom Acker hatte machen wollen. Aber das konnte ich schlecht zugeben. Es stimmte, ich konzentrierte mich meistens darauf von außen so zu wirken, als wäre ich stinknormal.
Killua nickte verstehend und wir folgten Alluka nach rechts in die Gasse, die ich ausgesucht hatte, als mich plötzlich ein eiskalter Schauer überkam. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Sofort änderte sich meine Körpersprache. Ich spannte mich an und aktivierte alle meine Sinne gleichzeitig. Killua bemerkte es sofort und warf mir einen alarmierten Blick zu, den ich ernst erwiderte. Ich atmete tief ein, schloss die Augen und konzentrierte mich auf jedes Geräusch. Nichts. Doch. Ein ganz leichter Hauch von etwas, das roch wie frisches Blut.
„Was zur Hölle ist das denn für ein Geruch?", zischte ich angeekelt.
„Geruch?" Der Weißhaarige runzelte die Stirn.
So schnell wie das ungute Gefühl gekommen war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Ich stutzte und blieb stehen, immer noch hoch konzentriert. Aber da war nichts mehr. Kein Kribbeln unter der Haut und auch keine leise Ahnung eines bedrohlichen Geruches mehr. Waren wir beobachtet worden und derjenige hatte sich jetzt zurückgezogen?
Ich stieß die Luft aus und entspannte mich wieder. „Wer immer das war, er ist weg"
„Du hast eine gute Nase. Ich habe gar nichts wahrgenommen", stellte Killua fest aber es hörte sich eher so an, als würde er Selbstgespräche führen. Er steckte die Hände in die Taschen und wir setzten uns wieder in Bewegung. Darauf bedacht, etwas näher an Alluka zu bleiben, beschleunigten wir unsere Schritte leicht.
So schnell wie möglich lotste ich die Geschwister bis zu ihrem Hotel und verabschiedete mich dann von den beiden.
„Pass gut auf Alluka auf", murmelte ich leise, als ich an Killua vorbeiging. Mein Gefühl sagte mir immer noch, dass etwas im Busch war. Der Weißhaarige brummte nur zustimmend.
