Kapitel 3: Stadtführung

Am nächsten Tag steckte ich wieder in meinen gewohnten praktisch bequemen Klamotten. Soldatenhosen, schwarzes Shirt, Boots mit fester Sohle. Schon seit ein paar Stunden führte ich die beiden Zoldyck Geschwister durch die Stadt.

Ich zeigte ihnen die üblichen Touristenattraktionen. Wir machten eine Bustour mit, weil eine Stadtrundfahrt so am bequemsten war und man lernte sich zu orientieren. Alluka liebte es, oben auf dem Doppeldecker an der frischen Luft zu sitzen und einen guten Ausblick zu haben. Auch mit dem Wetter hatten wir Glück. Die Sonne schien, aber es war nicht zu heiß und ein angenehmer Wind wehte uns um die Nase.

Wir hatten eine schöne lange Einkaufsmeile in der Stadt, über die ich die beiden führte. Die breite Fußgängerzone war mir tausendmal lieber als jedes moderne Einkaufszentrum. Diese riesigen Gebäude vollgestopft mit Menschenmassen konnte ich nicht ausstehen. Alluka rannte aufgeregt von Schaufenster zu Schaufenster und drückte sich überall die Nase platt, während Killua und ich in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander herliefen, die Hände in den Hosentaschen. Wir redeten nicht viel, aber die immer wieder auftretende Stille war nicht unangenehm. Ich war viel in Gedanken und schweifte immer wieder zum Thema Familie und Geschwister ab. Außerdem schärfte ich zwischendurch immer mal wieder meine Sinne und suchte die Umgebung ab, aber das ungute Gefühl vom Vortag kehrte nicht wieder zurück.

Außer den bekannten Sammelpunkten für Touristen aus aller Welt versorgte ich Gons Freunde auch noch mit ein paar Geheimtipps, die mir spontan einfielen. Zum Beispiel aßen wir in einem kleinen unscheinbaren Restaurant zu Mittag, das allerdings die beste Pizza anbot, die ich kannte und dazu auch noch wahnsinnig preiswert war. Killua ließ sich auch dieses Mal nicht davon abhalten, für mich mit zu bezahlen, also seufzte ich nur, starrte ihn böse an und verließ das Geschäft. Zum Nachtisch zog ich los und besorgte für uns alle Softeis an einem kleinen Stand, der öfter seinen Standort änderte. Der Verkäufer grinste schon breit, als ich kam. Wir kannten uns schon. Ich wusste, dass das Eis hier am besten schmeckte, weil Joe es selbst herstellte. Das Schokoladeneis schmeckte wirklich nach richtig guter Schokolade und weil ich nichts mehr liebte als Schokolade, beschloss ich, für die anderen beiden auch einfach eins mitzunehmen.

„Eiscreme!", freute sich Alluka und nahm mir die riesige Tüte mit der Mütze aus braunem Softeis aus der Hand.

„Boah, das ist echt gut!" Es war das erste Mal, dass der Weißhaarige etwas wie Begeisterung zeigte, deshalb musste ich kichern und seine Schwester fiel mit ein.

„Weißt du, mein Bruder mag Schokolade", flüsterte Alluka mir zu, als Killua mit leuchtenden blauen Augen total auf sein Eis fixiert war. Das brachte mich auf eine Idee.

Wir aßen unser Eis auf dem Weg zur Bahnstation, wo ich die beiden in die nächste ankommende Linie scheuchte.

„Wo fahren wir jetzt hin?", fragte die Braunhaarige neugierig.

Ich grinste. „Wirst du schon sehen"

Nach drei Stationen führte ich die Geschwister wieder nach oben und durch ein paar enge Gassen, die überwiegend leer waren bis zu einem kleinen runden Platz in dessen Mitte ein großer schöner Springbrunnen stand. Aus dem Maul der imposanten Drachenfigur sprudelte klares Wasser in ein sechseckiges Becken. Alluka machte ein Foto.

Um den Platz lagen mehrere kleine Geschäfte. Ein Musikladen war dabei und Räumlichkeiten für irgendwelche Sprachkurse, soweit ich wusste. Aber der Laden, auf den ich zusteuerte war mein absoluter Lieblingsplatz in dieser Stadt. Die Inhaberin war schon so etwas wie eine gute Bekannte geworden. Jedes Mal, wenn ich kam, freute sie sich und unterhielt sich mit mir.

„Lina, ich hab ein paar Freunde mitgebracht. Kannst du den Brunnen anschmeißen?", rief ich laut statt einer Begrüßung, als wir das kleine Geschäft betraten. Von außen sah es unscheinbar aus. Sandsteinfassade mit rot – weißer Markise, ein nur sehr kleines Schaufenster und der Schriftzug blätterte schon von dem Schild über der Tür.

„Gwen, wie schön. Dich hab ich heute gar nicht erwartet und schon gar nicht in Begleitung. Ich gehe den Brunnen holen" Lina, die junge Besitzerin des Ladens mit freundlichen braunen Augen und gleichfarbigen kinnlangen Haaren, verschwand hinter ihrer Theke in einem Lagerraum.

Ich drehte mich zu den Geschwistern um, die mit aufgerissenen Augen die Regale bestaunten. „Willkommen im Schokoladenhimmel", grinste ich und zwinkerte Alluka zu. Die verstand sofort und grinste breit zurück.

„Lina macht die beste Schokolade der Welt. Sie führt eine eigene Marke, aber sie wird auch von anderen Zwischenhändlern beliefert, die alle richtig gute Qualität haben. Hier findet ihr alle Standards, aber auch ziemlich ausgefallene Sachen und Eigenkreationen, die es nur hier gibt. Joe, der das Eis macht kauft manchmal seine Schokolade auch bei Lina, aber nicht immer. Dadurch, dass alles unter strengen Regeln ausgesucht wird, ist es auch leider etwas teurer. Aber ich finde, das ist es allemal wert", erklärte ich gerade, als Lina mit einem goldenen Brunnen zurück kam, der etwa so lang war wie mein Arm und drei verschieden große Schalen hatte. Sie rumorte eine Weile in einer Ecke, bis der Brunnen aufrecht stand und flüssige Schokolade aus seiner Spitze sprudelte und sich nach und nach in die Schalen ergoss.

„Ein Schokobrunnen!", schwärmte Alluka und stürmte zu Lina, um ihn sich anzusehen. „Onii-chan, guck doch mal, da kommt wirklich echte Schokolade raus!"

Aber Killua war selbst mit Starren beschäftigt, deshalb hörte er seiner Schwester gar nicht zu und seine blauen Augen bekamen diesen Glanz, den er nicht verbergen konnte, auch wenn er es versuchte. Eigentlich war er ja ganz süß mit diesen fluffig weißen Haaren und den saphirblauen Augen. Und sein Lächeln war in diesem Moment auch ganz nett. Er war größer als ich, stellte ich überrascht fest. Das war mir bisher nicht aufgefallen. Ich merkte, dass ich ihn anstarrte und riss mich schnell los.

„Lina, das sind Killua und Alluka. Sie machen mit mir eine Stadtführung. Die beiden mögen Schokolade, deswegen dachte ich, müssten sie unbedingt mal deinen Laden sehen", stellte ich die beiden der Ladenbesitzerin vor.

„Das ehrt mich aber. Schön euch beide kennenzulernen. Es ist noch nie vorgekommen, dass Gwen Besuch mitbringt. Bitte seht euch nur in Ruhe um" Lina lächelte warm und freundlich.

„Hast du was zum Probieren da?", fragte ich leise, während Alluka ihren Bruder mit zu der Theke schleifte, in der feine Pralinen und Trüffel lagen. Die blauen Augen der beiden wurden immer größer und größer.

„Natürlich, kleinen Moment" Lina verschwand wieder.

„Soll ich dir mit dem Obst helfen?", rief ich hinterher und ging ihr einfach nach, als keine Antwort kam. Wir schnitten einen Apfel und ein paar Erdbeeren und Lina packte ein paar verschiedene Pralinen und Schokoladenstücker auf einen kleinen Teller.

„Hey Leute, kommt mal rüber", rief ich und spießte ein Stück Erdbeere auf einen Holzspieß. Ich drückte ihn Alluka in die Hand und bedeutete ihr, zu dem Brunnen zu gehen. „Probier das mal, das ist nicht nur lecker, sondern macht auch Spaß"

„Apfel oder Erdbeere?", fragte ich Killua und hielt ihm den Teller hin. Er entschied sich ebenfalls für eine Erdbeere und hielt sie unter einen kleinen Strahl flüssige Schokolade, bevor er sie vorsichtig in seinen Mund beförderte.

„Onii-chan, so einen müssen wir uns auch kaufen", kicherte Alluka und ich hielt im richtigen Moment noch den weiten rosa Ärmel ihres Kleides fest, bevor er in der Schokolade landete.

„Vorsicht!", warnte ich und die Braunhaarige zuckte zurück und fing an zu lachen.

„Gleich gibt es schokolierte Alluka", kommentierte ich trocken und sie lachte noch heftiger. Lina und sogar Killua fielen mit ein.

Genau in diesem Augenblick in einem kleinen Laden auf einem abgelegenen Platz in der Innenstadt durchflutete mich ein warmes Gefühl, als würden Sonnenstrahlen meine Haut streifen. Zusammen mit Leuten, die ich mittlerweile irgendwie mochte Schokolade essend, redend und lachend, fühlte ich mich, als würde in meinem Inneren ein kleines Licht entstehen. Es war ein merkwürdiges, unbekanntes Gefühl, das Einsamkeit, Unsicherheit und Leere vertrieb. Gleichzeitig machte es mich traurig und ich hatte Angst es wieder zu verlieren. Es waren Gons Freunde, nicht meine und in ein paar Tagen würden sie wieder abreisen und mich in meiner Kirche mit meinem bisherigen Alltag wieder alleine lassen.

Als ich spürte, wie mir bei diesen Gedanken die Tränen in die Augen stiegen, wurde ich wütend auf mich selbst. Ich war dämlich genug gewesen, mich auf diesen Mist einzulassen. Ich hätte einfach die Kirche verlassen sollen, als ich die Chance dazu hatte. Jetzt fühlte ich Dinge und war durcheinander und hinterher würde ich mich noch mieser fühlen wie nach meinem Entschluss, keine weiteren Informationen mehr über Ging und Gon einzuholen.

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. „Gwen, geht es dir nicht gut? Du siehst so blass aus" Ich schreckte auf und sah in Linas sorgenvolles Gesicht. Killua und Alluka drehten sich zu mir um und warfen mir fragende Blicke zu.

„Vielleicht zu viel Schokolade", log ich und senkte den Kopf. „Ich brauch Luft!" Und damit stellte ich den Obstteller ab und verließ beinahe fluchtartig das Geschäft. Seufzend ließ ich mich auf dem Rand des Springbrunnens nieder und ließ etwas kaltes Wasser über meine Hände fließen. Ein paarmal atmete ich tief durch, um mich zu beruhigen und die Tränen zu unterdrücken.

„Blöder Mist", fluchte ich leise.

Ich wartete, bis die Zoldyck Geschwister mit ein paar Tüten beladen aus Linas Laden traten und tat so, als wäre alles in bester Ordnung.

„Hey alles okay?", fragte Killua und musterte mich skeptisch.

Meine Miene blieb neutral, meine Hände verschwanden wieder in den Hosentaschen. Ich zuckte mit den Schultern „Passt schon" Natürlich merkte ich, dass ich ihn nicht im Geringsten überzeugt hatte und mich ärgerte, wie er mich ansah, also rollte ich genervt mit den Augen. „Lasst uns zurück fahren", sagte ich deshalb laut genug, dass auch Alluka es hören konnte.

Auf dem gesamten Rückweg schwieg ich mich aus und hörte nur mit halbem Ohr hin, wie Alluka ihren Bruder vollplapperte, wie toll und interessant sie alles gefunden hatte. Die beiden hatten eine Menge Süßigkeiten aus Linas Laden gekauft und sie konnte sich nicht entscheiden, was sie zuerst probieren wollte. Dabei kreisten meine eigenen Gedanken darum, wie ich mein Problem schnell wieder loswurde. Wenn ich mich weiter mit den beiden abgab, bis sie irgendwann abreisten, würde es wohl nur noch schlimmer werden. Andererseits waren wir schon essen gewesen und ich hatte ihnen die Stadt gezeigt. Eigentlich waren wir quitt und keiner hatte bisher erwähnt, dass weitere Treffen geplant wären. Vielleicht hatte ich Glück und das Ganze würde sich von selbst erledigen.

Was dann allerdings passierte, als wir schon beinahe am Hotel angekommen waren, hätte ich nie im Leben erwartet. Ich spürte es, noch bevor sich Alluka zu mir umdrehte. Ihre gesamte Aura veränderte sich. Es war, als würde sie die Farben wechseln. In dem Moment wurde mir klar, was passierte. Was immer in Alluka steckte, es übernahm gerade die Kontrolle.

Ich blieb wie angewurzelt stehen, sodass Killua sich verwundert zu mir umdrehte und glotzte mit offenem Mund ein paar Sekunden lang Allukas Rücken an, bis sie sich zu mir umdrehte. Ich konnte deutlich ihre andere Präsenz spüren, aber sie sah noch wie Alluka aus. Ihr Blick war starr und ein bisschen trüb, aber sie war noch Alluka. Äußerlich.

„Oi, was ist denn lo-…", wollte Killua mich gerade fragen, als seine Schwester ihn unterbrach.

„Gwendolyn!", sagte sie und ihre Stimme kam mir verändert vor. Etwas steifer und der Ton war anders. Und warum benutzte sie plötzlich meinen vollen Namen? Killua erstarrte neben mir. „Huckepack!", sagte sie und streckte beide Hände nach mir aus.

Bitte was?