Kapitel 4: Nanika
Alluka oder wer auch immer sie gerade war stand vor mir, streckte die Hände nach mir aus und war in ihre mysteriöse Aura gehüllt. Sie strahlte eine seltsame Art Traurigkeit aus, die ich nicht richtig fassen konnte und noch etwas anderes Merkwürdiges. Moment. War sie mir gegenüber etwa misstrauisch? Wieso? Andererseits war sie nicht wirklich Alluka und trotzdem war sie nicht böse oder feindselig. Ich konnte nichts Bedrohliches feststellen. Sie stand einfach nur da und bat mich, sie zu tragen, wie ein quengelndes Kind, das nicht mehr alleine laufen wollte.
Killua neben mir war ungewöhnlich bleich geworden und schien nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Wahrscheinlich hing das auch stark von meiner eigenen Reaktion ab, also vermutete ich, dass er wusste, was gerade passierte.
Schließlich stieß ich die Luft aus und entspannte mich. Ich machte ein paar Schritte auf die neue Alluka zu, drehte ihr den Rücken zu und kniete mich vor sie. „Na dann steig auf, wenn ich dich tragen soll" Sie gehorchte ohne ein Wort und klammerte sich an mir fest. Auch ihre Aura entspannte sich ein wenig mehr. Das Misstrauen schwand etwas oder bildete ich mir das ein? Konnte man an einer Aura auch Gefühle ablesen?
Wir waren ein paar Minuten gelaufen, als die Braunhaarige mich wieder ansprach und mir auf eine Schulter klopfte, damit ich sie wahrnahm. „Gwendolyn, schneller!", bat sie in einem spielerischen Tonfall und strampelte mit den Beinen. Erst wollte sie getragen werden, jetzt wollte sie mit mir spielen? Wer war ich, ihre Mom? Und da machte es endlich klick im Oberstübchen. Kein Misstrauen. Eifersucht. Allukas zweite Persönlichkeit war eifersüchtig auf sie. Also quasi eigentlich auf sich selbst, was keinen Sinn machte, aber wen kümmerte das schon? Alluka hatte mich kennengelernt und mit Killua und mir eine schöne Zeit verbracht und viel Spaß gehabt. Die andere Alluka hatte das wohl alles mitbekommen und wollte jetzt ebenfalls beachtet werden.
Sie möchte lieb gehabt werden, schoss es mir durch den Kopf. Na, kommt dir das nicht bekannt vor? Toll. Mein eigenes Gewissen begann schon mich zu verhöhnen. Klappe, innere Stimme!
Ich warf Killua einen kurzen Seitenblick zu, der jetzt alle Tüten tragen musste. „Ich dreh mal ein bisschen auf, du kannst mithalten oder schon mal zum Hotel gehen, wie du willst" Ich wusste ja, dass er wahrscheinlich schneller war als ich wegen seiner Elektrizität.
„Festhalten da oben", sagte ich zu Alluka, sammelte Aura und konzentrierte sie in meinen Füßen. Als ich lossprintete, hinterließ ich kleine Löcher in der Straße. Mit atemberaubender Geschwindigkeit zischte ich durch die Straßen und suchte mir so schnell wie möglich einen Weg über die Dächer, damit ich nicht so viel Aufmerksamkeit auf mich zog. Alluka auf meinem Rücken fing an zu lachen. Sie lachte und strampelte aufgeregt mit den Beinen, die ich festhielt.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ein blauer Blitz an mir vorbei schoss und ich rollte mit den Augen. „Angeber!", rief ich und konzentrierte mich noch etwas stärker. Ohne große Mühe schloss ich wieder zu ihm auf und grinste ihn an, als er mir einen ungläubigen Blick zuwarf. Er grinste zurück.
„Gar nicht übel", gab er zu.
„Danke, gleichfalls", gab ich zurück und kicherte. „Coole neue Frisur, Blitzi"
„Huh?", machte er empört. „Ich hab mich wohl verhört!"
„Rauscht der Wind schon in deinen Ohren?", zog ich ihn weiter auf und schlug ganz plötzlich einen Haken auf ein benachbartes Dach. Ich beschrieb einen Bogen, der uns zum Hotel führen würde. Killua brauchte etwa zwei Sekunden, bis er wieder neben uns auftauchte. „Wo bleibst du so lange?" Der Weißhaarige schnaubte beleidigt, beschleunigte und flog förmlich an uns vorbei in Richtung Hotel.
„Hey, was hältst du von einem Rennen mit deinem Bruder?", rief ich über die Schulter und verrenkte mir etwas den Hals bei dem Versuch, Alluka anzusehen.
„Aye", quietschte sie.
Leider hatte ich keine Zeit mich über die merkwürdige Antwort zu wundern, denn Killua war schon viel zu weit weg. Also machte ich dieses Mal ernst und konzentrierte meine Aura in den Füßen so stark, dass sie anfingen in einem kräftigen Orange zu glühen. Beinahe sah es wie Flammen aus, aber es war bloß konzentrierte Energie. Kräftig stieß ich mich vom nächsten Rand eines Daches ab und innerhalb eines Wimpernschlages hatte ich den Assassinen wieder eingeholt, kam allerdings noch nicht an ihm vorbei. So leicht würde ich seine elektrische Energie in Sachen Geschwindigkeit also nicht schlagen.
Etwa gleichzeitig landeten wir auf dem Dach des Hotels und ich musste so scharf abbremsen, dass ich schwarze Spuren auf dem Beton hinterließ. Ich sah mich um und pfiff leise durch die Zähne. Als hätte ein Auto eine Notbremsung hingelegt. Wenn das mal niemandem auffiel… Alluka oder was auch immer auf meinem Rücken lachte wieder und strampelte. Ich kniete mich hin und ließ sie runter.
Killua, der immer noch blau leuchtete und elektrisierte Haare hatte, schaltete sein Nen wieder aus und auch ich bemerkte mit einem Blick nach unten, dass meine Füße immer noch orange glühten. Ich atmete tief ein und aus und brachte meine Aura wieder unter Kontrolle.
Der Weißhaarige blitzte mich mit seinen schönen Saphiraugen an, in seinem Gesicht das hinterlistige Grinsen einer Katze. „Na das hat doch mal Spaß gemacht", meinte er leichthin. „Ich will Revanche!"
„Hä?" Oh ja, wirklich brillant Gwendolyn. Man wird dich noch für halbwegs intelligent halten, wenn du nicht aufpasst.
„Revanche!", wiederholte Killua und stellte die Tüten ab. „Ein Rennen, bei dem keiner von uns was rumschleppen muss. Kann doch nicht sein, dass du genauso schnell bist, wie ich"
Ich zog die Augenbrauen hoch und grinste frech zurück. „Ich weiß" Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hab mich extra zurückgehalten. Kann ja nicht jeder so n Angeber sein, wie du"
Der Weißhaarige klappte den Mund auf und wieder zu, aber es kamen keine Töne raus und dann fing er plötzlich an zu lachen. „Du bist echt in Ordnung"
Röte schoss mir in die Wangen. „Das sagt ja genau der Richtige", gab ich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hätte schwören können, dass sich in seinem erstaunten Gesicht die gleiche Farbe spiegelte.
„Gwendolyn", ließ sich da Alluka wieder vernehmen und wir drehten uns zu ihr um. „Streichle meinen Kopf!" Sie kam auf mich zu und wie selbstverständlich streckte ich die Arme nach ihr aus. Ich brauchte gar nicht zu antworten, sie ließ sich einfach in meine Arme fallen und ich drückte sie an mich und streichelte ihr über die Haare. Braune weiche seidige Haare. Die waren wirklich hübsch.
„Gwen, warte!", rief Killua noch, aber da spürte ich schon, dass sich wieder etwas veränderte. Die mysteriöse Aura wurde stärker und genauso spürte ich wieder eine gewisse Skepsis mir gegenüber, als hätte ich sie verärgert oder wäre kurz davor etwas falsch zu machen. Aber was war los?
Die Antwort bekam ich, als wir uns voneinander lösten. Allukas Gesicht hatte sich dieses Mal in eine Art Maske verwandelt. Sie war schneeweiß und Augen und Mund sahen wie ausgeschnittene schwarze Löcher aus. Nein, nicht ganz. In ihren Augen konnte ich immer noch Leben erkennen. Sie sah traurig aus. Oder vielmehr bildete ich mir ein spüren zu können, dass sie traurig war.
Statt Abstand zwischen uns zu bringen, was mein Instinkt mir zuschrie oder erschrocken zurück zu zucken, lächelte ich sie an. „Hi", sagte ich zu ihr, als würde ich sie das erste Mal sehen. Naja irgendwie war das ja auch so. An den Anblick würde ich mich erstmal gewöhnen müssen. Gruselig! „Lerne ich dich also auch mal kennen. Ich bin Gwen. Hast du einen eigenen Namen?"
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber ich hatte das Gefühl, sie überrascht zu haben. Positiv. Hoffte ich zumindest. Eine Antwort bekam ich allerdings nicht, bis Killua sich zu uns gesellte.
„Nanika", sagte er und sah mich an. Auch in seiner Miene konnte ich Überraschung lesen, aber auch noch etwas anderes. Dankbarkeit? Das traf es wohl nicht ganz, wofür auch? „Ich nenne sie Nanika" Sein Blick wurde weich und liebevoll und er streichelte ihr ebenfalls über den Kopf.
„Killua, hab dich lieb!", quiekte Nanika und schmiegte sich an ihn.
„Ich dich auch", antwortete er sofort.
Killua, nicht Onii-chan? Nanika schien die Leute generell anders anzusprechen oder eventuell benutzte sie nur volle Namen. Ich konnte fühlen, wie ihre Aura leichter wurde. Sie freute sich. Ein bisschen konnte man das sogar an ihrem Gesicht sehen. Die Mundwinkel waren nach oben verzogen.
„Also ähm. Was jetzt?", fragte ich sehr einfallsreich, nachdem Nanika mich wieder anstarrte.
Killua kratzte sich am Hinterkopf. „Eigentlich darf ich über diese ganze Sache nicht sprechen. Aber nur so viel. Nanika wartet auf einen Wunsch"
„Wunsch", wiederholte Nanika.
„Wieso soll ich mir was wünschen?", fragte ich und kam irgendwie nicht mehr mit.
„Sie hat dich dreimal um etwas gebeten und du hast es gewährt, also erfüllt sie dir einen Wunsch. Das ist ihre Kraft", erklärte Killua und sah dabei aus, als würde er sich extrem unwohl fühlen. Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass da noch viel mehr dahinter steckte, aber er wollte oder durfte es mir nicht verraten. Aber langsam ergab es wenigstens ein bisschen Sinn. So hatte er auch Gon geheilt. Killua hatte es sich von Nanika gewünscht und da sie scheinbar jeden Wunsch erfüllen konnte, hatte sie selbst Gons schwere Verletzungen komplett kurieren können.
Misstrauen, dachte ich. Kein Wunder, das arme Ding! Und deshalb hatte man sie auch eingesperrt. Es war wirklich eine mächtige und gefährliche Macht, die Nanika da hatte, ganz egal, was sich noch alles dahinter verbarg.
Ich spürte, wie mir schon wieder Tränen in die Augen stiegen und schüttelte heftig den Kopf. „Ich will nichts!"
Killua gab einen merkwürdigen Laut von sich und starrte mich an. „Wie meinst du das?"
„Na wie ich es sage, Idiot!", fauchte ich zurück. „Ich weigere mich einfach eine Gegenleistung dafür zu verlangen jemanden zu mögen, das ist total bescheuert!"
Nanikas Aura geriet leicht in Aufruhr. Sie war wohl verwirrt. Ich ging zu ihr und zog sie in eine Umarmung, nur noch um Haaresbreite davon entfernt in Tränen auszubrechen. „So, da hast du es, ich umarme dich auch ohne einen dämlichen Wunsch! Und ich spiele auch so mit dir, wenn du es möchtest. Du brauchst mir dafür überhaupt nichts zu geben. Kein Geld, keinen Wunsch, ich will nicht mal ein Dankeschön von dir hören! Jetzt kapiert?"
„Aye", antwortete Nanika leise und es hörte sich tatsächlich verweint an. Kurz darauf konnte ich fühlen, wie mein Shirt durchnässt wurde. Sie weinte. Oh man, das war echt zu viel für mich! Als die Braunhaarige zu mir aus unserer Umarmung aufblickte, rannen tatsächlich Tränen aus den schwarzen Augen, aber die Mundwinkel waren nach oben verzogen. Sie lachte mich unter Tränen an und dann konnte ich die Wärme spüren, die von ihr ausging. Oder besser gesagt nicht von ihr, sondern von ihrer Aura. Für mich wirkte Nanika, als würde sie strahlen und ich war froh, dass ich das Richtige gesagt hatte. Misstrauen und Eifersucht waren verschwunden. „Gwendolyn, hab dich lieb!"
„Ich hab euch beide auch lieb", schluchzte ich und wischte mir die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich in Allukas stahlblaue Augen. Auch sie weinte und barg das Gesicht wieder an meiner Schulter.
„Danke, Gwen", nuschelte sie in den nassen Stoff.
„Ich hab doch gesagt, das will ich nicht hören!"
„Danke!", wiederholte sie trotzdem und drückte mich fester. Ich drückte zurück.
Killua stand schweigend etwas abseits und beobachtete uns, aber auch in seinen Augen glänzte es mehr als verdächtig. Er presste seine Kiefer aufeinander und sah dadurch sehr verbissen aus und seine Hosentaschen waren ausgebeult, als hätte er die Hände zu Fäusten geballt.
Als wir uns endlich voneinander lösten, waren wir beide in Tränen aufgelöst, aber irgendwie befreit und glücklich. Alluka setzte wieder ihr wunderschönes Lächeln auf, das ihr viel besser stand als die Tränen.
Auf dem Dach gab es einen Zugang zum Treppenhaus des Hotels und wir verabschiedeten uns voneinander. Killua erinnerte mich nochmal daran, dass er ein zweites Rennen wollte.
„Wann immer du willst, Blitzi", sagte ich und erntete dafür einen Todesblick.
In dieser Nacht wurde mir klar, dass ich aus dieser Freundschaftsnummer nicht mehr so leicht rauskommen würde. Es stellte einfach Dinge mit mir an, die überwältigend waren. Alle diese Emotionen waren so neu und trotzdem hatte ich mich nie besser gefühlt. Mir würde es furchtbar dreckig gehen, wenn die beiden abreisten, das wusste ich genau.
Wie kam es dann bloß, dass ich mit einem glücklichen Lächeln und Freudentränen immer noch in den Augenwinkeln selig und ruhig einschlief, ohne mir darüber Sorgen zu machen?
