Kapitel 5: Rennen
Natürlich standen die Geschwister am nächsten Tag mitten in der Kirche, als ich vom Frühstück aus dem Gang kam, der zu den Quartieren der Nonnen und mir führte.
„Gwendolyn, Liebes. Die beiden jungen Herrschaften sind wieder hier", informierte mich Schwester Rachel unnötigerweise.
„Guten Morgen, Gwen!", zwitscherte Alluka und winkte.
„Yo. Bereit zu verlieren?", fragte Killua und verschränkte gelassen seine Arme hinter dem Kopf.
Ich schnaubte. „Hättest du wohl gern"
„Gwendolyn?" Schwester Rachel sah alarmiert aus, aber ich winkte schnell ab.
„Bloß ein Wettrennen", beruhigte ich sie und die Nonne atmete erleichtert durch. Ich verdrehte die Augen. Dachte sie ich würde die beiden umbringen wollen? Lieber Himmel.
„Nun, dann wünsche ich euch viel Spaß", verabschiedete sich meine Lieblingsschwester von uns, als wir die Kirche durch den Haupteingang verließen.
Nach ein paar Minuten hakte sich Alluka bei mir unter und ich warf ihr einen erstaunten Blick zu, den sie mit ihrem üblichen Lächeln beantwortete.
„Wo wollt ihr denn das Rennen machen?"
Ich überlegte. Gute Frage. Mitten am Tag über die Dächer der Stadt wäre wohl zu auffällig. Am Strand entlang? Ebenfalls eine zu hohe Wahrscheinlichkeit auf andere Leute zu treffen. Außerdem war Sand nicht ideal für ein Rennen. Blieb nur der Wald. Wenn wir tief genug vordringen würden, könnten wir Spaziergänger sicher vermeiden.
„Außerhalb der Stadt wäre wohl am besten. Durch den Wald vielleicht. Wir sollten zumindest versuchen andere Menschen zu meiden. Und wir brauchen Platz", überlegte ich laut. Killua nickte zustimmend.
Gesagt, getan. Ich führte die beiden in den Wald und schnupperte. Als ich sicher war, dass niemand in der Nähe war, ließ ich Allukas Arm los und sprang in die nächste Baumkrone, um bis nach oben zu klettern. Der weißhaarige Attentäter folgte mir und sein fluffiger Haarschopf tauchte nur einen Augenblick später neben mir auf. Von oben legten wir die Runde fest, die wir drehen würden.
„Ich würde sagen Start und Ziel ist Alluka. Sie kann auch den Schiedsrichter machen. Vorausgesetzt sie kann erkennen, wer schneller ist. Wenn das so knapp wird, wie gestern können wir das vermutlich vergessen"
Killua zuckte mit den Schultern. „Keine Sorge, so nah werde ich dich gar nicht erst kommen lassen"
Arroganter Angeber, dachte ich. „Werden wir ja sehen", forderte ich ihn heraus und wir starrten uns kampfeslustig an, bevor wir uns wieder an den Abstieg machten.
Alluka zog mit ihrer Stiefelspitze eine gerade Linie vor uns in den Waldboden und wir setzten unsere Füße in Position. Killua fing in derselben Sekunde an blau zu leuchten. Funken flogen und ich starrte ihn aus großen Augen an. Er sah wirklich gut aus! Gefährlich und außerdem ziemlich cool. Ich konnte seine Stärke spüren, seinen Kampfgeist und seine Entschlossenheit und das gab mir nur einen minimalen Ausblick darauf, wie er in einem echten Kampf reagieren würde. Ich musste zugeben, ich war beeindruckt und fasziniert von ihm. Er warf mir ein selbstsicheres Grinsen zu, als wüsste er ganz genau, was ich dachte. Ich lief rot an und sah weg.
Stattdessen ließ ich meine eigene Aura aufflammen. Gut, vielleicht war ich von Angeberei auch nicht ganz frei. Aber ich wollte Killua auf jeden Fall zeigen, dass ich es ihm nicht einfach machen würde. Eigentlich rechnete ich ja mit einer Niederlage, wollte mich aber trotzdem nicht kampflos geschlagen geben. Und ich war neugierig, wie gut ich würde mithalten können, wenn er aufs Ganze ging. Tief durchatmend konzentrierte ich meine Energie wieder in den Füßen, bis sie anfingen zu glühen und kleine Spuren im Waldboden hinterließen.
Der Weißhaarige starrte auf meine Füße und sein Gesichtsausdruck wurde seltsam nachdenklich, während Alluka uns beide bewundernd musterte und sich an die Seite begab. „Auf die Plätze…", rief sie aufgeregt und hob eine Hand. Killua und ich spannten uns an. „Fertig? Los!" Die Braunhaarige ließ ihre Hand mit einer schnellen Geste wieder sinken und ich legte einen Blitzstart hin, dicht gefolgt von Killua, der mich gleich am Anfang wieder überholte und mir einen schnellen Blick zuwarf.
Ich merkte, wie er versuchte, den Abstand auszubauen, weil er mir nur eine knappe Nasenlänge voraus war und ich beinahe neben ihm lief, aber genauso verbissen achtete ich darauf, dass er mich nicht abschütteln konnte.
Kopf an Kopf preschten wir durch den Wald, allerdings wusste ich, dass das noch nicht alles war und ich sollte rechtbehalten. Etwa auf der Hälfte der Strecke hörte ich wie er murmelte „Kanmuru" seine Aura flackerte auf, sein Leuchten wurde greller und er zischte in atemberaubender Geschwindigkeit vorwärts.
Verärgert knirschte ich mit den Zähnen. Ich hatte zwar auch noch nicht mein volles Potential ausgeschöpft, aber ich hatte eigentlich bis zum Endspurt warten wollen, um meine komplette Energie noch einmal bündeln zu können. Stattdessen schloss ich die Augen, konzentrierte mich noch stärker und ließ das orangene Leuchten um meine Füße bis zu meinen Knien hinaufwandern.
Ich konnte meine eigene Kraft und Energie durch mich hindurchfluten spüren und jagte Killua hinterher. Der Wind peitschte mir ins Gesicht und Stücke aus dem weichen Waldboden flogen bei jedem meiner Schritte auf.
Viel zu schnell kam Alluka nach der nächsten Biegung schon wieder in Sicht. Langsam wurde es schon ein bisschen anstrengend. Ich weitete meine Aura erneut aus und ließ sie meine kompletten Beine umhüllen. Als ich wieder direkt neben dem Attentäter auftauchte, warf er mir einen so ungläubigen Blick zu, dass ich einfach nicht anders konnte, als triumphierend zu grinsen.
Auf den letzten Metern beschleunigten wir beide nochmal, die Luft um uns herum begann zu flimmern vor ausströmender Energie. Es war merkwürdig, jemand anderen so intensiv spüren zu können. Ich sah die Ziellinie auf dem Boden schon näher kommen und Alluka, die daneben stand und uns mit beiden Armen zuwinkte. Es würde wieder ziemlich knapp werden, dachte ich. Wahrscheinlich würden wir uns darüber streiten müssen, wer letztendlich gewonnen hatte.
Als wir über die Ziellinie sausten, versuchte ich ganz genau auf unsere Füße zu achten. Ich glaubte zu bemerken, wie Killuas lila Sneakers ein paar Millisekunden vor meinen den gezogenen Strich berührten und dann darüber hinaus schossen, bevor wir beide ziemlich scharf und unsanft bremsen mussten.
Unsere Auren erloschen und wir atmeten beide schwer. Trotzdem konnte ich mir ein listiges kleines Grinsen einfach nicht verkneifen. Er hatte zwar gewonnen (dachte ich wenigstens) und ich würde auch fair bleiben und es zugeben, aber…
„Wie nah genau wolltest du mich nicht lassen?", fragte ich unschuldig.
Killuas saphirblaue Augen blitzten belustigt, aber er schnaufte bloß noch ein paarmal durch, bevor er sich wieder aufrichtete.
„Woah!", machte Alluka und zog den bewundernden Laut in die Länge. „Tut mir leid, aber ich hab überhaupt nicht erkennen können, wer gewonnen hat"
„Killua", antwortete ich einsilbig. Irgendwie war es trotzdem frustrierend. Ich hatte damit gerechnet und war eigentlich stolz darauf, dass es so knapp ausgegangen war. Aber ich hatte nicht gewonnen.
„Huh?", machten die Geschwister gleichzeitig. Der Weißhaarige sah überrumpelt aus.
„Killua hat gewonnen", wiederholte ich. „Um etwa zwei bis drei Millisekunden oder so. Ich hab auf unsere Füße geguckt und bin der Meinung, er hätte zuerst die Linie berührt"
„Als ob man das so genau sagen könnte, Idiot" Der Attentäter verzog das Gesicht.
„Ich hab sehr gute Augen, Blödmann", feuerte ich zurück. Was sollte das denn? „Außerdem hab ich gerade gesagt du hättest gewonnen, was gibt es denn da zu streiten?"
Aber Killua wandte nur den Blick von mir ab. „Hmpf" Bildete ich mir das ein oder hatten sich seine Wangen rosa verfärbt? Alluka fing an so herzhaft zu lachen, dass wir uns beide zu ihr umdrehten.
„Was?", fragte ich irritiert.
„Das ist genau wie mit Gon!", kicherte die Braunhaarige weiter, nicht dazu in der Lage, sich wieder zu beruhigen. Sie hatte wohl einen Lachkrampf. „Mit seinem besten Freund streitet mein Bruder sich auch immer genau so!"
Ich erstarrte innerlich zu einem Eisklotz. Verdammt! „Was der kleine Angeber hat Freunde?", versuchte ich halbherzig mir meine Schockstarre nicht anmerken zu lassen und steckte meine Hände in der gewohnten Art in meine Hosentaschen.
„Sag mal, willst du dich unbedingt mit mir anlegen, du kleine Göre?" Sein Ton war gespielt bedrohlich geworden und er warf mir böse Blicke zu.
Ich zuckte mit den Schultern. „Komm her, wenn du dich traust. Aber heul nicht rum, wenn ich dir eine reinhaue"
Das schien ihn wieder auf eine Idee zu bringen, denn der Weißhaarige stutzte und ließ sich nicht weiter auf das spielerische Geplänkel ein. „Sag mal, du bist Verstärkerin oder?"
„Meinst du?" Ich versuchte wieder herausfordernd zu grinsen, war mir aber nicht sicher, ob es gelang. Es fühlte sich eher nach Grimasse an. Und tatsächlich war das mit meinem Nen auch etwas komplizierter, da ich genetisch modifiziert war. Aber das konnte ich schlecht erklären. Vor allem wurde mir leicht unwohl, weil ich die Befürchtung bekam, die beiden würden bei mir Parallelen zu Gon suchen. Und wenn sie das taten und Alluka schließlich darauf kam, wem ich ähnlich sah, könnte das unangenehm ausgehen.
Killua rollte mit den Augen und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da überkam es mich wieder. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Und ganz schwach war da wieder dieser komische Geruch, den ich einfach nicht zuordnen konnte. An der Art wie ich den Kopf in die Richtung drehte, aus der der Geruch kam und wie ich die Augen misstrauisch verengte, bemerkte der Weißhaarige wohl, was los war, denn er hielt den Mund und spannte sich an.
Ich schauderte und rieb mir die Arme. Dieses Mal verschwand das Gefühl nicht so schnell, wie es aufgetaucht war. „Sagt mal, wollt ihr zwei nicht wieder in die Stadt zurück?", fragte ich so ungezwungen wie möglich. „Ihr wollt euch doch bestimmt noch ein bisschen was angucken, bevor ihr abreist"
„Kommst du nicht mit?", fragte Alluka und hörte sich enttäuscht an.
Ich schüttelte abwesend den Kopf. Der Geruch war auch immer noch ganz schwach vorhanden. „Ich soll für die Schwestern noch ein paar Kräuter rupfen", log ich. „Sie betreiben ein bisschen Naturheilkunde und dafür brauchen sie immer frische Zutaten" Naja, wenigstens nicht komplett gelogen. Ich warf Killua einen Blick zu. Er nickte, aber es schien ihm nicht zu gefallen.
Klar, er würde diese Sache wahrscheinlich gerne zusammen mit mir erkunden, aber das wäre für Alluka nicht sicher. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, dass er bei ihr blieb. Ich würde ihm später erzählen, ob ich etwas Interessantes gefunden hatte.
„Ich kann ja später nachkommen. Ich rufe euch an, wir haben schließlich nicht umsonst Nummern getauscht", schlug ich der Braunhaarigen vor und sie wirkte besänftigt, als sie sich von ihrem Bruder an die Hand nehmen ließ.
„Also, bis dann", rief ich noch und rannte in die Richtung davon, aus der dieser komische Geruch kam. Damit gab ich Killua gleichzeitig die Richtung vor, in die er lieber nicht gehen sollte.
Ich verbarg meine Anwesenheit komplett und schlug mich in die Baumkronen. Je näher ich meinem Ziel kam, desto mehr versuchte ich, mich so langsam wie möglich fortzubewegen. Ich kontrollierte meinen Herzschlag und meinen Atem und huschte so lautlos wie möglich durchs Geäst. Allerding bekam ich auch immer öfter Gänsehaut. Diese Aura war bedrohlich, keine Frage.
Nachdem ich einige Meter zurückgelegt hatte, kam ich am Rand einer Lichtung an. Ich schlich mich in eine der Baumkronen, die am nächsten zu dem kleinen runden Platz gelegen war, der komplett mit saftigem Gras bewachsen war. Vorsichtig spähte ich herunter und erhaschte einen Blick auf die Person, die eine so furchterregende Aura ausstrahlte.
Ich erkannte ihn auf den ersten Blick. Die rötlichen Haare, das bleiche Gesicht und die Muster auf den Wangen. Hisoka. Dieser gruselige Clowntyp, der hinter Gon her war, warum auch immer. Erst hatte er ihn bekämpft und versucht ihn zu töten, dann hatte er ihm aber wiederum auch schon geholfen. Er war eine zwielichtige Gestalt, aus der ich nicht schlau wurde und das machte ihn umso gefährlicher. Außerdem strahlte er diese Mordlust aus, die ich jetzt erkannte, da ich ihn dort unten liegen sah. Das war auch der Geruch, der von ihm ausging. Nicht konstant und auch nur leicht wahrnehmbar. Aber es war schon erstaunlich, dass ich seine Aura überhaupt riechen konnte. Das bewies nur, wie wahnsinnig stark der Kerl war. Er dünstete quasi seine Macht schon aus. Ich schauderte wieder.
Allerdings schien er im Moment keine besondere Bedrohung zu sein. Er lag einfach da auf dieser Lichtung, ließ ein paar Sonnenstrahlen, die durchkamen auf seine Haut scheinen und schien total in Gedanken versunken zu sein. Deshalb änderte sich auch seine Aura. Ich vermutete seine Blutlust wurde stärker oder schwächer je nachdem, an was er gerade dachte. Ich wollte es gar nicht wissen!
Deshalb hatte Killua ihn nicht wahrnehmen können. Er beobachtete uns nicht und war zumindest keine direkte Bedrohung. Alles, was ich wahrgenommen hatte, war seine pure Anwesenheit. Auch in der Stadt. Vermutlich war er ein paar Straßen weiter an uns vorbei gelaufen. Trotzdem sollte ich ihm bescheid sagen. Der Attentäter würde eine Begegnung sicher gerne vermeiden. Besonders mit Alluka im Schlepptau.
Ich beschloss, mich zurückzuziehen. Es gab keinen Grund, einen sinnlosen Kampf anzufangen. Er wäre ein interessanter Gegner gewesen, aber ich trainierte schon lange nicht mehr, um zu töten und diesen Instinkt hätte ich bei Hisoka definitiv gebraucht. Ich ließ mich zu Boden gleiten und machte mich auf den Rückweg. Bloß weg von dem Kerl!
Zurück in der Kirche rief ich Killua an und gab ihm einen kurzen Statusbericht. Sonderlich begeistert war er nicht, vor allem nicht darüber, dass ich mehr von unserer Umwelt mitbekam als er, aber er bedankte sich sogar bei mir, was mich wirklich überraschte.
„Können wir uns heute Abend wieder treffen?", fragte er plötzlich. Sein Ton gefiel mir nicht.
„Klar, wieso?"
„Alluka und ich wollen mit dir über etwas sprechen. Kannst du ins Hotel kommen?"
Oh. Nein. Böse Vorahnung!
Killua nannte mir die Zimmernummer und die Uhrzeit und legte auf. Und ich blieb mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zurück. War ich aufgeflogen?
