Kapitel 6: Ehrlichkeit
Wir saßen zusammen in dem kleinen aber modern eingerichteten Hotelzimmer. Alluka und ich auf ihrem Bett, Killua gegenüber auf seinem eigenen Einzelbett.
Ich hatte befürchtet, die beiden würden mich mit Fragen löchern, weil sie irgendwie vermuteten, dass ich mit Gon in Verbindung stand, aber das Gegenteil war der Fall.
Alluka erzählte mir von Nanika. Und zwar alles, bis ins kleinste Detail. Von ihrer Kindheit an, über die ganzen Regeln und Vermutungen, die aufgestellt worden waren, über Killua, der davon ausgenommen war und sie endete mit der Geschichte, als ihr Bruder sie abholen kam, um Gon zu heilen. Killua hatte versucht, Nanika zu befehlen, sich nie wieder zu zeigen, um seine Schwester zu schützen, aber nachdem sie ihm ordentlich die Meinung gesagt hatte, hatten die beiden sich dazu entschlossen, Nanika als Teil von Alluka vollständig zu akzeptieren.
„Seitdem ist es besser geworden", erklärte Alluka. „Nanika stellt eigentlich keine Bitten mehr an irgendwelche Leute, denen wir begegnen"
„Deshalb war ich ziemlich überrascht, als sie es bei dir getan hat", ergänzte der Weißhaarige nachdenklich.
„Mein Bruder war eigentlich dagegen, es dir zu sagen", gab Alluka zu und Killua zuckte mit den Schultern. „Wir dürfen auch eigentlich nicht darüber reden. Es ist ein Familiengeheimnis. Und ich hab keinen Bock, dass wieder irgendwer hinter uns her geschickt wird, um uns nach Hause zu holen. Besonders Illumi ist bestimmt immer noch ganz scharf drauf"
„Gon haben wir es auch gesagt!", beharrte die Braunhaarige, schob die Unterlippe vor und schmollte.
„Aber doch nicht jedes Detail!", widersprach Killua streng. „Was soll's, du hast es ihr ja jetzt gesagt. Zufrieden?" Seine Schwester nickte.
Ich war absolut sprachlos. „Wieso sagt ihr mir sowas Wichtiges?", brachte ich schließlich hervor, nachdem ich durchgeatmet hatte. „Ich meine, ihr kennt mich doch gar nicht. Ihr wisst überhaupt nichts von mir"
„Doch, Nanika und ich wissen, dass du ein gutes Herz hast", antwortete Alluka und nahm meine Hände in ihre. „Außerdem sind wir doch Freunde"
Ich senkte den Kopf und starrte auf unsere verschränkten Finger. Ich fühlte mich schuldig. Natürlich hatte ich noch nicht wirklich gelogen, aber ich enthielt ihnen Dinge vor, obwohl sie mir solche Geheimnisse anvertrauten. Ich stieß die Luft aus.
„Eigentlich wollte ich mich nicht mit euch anfreunden", sagte ich ehrlich.
„Oi, was soll das denn heißen?", brauste Killua sofort auf, aber Allukas tadelndes „Onii-chan!" ließ ihn wieder verstummen. Er biss die Zähne zusammen und schwieg.
„Ihr hattet Recht, als ihr gesagt habt, dass ich keine gleichaltrigen Freunde habe. Hatte ich noch nie. Eine richtige Familie hatte ich auch noch nie. Ich hab ein paar Erwachsene, die ich mittlerweile ganz gut kenne und die nett zu mir sind, wie Lina oder Joe. Ansonsten habe ich nur die Schwestern. Aber ein richtiges eigenes Leben habe ich sowieso erst seit vier Jahren. Ich lebe nicht schon immer in der Kirche. Außerdem komme ich ganz gut alleine zurecht. Ich hab mir eingeredet, ich bräuchte keine Freunde, um klarzukommen", erklärte ich. „Als ich dann ein bisschen Zeit mit euch verbracht hatte, hab ich Angst bekommen. Ich wusste genau, dass ihr in ein paar Tagen wieder abreisen würdet. Und dann wüsste ich, wie es ist, Freunde zu haben und würde trotzdem wieder alleine hier rumhängen. Der Unterschied wäre nur, dass ich dann etwas hätte, das ich vermissen kann"
„Gwen…" Alluka drückte meine Hände. Sie sah betroffen aus.
Ich lächelte traurig. „Jetzt ist es wohl zu spät", murmelte ich und zog die Knie an die Brust. „Ehrlichgesagt weiß ich nicht richtig, ob ich mich freuen oder ob ich heulen soll. Wahrscheinlich irgendwie beides, früher oder später"
„Idiot!", brummte der Weißhaarige. „Daran gedacht einfach mitzukommen hast du wohl noch nicht, was?"
„Onii-chan!", schimpfte Alluka wieder und funkelte ihren Bruder böse an. Es war das erste Mal, dass ich sie verärgert erlebte.
„Auf dein Mitleid kann ich verzichten, Blitzi!", fuhr ich ihn an und streckte ihm die Zunge raus. Oh ja, wirklich sehr erwachsen. Gerade wollte er so richtig loslegen, da wurde ich wieder ernst und unterbrach ihn, bevor er anfangen konnte, so richtig mit mir zu streiten. „Nein, mal ehrlich. Ich wollte mich niemandem aufdrängen. Außerdem sollte ich nicht so sehr unter Leute gehen. Das ist gefährlich. Ich bleibe meistens im Schutz der Kirche und bin nie sehr lange oder sehr weit weg von dieser Stadt. Es hat überhaupt ziemlich lange gedauert, bis ich mich mal aus meinem Zimmer getraut habe"
„Das macht doch überhaupt keinen Sinn!", protestierte Killua genervt. „Was war denn dann vor diesen vier Jahren? Wo bist du aufgewachsen? Und was soll das heißen gefährlich? Du willst mir nicht erzählen, dass du Angst hast raus zu gehen? So, wie ich dich einschätze kannst du ganz gut auf dich aufpassen. Du bist professioneller Hunter!"
„Gefährlich für andere, nicht für mich", stellte ich klar. „Es ist überhaupt ein Wunder, dass ich mich getraut hab, zur Prüfung zu gehen. Aber erst, als ich als Einzige bestanden hatte, ist es mir richtig klar geworden. Ich dachte bei dieser Prüfung müsste ich mir keine großen Gedanken machen. Die Leute da wären sicher alle halbwegs talentiert, sonst würden sie nicht teilnehmen. Im Nachhinein kann ich wahrscheinlich froh sein, dass ich niemanden ernsthaft verletzt oder umgebracht habe"
„Irgendwie komme ich nicht richtig mit", gestand Alluka. „Heißt das, du hast Angst vor dir selbst? Ein bisschen so, wie bei Nanika und mir? Aber warum?"
Zwei blaue Augenpaare lagen auf mir, die mich sorgenvoll musterten, auch wenn Killua trotzig die Arme vor der Brust verschränkte und so tat, als wäre er immer noch beleidigt. Jetzt gab es wohl kein Zurück mehr.
„Alluka, hast du nicht gesagt, ich käme dir bekannt vor? Hast du rausgefunden, warum?"
Die Braunhaarige schüttelte überrascht den Kopf. „Nein, aber was hat das damit zu tun?"
Ich biss mir auf die Lippe und seufzte. „Mein voller Name ist Gwendolyn Freecss"
Stille.
„Freecss?", stotterte Killua und klappte den Mund auf. Er gaffte, als hätte ich ihm eine gescheuert.
„Das heißt, du bist Gons kleine Schwester? Wieso hat er uns das nicht gesagt? Ich wusste nicht, dass er eine Schwester hat", wunderte sich Alluka, als sie sich von ihrem Schock erholt hatte.
„Er weiß es nicht", flüsterte ich. „Ging auch nicht"
Als ich schließlich den beiden meine gesamte Lebensgeschichte erzählte, konnte ich die aufgestauten Emotionen nicht mehr zurückhalten und Tränen bahnten sich ihren Weg und liefen über meine Wangen. Ich erzählte ihnen alles, was mir zu diesem Zeitpunkt passiert war und auch, aus welchen Gründen ich schließlich mit meinen Recherchen aufgehört hatte.
„Ihr habt euch wirklich den besten Zeitpunkt ausgesucht", schniefte ich sarkastisch, musste aber trotzdem gegen meinen Willen lächeln.
„Und sie haben Gons Papa nicht gesagt, dass seine DNA geklaut wurde?", fragte Alluka empört und wischte sich mit einem weiten rosa Ärmel ihres Kleides über die Augen. Auch sie hatte geweint, während ich erzählt hatte.
„Doch, Ging wurde über den Vorfall von der Hunter-Vereinigung informiert, aber es wurde ihm nicht gesagt, dass etwas… dass ein Kind daraus entstanden ist. Ich wurde vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und die Akte kam unter Verschluss. Scheinbar hat es ihn auch nicht großartig interessiert, sonst hätte er weiter nachgeforscht"
„Und weil du verändert wurdest und deine Kräfte so stark sind, hast du Angst jemandem wehzutun?" Die Braunhaarige war vermutlich diejenige, die mich am besten verstand.
„Nicht nur das. Ich bin komplett genetisch modifiziert. Genau genommen bin ich kein normaler Mensch mehr. Außerdem ist da diese Sache mit meinen Gefühlen. Eigentlich wurde so an mir herumgedoktert, dass ich gar keine Emotionen haben dürfte. Meinen ersten Ausbruch in diese Richtung hatte ich mit zehn. Das war vor vier Jahren. Ich hab vor vier Jahren erst angefangen zu lernen, wie man mit echten menschlichen Emotionen umgeht. Kannst du dir vorstellen, was passieren könnte, wenn ich richtig sauer auf jemanden werde und die Kontrolle verliere? Gon ist das beste Beispiel und der hat seine Aussetzer nur, wenn jemand seine Freunde oder Familie bedroht. Stellt euch mal vor, ich könnte Unschuldigen was tun. Das will ich wirklich vermeiden!"
„Du kannst dich nicht dein ganzes Leben hier verkriechen. Es ist nicht deine Schuld, dass du so bist. Du hast es dir genauso wenig ausgesucht, wie Alluka. Du sperrst dich selbst ein, das ist nicht der richtige Weg. Ich hab meine Schwester nicht zu Hause rausgeholt, um jetzt die nächste dumme Nuss zurückzulassen, die sich selbst ihr Leben schwer macht", sagte Killua und bemühte sich um einen neutralen Ton, obwohl man deutlich merkte, wie angepisst er war. „Außerdem haben Gon und auch Ging das Recht, wenigstens etwas von deiner Existenz zu erfahren. Wie sie damit umgehen wollen, bleibt ja ihnen überlassen"
„Auch wenn er es hätte netter ausdrücken können", setzte Alluka an und durchbohrte den Weißhaarigen mit ihrem bösen Blick. „finde ich, dass mein Bruder Recht hat. Du solltest Kontakt aufnehmen. Gon ist wirklich ein sehr netter Junge. Ich mag ihn"
„Der Trottel lässt bestimmt alles stehen und liegen und taucht sofort hier auf, sobald er es erfährt" Killua verzog spöttisch das Gesicht.
„Warum sollte er?", fragte ich bitter. „Man hat nicht einfach jemand völlig fremden lieb, weil man erfährt, dass man blutsverwandt ist"
Der Attentäter zuckte die Schultern. „Mir brauchst du das nicht zu erklären", meinte er schlicht. „Aber Ging hatte er auch noch nie gesehen und guck dir an, was er alles durchgemacht hat, um den zu finden. Obwohl er ihn als Kind zurückgelassen hatte. Gon ist halt n schlichtes Gemüt. Ihn hats ja auch nicht gestört, dass sein Alter faul und verantwortungslos ist"
„Jetzt ist aber mal gut", regte sich Alluka auf. „Wie redest du denn über deinen besten Freund?"
Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Gon ist naiv, aber freundlich. Und ich kann seine Neugier verstehen. Er wollte seinen Vater kennenlernen, weil er eben sein Vater ist. Er wird auch seine Schwester kennenlernen wollen. Einfach weil du seine Schwester bist"
„Bin ich das?" Ich war mir da nicht so sicher. „Hab ich denn das Recht mich Tochter oder Schwester zu nennen? Niemand wollte mich und niemand weiß von mir. Ich bin nicht mal auf natürlichem Weg entstanden. Ist es da richtig, mich in eine Familie drängen zu wollen? Ich war schon mit dem Namen nicht unbedingt einverstanden, aber die Schwestern sind da altmodisch"
Eine lange Pause entstand, in der niemand etwas sagte, bis es Killua zu blöd wurde und er genervt seufzte. „Also wir können weiter darüber philosophieren oder du probierst halt dein Glück. Ich für meinen Teil werde es ihm nicht verheimlichen, tut mir leid. Entweder du nimmst Kontakt auf, oder ich sage es ihm irgendwann. Nicht sofort, aber mit der Zeit. Das bin ich ihm als Freund schuldig. So ein Geheimnis werde ich nicht vor ihm bewahren"
„Ich denke, ich muss über einiges nachdenken", murmelte ich schließlich, als ich einfach keine andere Antwort finden konnte.
„Danke, dass du dich uns anvertraut hast, Gwen", sagte die Braunhaarige und lächelte mich an. Ich nickte nur.
„Achso, du hast doch gefragt, ob ich Verstärkerin bin", fiel mir noch ein und ich sah Killua an. „Durch die Modifizierung richtet sich mein Nen glaube ich nicht unbedingt nach diesen sechs Kategorien. Meine Technik im Nahkampf ist der von Gon mit seiner Jajanken sehr ähnlich, aber ich kann meine Aura auch für den Fernkampf nutzen und da ist sie genauso effektiv. Ich denke diese andere Technik wäre wohl Strahlungsart? Oder vielleicht auch Verwandlungsart, ich bin nicht sicher. Vielleicht bin ich auch ein besonders krasser Fall von der Sonderart, aber genau weiß ich es nicht. Das Wasserorakel funktioniert bei mir nicht"
„Gar nicht?" Killua horchte auf.
Ich schüttelte den Kopf. „Es passiert einfach gar nichts. Das Wasser ändert auch nicht den Geschmack oder den Geruch oder so. Es bleibt alles, wie es ist, als würde ich gar kein Nen benutzen"
„Die haben ja ganz schön an dir rumgepfuscht", presste er verärgert hervor.
Ich nickte nur. Ja, das hatten sie.
Nach einer Weile, in der wir weniger trübsinnige Konversation führten und die beiden mir versuchten Gons Persönlichkeit an lauter lustigen Beispielen etwas näher zu bringen, erhob ich mich schließlich von Allukas Bett, bedankte mich bei den beiden für ihr Vertrauen und dafür, dass sie mir zugehört und mich aufgemuntert hatten und verabschiedete mich dann von den Zoldyck Geschwistern.
Draußen war es schon dunkel und auf dem Weg zurück zur Kirche kreisten meine Gedanken ständig um unser Gespräch. So verärgert Killua teilweise auch gewesen war, Alluka hatte Recht. Es hatte gestimmt, was er gesagt hatte. Trotzdem wollte mein Magen nicht so recht akzeptieren, dass ich Ging und Gon kontaktieren sollte. Er rebellierte schon bei der reinen Vorstellung.
In dieser Nacht schlief ich unruhig und wälzte mich lange hin und her. Noch nie in meinem Leben hatte ich so ein Gefühlschaos empfunden.
