Kapitel 12: Training

Alluka und Nanika nutzten jede freie Minute zum Training und meine Erwartungen, beziehungsweise auch Befürchtungen wurden sogar noch übertroffen. Besonders Nanika schien Techniken und Wissen aufzusaugen, wie ein ausgetrockneter Schwamm. Sie konnte genau wie ihre Geschwister die Hände zu Klauen formen und den Schattenschritt einsetzen. Durch bloße Beobachtung in einem sehr jungen Alter hatte sie diese kleinen Brocken Attentätertraining abgespeichert und war jederzeit dazu in der Lage, sie abzurufen. Alluka selbst war überrascht. Sie hatte sich die Zeit genommen, um mit Nanika gemeinsam darüber nachzudenken, ob sie das Training wirklich machen wollten.

Killua war oft mit Gon alleine unterwegs, sehr zu unserer Erleichterung. Die beiden schienen sich gegenseitig sehr vermisst zu haben und wollten die verlorene Zeit zusammen nachholen. Gon hatte mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, aber Alluka und ich versicherten den beiden, dass sie sich ruhig ihre Zeit nehmen konnten. Und wir nutzten das, um zu trainieren.

Natürlich war Nanika stärker als Alluka, wenn sie die Kontrolle übernahm, aber die beiden waren vor allem ein gutes Team. Ich hatte Recht behalten mit der Sonderart. Beide, Nanika und Alluka hatten das Wasserorakel benutzt und waren zum selben Ergebnis gelangt. Ich war völlig überrumpelt gewesen, dass die beiden so schnell in der Lage gewesen waren Ren einzusetzen. Was Konzentration und Aurakontrolle anging, waren die beiden unschlagbar, besonders als Team.

Körperlich war das schon noch ein anderes Thema. Alluka hatte überhaupt keine Erfahrung und beherrschte keine Kampfkunst, Nanika konnte nur das, was sie hatte beobachten können. Und sie konnte es auch nur in festgelegten Mustern abrufen, weil sie kopierte und nicht selbstständig handelte. Also ging ich mit ihr joggen, ließ sie meinen Boxsack in meinem Trainingsraum bearbeiten und gab ihr leichte Hanteln zum Krafttraining. Ich zeigte ihr ein paar einfache Schläge, Tritte, Blocks und Ausweichmanöver, trainierte ihren Gleichgewichtssinn und ließ sie immer und immer wieder die Grundlagen wiederholen. Sowohl die des physischen Trainings als auch die des Nen Trainings.

Die beiden lernten schnell und nutzten selbst Zeiten, in denen ich nicht dabei war, um selbstständig zu üben. Schwester Rachel berichtete mir, dass Alluka öfter in meinem Trainingsraum sei, als ich selbst. Aber für mich war es auch gut, denn ich trainierte ebenfalls wieder mehr. Ich hatte es etwas schleifen lassen, da ich meine Kräfte nie wirklich als gute Sache betrachtet hatte.

Mir kam es so vor, als würde die Zeit viel schneller vergehen, seit ich Killua, Alluka und Gon kennengelernt hatte. Jeder Tag war gefüllt mit Emotionen. Wir redeten und lachten, wir unternahmen Ausflüge und trainierten, wir stritten beinahe ununterbrochen ohne wirklich sauer aufeinander zu sein. So musste sich eine echte Familie anfühlen. Und in jedem ihrer Gesichter konnte ich dieses Gefühl ablesen, wenn wir uns gegenseitig ansahen. Selbst in Nanikas Aura konnte ich die Veränderung spüren, die unser Zusammensein brachte. Wir wuchsen zusammen. Und obwohl ich immer noch Angst davor hatte, mich komplett darauf einzulassen, war ich glücklich.

Der Tag, an dem ich einen Übungskampf gegen Alluka und Nanika führte kam schneller, als ich dachte. Bei den Trockenübungen konnte ich ihr nicht mehr viel beibringen und sie hatte rasend schnell Kondition und Kraft aufgebaut. Sie musste ebenso talentiert sein wie Killua und Gon oder vielleicht sogar noch mehr. Eigentlich war sie sogar auf meinem eigenen Level, was ich mir schließlich auch eingestand und sie sozusagen herausforderte.

Für das Training lieh ich ihr ein paar Sportklamotten von mir und es war ungewohnt sie mit kurzen Hosen, Shirt und zusammengebundenen Haaren zu sehen. Aber ihr entschlossener Blick war geblieben. Ihre blauen Augen beobachteten jede meiner Bewegungen genau. Sie war hoch konzentriert und schien zu allem bereit.

„Fünf Minuten", sagte ich. „Ich werde dich angreifen und ich werde richtig zuschlagen. Wirst du getroffen, wird es wehtun, also vermeidest du es lieber. Du darfst alles gegen mich verwenden, was du gelernt hast. Du kannst alle Grundlagen und hast sie x-mal wiederholt, also verlass dich ruhig auch auf dein Bauchgefühl. Wenn du als Alluka nicht weiterkommst, ruf Nanika zur Hilfe. Wechselt euch ab, so oft es nötig ist. Arbeitet zusammen. Denkt immer daran, zusammen seid ihr stark. Ihr habt den Vorteil, dass ihr zu zweit seid und nicht jeder Gegner wird das gleich durchschauen. Einige werden es für eine Fähigkeit halten, andere vielleicht für eine Ablenkungstaktik. Nur wenige Leute werden es wirklich verstehen. Diejenigen, die es können, vor denen müsst ihr euch in Acht nehmen, denn sie sind gefährlich für euch. Habt ihr verstanden?"

Alluka nickte ernst und ging in Kampfstellung, wie ich es ihr beigebracht hatte. „Wir sind so weit!"

Ich lächelte. Sie sprach immer öfter in Wir – Form, da sie Nanika beinahe in alle Entscheidungen mit einbezog. Sie erzählte mir, was Nanika dachte und fühlte, weil Nanika selbst es nicht richtig erklären konnte. Alluka war die Menschlichkeit, das Herz und das Gehirn. Nanika war die Kämpferin, die Beschützerin aber auch diejenige, die ihre Grenzen brauchte. Die beiden waren das perfekte Team und sie schienen es mehr und mehr selbst zu verstehen, je länger ich sie trainierte. Es war, als würde man Nanika erziehen. Allmählich schien es selbst bei ihr anzukommen, dass Killua sich vom Töten abgewandt hatte, weil es falsch war. Ich hatte das Gefühl, dass das Zusammensein mit uns ihr komplettes Weltbild veränderte.

Mit einem letzten Nicken stellte ich die Stoppuhr und griff beinahe blitzartig an. Alluka reagierte im selben Augenblick. Ihre Reflexe hatten sich enorm verbessert und sie wich geschickt meinem ersten Hieb zur Seite aus, ohne dass Nanika übernehmen musste. Mutig wirbelte sie herum und zielte mit ihren Krallen auf den Arm, den ich noch nicht ganz wieder zurückgezogen hatte. Ich schlug ihre Hand kräftig zur Seite und nutzte die Gelegenheit, um wieder zuzuschlagen. Diesmal traf ich ihren Arm, den die Braunhaarige zum Schutz vor ihr Gesicht gerissen hatte.

Ich ließ ihr keine Zeit sich von dem Treffer zu erholen, machte eine halbe Drehung und nutzte den Schwung für einen ordentlichen Tritt, der sie in die Seite traf. Die Braunhaarige schnappte nach Luft, ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen und landete einen ordentlichen Konter in meine Magengegend.

So ging das eine Weile hin und her. Wir verstrickten uns in einen Nahkampf, in dem wir rasend schnell Schläge und Tritte tauschten. Einigen konnten wir ausweichen, andere konnten wir blocken, aber ganz wenige trafen auch mal ihr Ziel.

Als ich plötzlich spürte, wie Allukas Aura dunkler wurde und Nanika übernahm, ergriff ich die Chance, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen, allerdings war das kein kluger Schachzug gewesen, denn Nanika schaltete sofort und wechselte in den Schattenschritt. Plötzlich war ich von annähernd zwanzig Kopien von Nanika umgeben, die mich umkreisten und dann alle auf einmal blitzschnell auf mich zukamen.

Ich bemerkte den echten Körper zu spät. Zwar konnte ich mich noch wegdrehen, aber sie landete ihren Treffer auf meinem Oberarm und hinterließ mit ihren scharfen Nägeln einen leicht blutenden Kratzer und einen zerfetzten Shirtärmel.

Da Nanika etwas aggressiver kämpfte als Alluka, rechnete ich mit einem sofortigen Folgeangriff, der auch prompt kam und ich setzte zu einem Flickflack rückwärts an, der mich aus ihrer Reichweite brachte. Sie konzentrierte ihr Ren und stürzte sich auf mich. Ihre Bewegungen wurden immer schneller und präziser und unser Schlagabtausch wurde dadurch immer intensiver, bis die Stoppuhr anfing zu piepen und Nanika noch in ihrer Bewegung förmlich einfror. Im selben Moment änderte sich wieder ihre Aura, ihr Ren flaute ab und ich hatte wieder Alluka vor mir, die mich anblinzelte.

„Ihr seid wirklich gut geworden. Die Grundlagen sitzen und ihr könnt euch wehren. Ihr arbeitet gut zusammen, der Tausch geht schnell und unauffällig, wie wir's besprochen haben. Und ihr lasst euch von einem Treffer nicht aus der Ruhe bringen, das ist wirklich wichtig. Wenn ihr euch zu sehr auf den Schmerz konzentriert, könnt ihr nicht selbst angreifen und verliert den Kampf", lobte ich und Alluka strahlte. Sie schwitzte und war außer Atem, während ich nicht einmal richtig aufgewärmt war. Ihr fehlte es immer noch an Erfahrung, das war ja auch klar. In einer rein körperlichen Auseinandersetzung war sie noch lange nicht auf Killuas und Gons Level und auch nicht auf meinem. Dafür würde es noch einiges an Training brauchen.

Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass sie ein wahnsinnig mächtiges Hatsu würde entwickeln können. So eng, wie sie mit Nanika verbunden war und wenn wir tatsächlich Bedingung und Schwur einsetzten wollten, um ihre Fähigkeiten im Zaum zu halten, wäre sie in der Lage selbstständiger und unabhängiger zu werden. Und vielleicht würde sie wirklich nach Hause gehen und es ihren Eltern unter die Nase reiben wollen. Eigentlich wünschte sie sich ja bloß endlich von ihrer eigenen Familie akzeptiert zu werden. Und sie wollte Killua nicht zur Last fallen und ihn von seinen Abenteuern mit Gon abhalten.

Das Problem war, dass ich mir selbst wirklich nicht zutraute, ihr Hatsu beizubringen. Gon und Killua hatten ihrs selbst entwickelt und meins war unnatürlich und aus militärischer Sichtweise entwickelt und mir jahrelang antrainiert worden. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Regeln wir aufstellen mussten, um Nanikas Fähigkeit für andere Menschen ungefährlich zu machen, aber gleichzeitig in Allukas Hatsu einzubauen, um es für sie effizient nutzbar zu machen. Also beschloss ich ehrlich zu sein und mit der Braunhaarigen darüber zu sprechen. Natürlich zeigte sie sich wie immer verständnisvoll. Auch sie hatte ihre Zweifel, dass es richtig war die Sache ganz alleine in die Hand zu nehmen. Dazu war Nanika einfach zu ungewöhnlich und ihre Kräfte waren zu unberechenbar. Aber leider hatten wir beide auch nicht die geringste Ahnung, wen wir um Hilfe fragen könnten.

„Tja, da ich dir nicht viel mehr beibringen kann, können wir nur noch daran arbeiten es zu perfektionieren. Wir können es so lange wiederholen, wie du möchtest, wir können an deiner Kondition und Kraft arbeiten und daran, wie lange du dein Ren aufrechterhalten kannst. Ich kann dir noch ein paar Nahkampftechniken beibringen. Deinen Körper zu trainieren ist kein Problem. Ren, Zetsu, Gyo und das ganze Zeug können wir üben, bis du blau wirst. Aber für dein Hatsu müssen wir uns wirklich was überlegen. Beziehungsweise müssen wir uns jemanden einfallen lassen, der uns helfen könnte und dem wir gleichzeitig auch vertrauen können. Das wird echt nicht leicht", erklärte ich, während wir auf dem Boden saßen und Alluka eine Flasche Wasser leerte.

„Und irgendwann müssen wir es unseren Brüdern sagen" Sie schauderte bei der Vorstellung. Und ich war irgendwie ähnlich begeistert.

„Außerdem seid ihr schon viel länger hier als ihr geplant hattet", murmelte ich vor mich hin. „Wahrscheinlich werden die Jungs bald beschließen weiter zu ziehen. Und genauso wie Killua dich mitnehmen will, wird Gon mich auch mitnehmen wollen. Ich müsste mir wohl langsam mal überlegen, ob ich das auch will"

„Du möchtest nicht bei uns bleiben?" Allukas Blick trübte sich ein und ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen.

„Ich weiß es einfach nicht. Eigentlich glaube ich schon"

Die Braunhaarige musterte mich ernst. „Du legst dich selbst in Ketten"

Ich seufzte und nickte.

„Weißt du, auch wenn ich eigentlich gesagt habe, dass ich selbstständig sein will, ich fände es trotzdem schön wenn wir eine Weile noch zu viert wären. So schnell lerne ich eben doch nicht und es wird noch seine Zeit dauern, bis ich so weit bin, dass ich meinen Eltern und Geschwistern in die Augen sehen kann", erklärte Alluka. „Was hast du für ein Ziel? Ich hatte sehr lange kein eigenes, bis mir aufgefallen ist, wie selbstsüchtig ich mich benehme. Aber Onii-chan hat mir mal gesagt bei ihm wäre es dasselbe. Vor dem Plan mich zu befreien hat er Gon für seine Lebensträume beneidet, weil er keine eigenen hat"

„Du bist nicht selbstsüchtig", hielt ich dagegen. Einerseits um Zeit zu gewinnen, andererseits weil es stimmte. „Du hast es eben selbst gesagt. Du warst Killuas Ziel. Und mehr noch, er liebt dich und es bereitet ihm Freude mit dir zu reisen. Du darfst nicht vergessen, dass er genau weiß, wie das ist, wenn man sich von seiner Familie lossagt. In gewisser Weise hat er es auch hinter sich, nur dass er nicht physisch in einem abgeschlossenen Keller gesessen hat, sondern psychisch"

Sie nickte und lächelte mich an, scheinbar dankbar darum, dass ich versuchte sie zu verstehen. Trotzdem ließ sie sich nicht vom Thema abbringen und sah mich weiterhin erwartungsvoll an.

„Ich hab selbst auch kein Ziel", seufzte ich. „Und wenn man es genau nimmt haben weder Gon noch Killua welche. Gon hat Ging gefunden und Killua hat dich gerettet. Ihre Ziele sind längst erreicht. Wobei Gon bestimmt kein Problem hat ein neues zu finden"

Alluka kicherte. „Dann ziehen wir alle zusammen los und finden unsere Ziele. Und wenn jeder eins hat, teilen wir uns auf und versuchen sie zu erfüllen und vielleicht treffen wir uns danach wieder und sind alle stärker geworden und haben uns eine Menge zu erzählen"

„Wir könnten auch zusammen unsere Ziele verfolgen und uns gegenseitig helfen", überlegte ich laut, bis ich merkte, was ich da eigentlich sagte.

Killuas Schwester strahlte. „Also möchtest du wirklich bei uns bleiben"

„Ich glaube mir macht es Angst", gab ich zu. „Ich war immer alleine und jetzt wo ich weiß wie es mit euch ist, will ich das eigentlich nicht mehr. Wenn ich hierbleibe geht ihr irgendwann, aber wenn ich mitkomme wird die Bindung stärker und wie du schon gesagt hast ist die Möglichkeit da, dass wir uns trotzdem wieder trennen"

„Aber du hättest die vielen Erinnerungen. Du wärst nie wieder alleine" Die Braunhaarige legte mir sanft eine Hand auf den Arm. „Weil du wüsstest, dass es Leute auf der Welt gibt, denen du wichtig bist. Du hättest die Schwestern, zu denen du sicher jeder Zeit zurückkehren könntest. Du hättest Gon, deinen Bruder und meinen Bruder und mich, deine ersten Freunde. Und bestimmt würden wir Kontakt halten. Anrufen. Schreiben. Das ist doch was ganz anderes als tatsächlich völlig alleine zu sein"

Überrascht und leicht berührt musste ich lächeln. Manchmal fand ich die Weise, auf die Alluka diese Welt betrachtete wirklich schön. Sie war irgendwie ansteckend und verursachte in meinem Inneren ein warmes Kribbeln.

„Ich hoffe, dass ich das irgendwann auch so sehen kann", murmelte ich leise und die Braunhaarige umarmte mich.

Bevor es dann aber doch noch zu sentimental werden konnte, scheuchte ich die kleine Kämpfernatur ins Bad, damit sie sich nach dem Training frisch machen konnte. Ich nahm mir vor, ein paar Trainingstechniken von Bisky zu übernehmen, die ich von den Jungs gehört hatte. Zum Beispiel die Sache Zahlen über meinem Finger erscheinen zu lassen, um Gyo zu trainieren oder Alluka beizubringen, wie man zu bestimmten Prozentzahlen Aura in verschiedenen Körperteilen konzentrierte. Steine würde ich ihr beim Schlafen wohl keine über den Kopf hängen, das stand außer Frage, aber die erfahrene Hunterin schien ein paar sehr verlockende Ideen gehabt zu haben, sonst wären Gon und Killua nicht so weit gekommen.

Ich rappelte mich selbst ebenfalls auf und sprach mir selbst Mut zu, wobei ich mir zugegeben reichlich dämlich vorkam, aber es half gegen das unsichere Gefühl in der Magengegend. Erstmal auf das Training konzentrieren, was konnte dabei schon schief gehen?