Kapitel 15: Hisoka

„Hisoka…?" Na der hatte mir ja gerade noch gefehlt. Wieso hing dieser gruselige Clowntyp immer noch in meiner Stadt rum? Außerdem starrte er mich an, als ob er versuchen könnte mich zu fressen. Andererseits war ich nicht wirklich überrascht. Ich hatte ihn schließlich auch gespürt und so unkontrolliert, wie ich gerade herumlief, machte ich besonders auf mich aufmerksam. Eigentlich war es klar gewesen, dass er meiner Spur folgen würde. So ein Typ war er einfach. Immer auf der Suche nach starken Gegnern.

„Oh, ich bin geschmeichelt", flötete der Rothaarige und seine Augen glänzten mir einen Hauch zu verdächtig. „Und mit wem habe ich das außerordentliche Vergnügen?"

Er spielte mit mir. Kurz runzelte ich die Stirn, aber ich war immer noch zu aufgebracht, um mir tatsächlich ernsthafte Gedanken darum zu machen. Wäre vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn ich mich an jemandem abreagieren konnte. Und einen wie diesen Typen würde es wohl schon nicht umbringen, wenn er sich mal kurz mit mir amüsierte. Zumindest schrie alles an ihm danach, sich endlich auf mich stürzen zu können, also beschloss ich mitzuspielen und ihm und mir selbst einen kleinen seltenen Gefallen zu tun.

„Was, du erkennst mich nicht?", fragte ich mit gespielter Verletzlichkeit in der Stimme. „Das trifft mich jetzt aber wirklich!" Zur Verdeutlichung legte ich mir eine Hand auf den Brustkorb, als hätte ich körperliche Schmerzen bei seinen Worten erlitten.

Die Augenbraun des Harlekins schossen in die Höhe und er betrachtete mich intensiv von oben bis nach unten. So lange, dass ich seinen Blick beinahe spüren konnte, wie eine hauchzarte Berührung. Ich unterdrückte den eiskalten Schauer, der mich zu überwältigen drohte und hielt seinen stechenden Augen stand. „Entschuldige, aber ich bin mir absolut sicher, dass wir uns zuvor noch nie begegnet sind. Solch eine Begegnung wäre mir ganz sicher im Gedächtnis geblieben" Sein Tonfall klang immer noch überaus interessiert. An mir. Igitt!

Ich legte leicht den Kopf schief und musterte Hisoka meinerseits ebenfalls. Dann schenkte ich ihm ein hinterhältiges Lächeln und beschloss, nicht näher auf seinen Kommentar einzugehen. „Vielleicht machen wir ein Spiel daraus?", schlug ich vor. „Wenn du den Nachnamen errätst, sage ich dir den Vornamen. Du bekommst ein paar Tipps von mir, ich bin ziemlich sicher, dass du sie verstehst"

Seine Mundwinkel verzogen sich nach oben „Interessant", murmelte er und schien schon dabei zu sein, mich zu analysieren. „Einverstanden. Dann nehme ich also an, dass du nichts dagegen hast, wenn ich versuche dich… nun ja… besser kennenzulernen?" Er sagte das in einem Ton, der wirklich alle Möglichkeiten zuließ und die Art, wie er dabei seine Raubtieraugen zusammenkniff, ließ meine Alarmglocken hell aufschrillen.

Aber ich zuckte nur mit den Schultern und sprach aus, was ich dachte. „Eigentlich kommst du gerade richtig, ich könnte jemanden gebrauchen, an dem ich mich austoben kann, ohne dass derjenige gleich den Geist aufgibt" Ich blinzelte ihm unschuldig zu. „Nicht, dass du dich ausgenutzt fühlst, aber du hättest nicht zufällig ein bisschen Zeit? Du machst einen ganz stabilen Eindruck"

Hisoka brach in Gelächter aus, das sich in der Stille dieses Waldes seltsam fehl am Platz anfühlte. Gleichzeitig verdichtete sich seine Aura und ich konnte spüren, wie er sich auf einen Angriff vorbereitete. Ich ging ebenfalls in Stellung. Zumindest mein Glühen hatte aufgehört nach meiner angestrengten Konzentration, aber unsere Auren mussten auch nicht sichtbar sein, um aufeinander zu prallen. „Ahhh, das ist wirklich zu köstlich", seufzte der Rothaarige und dann war er ohne Vorwarnung einfach verschwunden, um in der nächsten Minute ganz dicht hinter mir wieder aufzutauchen. Er war verdammt schnell!

Trotzdem wich ich seinem ersten Schlag mit Leichtigkeit aus und fing den zweiten mit einer Hand ab. Seine Stärke war tatsächlich auch nicht zu verachten, wie ich es mir schon gedacht hatte. Dieser Kerl war als Gegner auf keinen Fall zu unterschätzen. Selbst für jemanden wie mich. Aber ich hatte schon einen Plan im Hinterkopf, mit dessen Vorbereitung ich auch gleich anfing.

„Mein erster Tipp", erinnerte ich Hisoka an unser Spiel und lenkte damit seine Aufmerksamkeit erfolgreich weiterhin auf mich, während ich zu einem kräftigen Tritt ansetzte. „Ich bin mit einer Person verwandt, die du… kennst" Wobei kennen wirklich untertrieben war. „Ich trage denselben Nachnamen. Wenn du rausfindest, wen ich meine und den Namen der Person kennst, hast du gewonnen"

Natürlich ging auch mein Angriff daneben, allerdings kommentierte der Harlekin meinen Hinweis mit einem interessierten Glucksen. Eine Weile testeten wir einander noch im Nahkampf und ich nutzte dabei die Zeit, um meine Falle vorzubereiten. Schließlich war der Rothaarige der erste von uns beiden, der anfing ernst zu machen. Scheinbar konnte oder wollte er sich nicht länger zurückhalten. Seine Bewegungen wurden fließender, geschmeidiger und er legte noch einmal an Geschwindigkeit zu. Seine Angriffe wurden kräftiger, ungebändigter und dann kam der Moment, in dem ich haarscharf seinem Bungeegum entkommen musste. Im allerletzten Moment spürte ich eher, als das ich sah, dass etwas auf mich zugeflogen kam. Ab da konzentrierte ich mich teilweise darauf, Gyo anzuwenden und meine Umgebung im Auge zu behalten. Hisoka nutzte seine Nen-Fähigkeit auch, um sich schneller fortbewegen zu können. An seinen Füßen konnte ich Spuren der pinken Gummimasse erkennen. Gar nicht dumm, das machte ihn unglaublich flexibel und sehr schwer zu treffen. Für jemanden, der auf bloße Kraft und seine Fäuste setzte zumindest. Und schließlich gab ich mir große Mühe so zu tun, als wäre ich so jemand. Ich konnte mehrere Bäume ausmachen, mit denen er seine Füße verbunden hatte. Er konnte in jede erdenkliche Richtung ausweichen. Selbst nach oben in die Baumkronen führten Stränge hinein.

„Der zweite Tipp", keuchte ich nach einem blitzschnellen Schlagabtausch und sammelte meine Energie für einen Fernangriff. „Er betrachtet dich als eine Art Rivale. Als jemanden, den er unbedingt besiegen will, aber nicht als Feind"

Den kurzen Augenblick, in dem Hisoka perplex blinzelte und versuchte sich einen Reim auf meinen Hinweis zu machen, nutzte ich sofort aus. Ich streckte beide Hände in seine Richtung aus, zielte und feuerte. „Shoot!"

Die Falle schnappte zu, wie geplant. Über die ganze Zeit hinweg hatte ich Teile von meiner Energie in den Baumkronen angesammelt und zu leuchtenden Nen-Kugeln komprimiert. Auf meinen Befehl hin zielten sie nun allesamt auf den Clown und hagelten zischend aus ihrem dunklen Versteck auf ihn hinunter. Ich konnte einen überraschten Laut wahrnehmen, zu dem ich Hisoka gar nicht fähig gehalten hätte. Erst konnte ich überhaupt nichts erkennen, weil Erde und Staub durch meinen Angriff aufgewirbelt worden waren, dann flog in atemberaubender Geschwindigkeit ein Umriss durch die Luft.

Ich reagierte sofort und lenkte zwei der verbliebenen Geschosse in die Richtung um, in der der Rothaarige verschwunden war. Allerdings hielten die ihn nicht davon ab, auf mich zuzustürmen. Mit einem frontalen Angriff hätte ich in dieser Situation am wenigsten gerechnet. Im Bruchteil einer Sekunde stand Hisoka direkt vor mir.

„Verdammt!", fluchte ich noch, dann traf mich sein Schlag wie ein Presslufthammer. Ich konnte mich zwar mit meiner Aura schützen, trotzdem machte ich einen beeindruckenden Flug durch die Botanik und landete unangenehm hart mit dem Rücken an einem Baumstamm. Luft wurde aus meinen Lungen gepresst und ich gab ein ungehaltenes Röcheln von mir.

„Ach, wie ich Überraschungen liebe", schwärmte mein Gegner begeistert. „Mir gefällt unser kleines Spiel, ich muss mich wirklich zurückhalten"

Ich schnaubte angewidert. „Oh, bitte nicht meinetwegen. Ich hab auch meinen Stolz" Ein fieses kleines Grinsen huschte über mein Gesicht als ich bemerkte, dass die Kleidung des Harlekins Blutflecken davongetragen hatte. Also hatte ich ihn auf jeden Fall erwischt. Leider währte die Freude darüber nicht besonders lange, denn mir viel die pappige rosa Masse ins Auge, die mitten auf meinem Shirt klebte und mich so mit Hisokas rechter Hand verband. Shit! Ich konnte deutlich die Vibrationen in seiner Aura spüren, wie sie sich zusammenzog und verdichtete. Ungezähmte rohe Gewalt, aber auch gefährliche Intelligenz und Verschlagenheit.

„Da glaubt man schon, eine Verstärkerin vor sich zu haben und dann ist es am Ende Strahlungsart", sinnierte Hisoka weiter und schenkte mir ein zufriedenes Lächeln, das allerdings eher einer unkontrollierten Grimasse glich. Er hatte wohl wirklich seine Selbstbeherrschung weitestgehend aufgegeben. Seine Ausstrahlung wurde mit der Zeit sogar noch gruseliger. „Eine wirklich sehr gelungene Vorstellung"

Ich konnte nichts dagegen tun, ich fing an zu lachen. „Naja, danke für die Blumen. Aber bist du dir auch ganz sicher?" Ich wusste, dass Gon auch beides einsetzen konnte, allerdings war seine Strahlungsart eingeschränkt und geschwächt, weil seine Hauptkategorie die Verstärkung war. Ich hatte das Problem nicht. Mich konnte man in keine Schublade stecken. Meine Angriffe befanden sich alle auf dem gleichen Level, genau wie ich es den Zoldycks schon erklärt hatte.

Hisoka hob einen Finger, als wollte er mich tadeln. „Na, na, du wirst doch nicht versuchen mich zu verunsichern?" Dann spürte ich einen gewaltigen Ruck und ich wurde nach vorne gerissen, direkt auf den Rothaarigen zu, der zu einem weiteren Schlag ausholte.

Ich spannte mich an, machte mich bereit und konzentrierte mein Nen in meinem rechten Fuß. „Würde ich nie wagen!", entgegnete ich gereizt. Kurz bevor ich in die Faust des Harlekins krachte, vollführte ich eine halbe Drehung in der Luft, mein Fuß glühte hellorange auf und ich trat mit aller Kraft zu, setzte meine Energie gegen die von Hisokas Schlag. Eine Druckwelle entstand, die uns beide erfasste und in entgegengesetzte Richtungen schleuderte. Der Clown löste sein Bungeegum auf und ich kam unsanft auf meinem Hintern auf dem erdigen Waldboden auf, während er ziemlich elegant in der Hocke landete und sich wieder aufrichtete.

Auch ich rappelte mich schnell wieder auf und begegnete prompt Hisokas irrem Blick. Seine Augen waren weit aufgerissen und auf mich fixiert. Scheinbar gefiel ich ihm besser als mir selbst lieb war.

Ohne weitere Vorwarnung oder erneute merkwürdige Kommentare, ging er plötzlich auf mich los und wir verstrickten uns in einen intensiven Kampf. Ich kam nicht einmal mehr dazu, ihm den nächsten Tipp für unser Spiel zu geben. Der Rothaarige war zur reinsten Furie mutiert und ich packte auch ein paar neue Tricks aus. Ich ließ sowohl Schläge und Tritte, als auch meine Geschosse aus jeder erdenklichen Richtung auf ihn niedergehen und er kämpfte ebenfalls mit allen Mitteln. Immer wieder erwischte er mich irgendwo mit seinem Gummizeug und ich musste dafür sorgen, dass ich ihm nicht in die Falle lief.

Bald hatten wir beide unzählige blaue Flecken, blutige Kratzer und verdreckte kaputte Klamotten, aber keinem von uns gelang ein wirklich kritischer Treffer. Sehr zu meinem Widerwillen bemerkte ich, dass es mir tatsächlich irgendwie Spaß machte, mich mit Hisoka auf gleicher Ebene zu prügeln. Außerdem half es mir, mich zu beruhigen. Es war kräftezehrend und ich konnte mich auspowern und darauf kam es schließlich an. Zwischendurch ertappte ich mich dabei, wie ich darüber nachdachte, ob ich ihn wirklich würde besiegen können, wenn ich meine Wut auf Ging gegen den Harlekin richtete, verwarf den Gedanken aber wieder.

Ich hatte nicht vor, Hisoka zu töten oder ernsthaft zu verletzen und sosehr seine eigene Blutgier auch nach außen drang, so hatte er selbst ja schon zugegeben, dass er sich ebenfalls absichtlich zurückhielt. Außerdem wäre Gon bestimmt sauer auf mich, wenn ich dem Rothaarigen was antun würde. Immerhin hatte Hisoka ihn nicht umgebracht und er hatte ihm auf Greed Island sogar geholfen. Aus Gons Sicht machte das schon fast wieder einen Freund aus dem gruseligen Clown und ich wusste genau, dass mein Bruder ihn unbedingt besiegen wollte, weil er es schon zwei oder dreimal versäumt hatte.

Und als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen, konnte ich in der Ferne drei bekannte Präsenzen ausmachen, die stetig näher kamen. Ich seufzte. Klar waren sie mir gefolgt, was auch sonst? Allerdings sollte Hisoka Alluka nicht unbedingt zu Gesicht bekommen, weshalb ich mir überlegte den Kampf lieber schnell zu beenden und meinen Freunden entgegen zu gehen.

„Bereit für den letzten Tipp?", fragte ich in einer kurzen Pause und erhielt damit die ungeteilte Aufmerksamkeit des Rothaarigen. „Gut aufpassen, das erkennst du bestimmt", wies ich ihn an und drehte mich leicht seitlich. Ich nahm absichtlich ganz genau Gons Kampfstellung ein, wenn er seine Jajanken einsetzte.

„Und als erstes kommt der Stein…", zitierte ich grinsend. Leichter Wind kam auf, als ich meine Energie leuchtend in meiner Faust bündelte und dabei zusah, wie Hisoka die Kinnlade herunterklappte. Unser Kampf war für den Moment erstmal gegessen. Er starrte mich an, als hätte er mich plötzlich lieb gewonnen oder sowas. Dieses Mal konnte ich es nicht unterdrücken, ich erschauerte und bekam Gänsehaut unter diesem Blick.

„Ohhhh", stöhnte der Harlekin gedehnt. „Oh, das ist einfach fantastisch! Es wird immer besser! Es gibt also zwei von eurer Sorte. Wie… erfreulich" Wieder ließ er seine geweiteten Augen über mich schweifen und ich ließ die Energie, die ich aufgebaut hatte verpuffen. „Du bist also auch eine Freecss, wie mein spezieller kleiner Freund"

Urks. „Dein spezieller kleiner Freund ist mein großer Bruder", stellte ich klar und bevor er sich daran wieder so übertrieben hochziehen konnte, fügte ich hinzu: „Ich heiße Gwendolyn. Gwen, wenn du möchtest"

„Gwen…", wiederholte Hisoka und nickte, als ob er mit sich selbst sprechen würde. Ein leicht seliges abwesendes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als wäre er geistig schon nicht mehr anwesend. Ich versuchte den Würgereiz zu unterdrücken, der in mir hochkam, als ich diese gruselige Verträumtheit bemerkte. Und ich bemühte mich wirklich sehr, mir nicht auszumalen, was in seinem Kopf gerade vorging.

Ich streckte mich ausgiebig und dehnte ein paar verkrampfte Muskeln. „Also dann Hisoka, war nett dich mal kennenzulernen. Ich muss jetzt langsam los, zu Hause warten sie schon auf mich", sagte ich, während ich so tat, als wäre ich total entspannt.

„Mmmh. Wie schade", gab er zurück. „Gerade hat es angefangen Spaß zu machen. Du würdest nicht mal mit mir essen gehen, oder?"

WAS?! Dieses Mal glotzte ich ihn verblüfft an. „Ich bin ein bisschen jung, meinst du nicht?" Und schon bereute ich die Frage, als ich sein Grinsen sah.

„Oh, naja weißt du…", setzte er zu einer schnurrenden Antwort an, aber ich hielt schnell die Hand hoch und schüttelte den Kopf. „Ich glaub, ich will die Antwort gar nicht hören!" Und wahrscheinlich wäre es eine Antwort geworden, die er sowieso lieber nicht laut aussprechen sollte.

Mit einem letzten Blick zurück verschwand ich in den Baumkronen und konzentrierte mich auf Gon, Killua und Alluka, die jetzt schon ganz in der Nähe waren. Zu nah, für meinen Geschmack. Ich beschleunigte etwas, konnte aber ein ungläubiges Lächeln nicht unterdrücken. Mir ging es tatsächlich besser. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Hisoka mal diese Wirkung auf mich haben würde?