Kapitel 19: Killua
„Wir sind wieder da!" Der fröhliche Chor zweier Stimmen hallte gerade durchs Haus, als Mito und ich ratlos vor dem Ofen standen und versuchten zu erörtern, ob unser Abendessen nun gut war, oder nicht. Ich atmete erleichtert auf, denn die beiden hörten sich ausgelassen und glücklich an.
„Erst ins Bad!", rief Gons Tante bestimmend, bevor die beiden Jungs auf andere Ideen kommen konnten. Nur Augenblicke später waren laute Schritte auf der Treppe zu hören.
Wir beschlossen, das Essen noch drin zu lassen, bis die beiden fertig waren und ich half der Orangehaarigen dabei, den Tisch zu decken. Als wir oben Gekicher und Getrappel hörten, fingen wir langsam damit an, die Teller zu beladen und rauszutragen. Wie auf Bestellung kamen die zwei Chaoten natürlich genau dann ins Zimmer geplatzt, als wir gerade den letzten Teller auf seinen Platz gestellt hatten.
Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Perfektes Timing, Jungs. Abendessen ist fertig" Zumindest hofften Mito und ich, dass es fertig war.
Gon und Killua blieben wie angewurzelt stehen und starrten mich an, als hätte ich verkündet, dass ich eine Leiche loswerden müsste. Dann tauschten sie einen wirklich merkwürdigen Blick, den ich überhaupt nicht einordnen konnte und während Killua zwar leicht rot wurde, sich aber trotzdem auf seinen Platz setzte, hellte Gons Miene sich auf, bis er mir ein strahlendes Lächeln schenkte. „Wow, Gwen, du siehst wirklich hübsch aus!" Beinahe ließ ich den Wasserkrug fallen, aus dem ich mir gerade ein Glas einschenkte und heftete meinen Blick und jegliche Konzentration darauf, nicht auch noch was zu verschütten. „Danke", murmelte ich verlegen und aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mitos Mundwinkel verdächtig zuckten.
Während dem Essen tauschten wir uns darüber aus, wie unser Tag gelaufen war. Die Jungs waren wohl die meiste Zeit im Wald unterwegs gewesen und hatten geangelt und sogar ein paar Fuchsbären ausfindig gemacht. Mito und ich berichteten von unserem Bummel im Dorf.
„Wir haben übrigens festgestellt, dass deine zu engen Hosen mir ganz gut passen. Vielleicht kann ich demnächst deine Klamotten auftragen", sagte ich zu Gon, der sich sofort beleidigt den Bauch hielt. „Das sind alles Muskeln!", beharrte er und wir fingen alle an zu lachen.
„Und morgen machen wir zusammen ein Picknick und schlagen die Wassermelone auf", verkündete Mito fröhlich. Natürlich war keiner dagegen.
„Ehrlich, das war das erste Mal, dass ich Shoppen nicht ätzend fand. Normalerweise hasse ich das wie die Pest", gab ich zu und Mito grinste amüsiert. „Du bist wirklich ein ungewöhnliches junges Mädchen"
„Meine Rede", murmelte Killua und schob sich einen viel zu vollen Löffel in den Mund.
Verwirrt blinzelte ich. Er benahm sich die ganze Zeit schon so merkwürdig. Am Strand hatte ich mich schon gewundert. Hinterher hatte ich es auf Allukas Abschied geschoben, aber als er mit Gon über ihren tollen Tag im Wald gesprochen hatte, war er kurzzeitig wieder ganz der Alte gewesen. Hilfe suchend sah ich meinen Bruder an, aber der warf mir nur ein aufmunterndes Lächeln zu. „Bei den Möbeln helfen wir auf jeden Fall mit sie ab und wieder aufzubauen und herzubringen", versprach er und knüpfte damit bloß an die laufende Konversation mit seiner Tante an. Ich nickte schwach.
„Ich zeig dir später mal die Farbe, die ich ausgesucht hab", fügte ich noch hinzu, als der Schwarzhaarige seine Stirn leicht runzelte. Sofort verschwanden die Sorgenfalten wieder. „Super!"
Gesagt, getan. Dieses Mal ließen wir Killua Mito beim Abwasch helfen, was mich endgültig davon überzeugte, dass etwas nicht mit ihm stimmte und mein Bruder zerrte mich am Handgelenk hinter sich her in sein oder besser in unser Zimmer. Zunächst drängte er wirklich nur darauf, dass ich ihm die grüne Flasche mit der Wandfarbe zeigte und versicherte mir ein paarmal, dass sie ihm richtig gut gefiel. Als wir allerdings besprochen hatten, wie genau wir die Wände nun anlegen wollten, wurde er plötzlich ernst, stellte die Flasche auf seinem Schreibtisch ab und setzte sich im Schneidersitz auf die am Boden liegende Luftmatratze.
„Du, Gwen?"
„Hm?" Ich ließ mich ebenfalls aufs Bett fallen und zog die Knie an.
„Was ist denn da eigentlich mit Killua und dir?"
Unbehaglich wand ich mich und versuchte mein gerötetes Gesicht zu verbergen. „Wie kommst du denn jetzt darauf?"
„Keine Gegenfragen!", protestierte der Hunter entschieden.
Ich seufzte gequält. „Wir hatten ein Date", räumte ich schließlich ein. „Es war erst nur als eine Art Übung gedacht, weil noch keiner von uns ein Date hatte, aber dann hat Killua mich geküsst… und mich später auch zu einem zweiten Date eingeladen. Das hatten wir bisher aber nicht"
Mein Bruder nickte und stieß ein nachdenkliches Geräusch aus. „Er hat heute mit mir über dich gesprochen"
„Was?", platzte ich ungläubig hervor. Ich versuchte erst gar nicht, meine Überraschung zu verbergen. Das hätte ich Killua nie zugetraut.
Gon rieb sich den Hinterkopf. „Naja, eigentlich hat er mich bloß gefragt, was ich davon halten würde, wenn mein bester Freund mit seiner kleinen Schwester ausgehen würde. Hinterher hat er so getan, als wäre es ein Witz gewesen, aber ich bin ja nicht doof. Ich bekomme doch mit, wie er dich immer so anstarrt und dann feuerrot anläuft, deswegen wollte ich dich direkt mal fragen"
Mir blieb der Mund offen stehen. Da hatte er mich im Fitnessstudio noch ausgelacht und dann benutzte der kleine Angeber genau meine Worte, um mit Gon zu sprechen. „Das glaub ich doch wohl jetzt nicht!", empörte ich mich laut. „Und was hast du ihm geantwortet?"
Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Dass ich mit allem einverstanden bin, solange ihr glücklich seid, was sonst?" Dann stahl sich wieder ein schelmisches Grinsen in sein Gesicht. „Natürlich nur solange ihr mich nicht vernachlässigt. Ich will nicht das fünfte Rad am Wagen werden"
Ich grinste zurück. „Du? Das geht doch gar nicht" Wir lachten gemeinsam.
„Und magst du ihn? Killua?"
Diesmal zuckte ich mit den Schultern. „Ich glaub schon. Ich meine, ich bekomme Herzklopfen und alles, aber ich glaube nicht, dass wir schon… du weißt schon… so richtig ein Paar sind oder so"
„Mhh" Wieder nickte Gon.
„Wie geht's ihm denn?", fragte ich vorsichtig.
„Besser" Mein Bruder ließ sich zurückfallen und streckte die Beine aus. „Hat ganz schön lange gedauert ihn davon zu überzeugen, dass es richtig war, Alluka gehen zu lassen und ihr nicht zu folgen, um sie bei ihrem Training zu beobachten. Im Nachhinein hat Killua selbst zugegeben, dass er seinen Opa nicht hätte täuschen können"
Ich schnaubte. Bescheidenheit war auch nicht gerade seine Stärke. „Weißt du was, ich gehe uns einen Tee machen", beschloss ich. „Bis dahin ist Killua auch fertig mit Geschirr abtrocknen"
„Gute Idee"
Ich sprang auf und machte mich auf den Weg in die Küche. Auf halber Höhe der Treppe rannte ich beinahe in den Weißhaarigen hinein und er hielt mich kurz fest, damit wir nicht abstürzten.
„Hoppla, schon fertig? Ich wollte uns gerade noch einen Tee kochen" Mein Blick begegnete direkt seinem aus diesen unglaublich saphirblauen Augen und mein Herz setzte einen Schlag aus, als mir bewusst wurde, dass seine Hände auf meiner Hüfte lagen, um mich zu halten. Dann war der Augenblick vorbei und er ließ mich los. „Ich warte oben", gab er gelassen zurück und ich nickte, allerdings ließ er seinen Blick nochmal an mir hoch und wieder runter schweifen, bevor er an mir vorbei die Treppe weiter hochging.
Als der Tee endlich fertig war – es hatte gefühlte Stunden gedauert – balancierte ich das Tablett mit der Kanne und den Tassen nach oben und wollte vorsichtig gegen die Tür treten, damit sie mich hörten und aufmachten, aber dann überlegte ich es mir anders, als ich gedämpfte Stimmen hörte.
„Sei nicht so ein Feigling, Killua!", maulte Gon.
„Halt die Klappe, Blödmann!", schoss der Weißhaarige zurück.
„Aber sie mag dich", quengelte mein Bruder weiter. „Und sie macht sich Sorgen, wie es dir geht. Außerdem kann sie sich sehr gut daran erinnern, dass du sie um ein zweites Date gebeten hast, also wo ist das Problem?"
„Wa…? Gon, du… Du hast mit ihr geredet? Darüber?" Die Stimme des Attentäters überschlug sich fast, genau wie mein Puls. „Hast du sie noch alle?"
„Jetzt reg dich wieder ab. Ich hab doch sofort gemerkt, dass du da heute im Wald keinen Scherz gemacht hast. Ich bin mit Gefühlen nun mal besser als du" Der Ton des Schwarzhaarigen klang furchtbar gönnerhaft und siegessicher. „Und jetzt nimmst du die Decke und lädst sie gefälligst ein"
Als ich nur wütendes Schnauben hörte, sah ich meinen Moment gekommen. „Jungs, macht ihr mal auf?", rief ich laut und tat so, als wäre ich gerade erst die Treppe hochgekommen, als Gon die Tür aufriss. Er hatte immer noch sein triumphierendes Grinsen im Gesicht, als er mich ins Zimmer ließ. Ich stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. Killua stand mit verschränkten Armen vor dem Fenster und starrte nach draußen. Neben ihm auf dem Boden lag eine Wolldecke. Was sollte das denn?
„Alles in Ordnung?", fragte ich leicht ratlos und beobachtete meinen Bruder dabei, wie er uns einschenkte. „Bestens", erwiderte er gut gelaunt und drückte mir meine Tasse in die Hand.
Eine Weile saßen wir noch zusammen und tranken unseren Tee. Dabei entspannte sich auch Killua wieder ein wenig und ließ sich auf den Stuhl am Schreibtisch fallen. Wir unterhielten uns darüber, wie wir das Zimmer neu gestalten wollten. Killua und Gon wollten den Freunden von dem älteren Ehepaar helfen, die Möbel abzubauen, zu unserem Haus zu transportieren und bei uns wieder aufzubauen. Vollständig würden wir die Sachen nie im Leben bis hierher bekommen.
Nach einem Augenblick des Schweigens in dem Gon Killua langgezogene Blicke zugeworfen hatte, stand der Schwarzhaarige betont langsam auf, sammelte unsere Tassen ein und nahm das Tablett, um es wieder runter in die Küche zu tragen. Der Attentäter rubbelte sich übers Gesicht. „Manchmal hasse ich ihn!" Dann sprang er von seinem Stuhl auf, schnappte sich die Wolldecke mit der einen und mein Handgelenk mit der anderen Hand.
Bevor ich protestieren konnte oder wusste, was er vorhatte, zog mich der Weißhaarige die Treppe runter und zur Tür hinaus. Wir hielten nicht einmal an, um uns Schuhe anzuziehen. Er nahm mich einfach wortlos mit bis zum Strand hinunter, breitete die Decke im weichen Sand aus und bedeutete mir, mich zu setzen. Ich gehorchte und er ließ sich neben mich fallen.
Mittlerweile war es schon stockdunkel. Der Mond schien hell und silbern und spiegelte sich im nachtschwarzen Ozean. Tausende Sterne glitzerten neben ihm um die Wette. Eine sternenklare Nacht auf einer abgelegenen Insel am leeren Sandstrand. Ich lächelte in mich hinein. Wenn mir jemand vor ein paar Wochen erzählt hätte, ich würde einmal so einen Abend verbringen und jegliche romantische Klischees bedienen, ich hätte ihn für verrückt erklären lassen.
„Es ist noch viel schöner, als in der Stadt", hauchte ich und lehnte mich zurück, um den Himmel direkt über uns betrachten zu können. Die Wellen rauschten leise im Hintergrund und die Temperaturen waren so spät am Abend endlich abgekühlt und eine leicht salzige Brise wehte vom Meer zu uns rüber. Ich seufzte und entspannte mich, während ich meine Füße im noch aufgewärmten Sand vergrub.
„Wusste ich doch, dass dir das gefällt" Diesen Unterton in seiner Stimme kannte ich gut und dieses freche Katzengrinsen noch dazu. Er war mit sich und der Welt mehr als zufrieden, ich reagierte genau, wie er es geplant hatte und gleich würde irgendwas kommen, das mich hundertprozentig in Verlegenheit bringen würde.
Obwohl ich mich innerlich darauf vorbereitet hatte, quietschte ich überrascht, als Killua mir unter die Arme griff und mich in eine innige Umarmung zog. Er schlang von hinten die starken Arme eng um meine Mitte und durch den dünnen Stoff meiner neuen Klamotten konnte ich seine Körperwärme deutlich spüren, als er mich an seine Brust presste und ich mich mit dem Rücken an ihn lehnte. Ich bekam wieder Herzklopfen und genoss ausnahmsweise, wie mein Körper auf ihn reagierte. Es war dunkel und ich saß mit dem Rücken zu ihm, also konnte er auch meine brennenden Wangen nicht sehen.
„Wow", flüsterte er gedehnt direkt neben meinem Ohr. „Das fühlt sich echt an, als hättest du nichts an" Ich verschluckte mich beinahe und unterdrückte ein Husten, indem ich nach Luft schnappte. Mein Hirn war wie leergefegt und ich konnte nicht mal einen sarkastischen Kommentar abgeben. „Also ich würde sagen das hier gilt definitiv als zweites Date", setzte er nach. „Einverstanden", bestätigte ich atemlos und er ließ seinen Kopf auf meine Schulter sinken. Seine fluffigen weißen Haare streiften meinen Nacken und meine nackte Schulter und kitzelten mich. Killua atmete tief durch und ich konnte spüren, dass auch er sich merklich entspannte. „Mandarine…", seufzte er leise und ich schluckte den Kloß hinunter, der in meiner Kehle festsaß.
„K-Killua…?", stotterte ich und wollte mich zu ihm umdrehen, aber er hielt mich bloß noch fester und ich konnte seine Muskeln fühlen.
„Hast du eigentlich vor dich nochmal vor mir auszuziehen?", neckte er mich stattdessen und seine Stimme war locker um zwei ganze Oktaven nach unten gerutscht.
Schockiert riss ich mich von ihm los und versetzte ihm einen Stoß, sodass er im Sand landete. „Wie bitte?", rief ich und im Gegensatz zu ihm war meine Stimme viel zu schrill. „Spinnst du?" Ich warf eine Hand voll Sand nach ihm und er rappelte sich lachend auf, um vor meinem nächsten Schlag zu fliehen. Sofort war ich auf den Füßen und setzte ihm nach. „So eine Frechheit!", schimpfte ich.
„Ach, jetzt, wo ich dich darum bitte regst du dich plötzlich auf?", spottete er, aber seine blauen Augen glänzten und waren aufmerksam auf mich gerichtet. „Dabei dachte ich nachdem du schon in Unterwäsche schwimmen warst, würde es dir nichts ausmachen. Immerhin sind wir ja auch alleine"
Ich fing an zu lachen. Darum ging es also. „Das ist eine verdammt undurchdachte Rache, mein Freund", warnte ich ihn. „Bist du sicher, dass du bei deiner Bitte bleibst?" Mein Herz dröhnte laut in meiner Brust. Ich konnte mein Blut in meinen Ohren rauschen hören, aber ich fühlte mich aufgekratzt und fantastisch.
Killuas Grinsen wurde diabolisch. „Klar, wenn du schon so fragst", erwiderte er nonchalant und zuckte mit den Schultern. „Ich helf dir sogar, weil ich so gut drauf bin" Er kam wieder ein paar Schritte auf mich zu und ich konnte einfach nicht aufhören dämlich zu kichern.
„Das war undurchsichtige Sportunterwäsche, Killua. Hast du etwa noch nie ein Mädchen in einem Bikini gesehen? Selbes Prinzip", erinnerte ich ihn. Tatsächlich verhüllten einige Bikinis sogar weniger als meine Unterwäsche, aber das behielt ich für mich.
„Hey, ich geb dir vollkommen Recht. Und was für ein Glück, dass wir gerade am Strand sind, wo du doch so gerne schwimmst. Diesmal komm ich sogar mit, versprochen" Der Weißhaarige machte sich immer noch über mich lustig, aber diesmal grinste ich hinterlistig.
„Wie gesagt, du hast nicht bis zum Ende gedacht", wiederholte ich. „Ich trage Klamotten aus ziemlich dünnem, hellem Stoff, Killua. Glaubst du wirklich darunter könnte ich diese grobe und noch dazu schwarze Sportunterwäsche ziehen? Was glaubst du wohl, was ich da drunter hab, hm?" Wie zur Verdeutlichung schob ich einen Daumen unter meinen blütenweißen BH-Träger, der sogar ziemlich gut neben den dünnen Trägern des Tops zu sehen war und hob ihn ganz leicht an. Dann legte ich den Kopf schief und wartete geduldig, bis es in seinem Oberstübchen fertig gerattert hatte.
Den Augenblick, in dem er seinen eigenen Fehler erkannt hatte, bemerkte ich sofort. Er riss die Augen auf und blieb abrupt stehen. Wie vorhin auf der Treppe glitt sein Blick komplett über mich. Ich konnte nicht sehen, ob er rot wurde, weil es so dunkel war und er ein paar Schritte von mir entfernt stand, aber ich registrierte sehr wohl, wie er jeden Zentimeter von mir mit seinem Blick abtastete.
„Und, willst du mir immer noch helfen?", fragte ich und tat damit mutiger, als ich wirklich war.
Killua kam wieder näher, langsamer diesmal, als könnte ich vor ihm weglaufen. Ich hielt den Atem an. Was sollte ich machen, wenn er nicht nein sagte? Was sollte ich machen, wenn das Ganze ernster wurde? Mir drehte sich der Kopf. Als er dann wieder direkt vor mir stand, sah ich nervös zu ihm auf und stellte wieder einmal fest, dass er größer war als ich und dass ich ihn wahnsinnig attraktiv fand mit diesen Muskeln und den unordentlichen weißen Haaren. Allerdings half mir das irgendwie nicht.
Er streckte eine Hand nach mir aus und ließ eine schwarze Haarsträhne durch seine Finger gleiten. „Wenn ich jetzt nicht `nein´ sage, haust du mir dann eine runter?"
Ganz langsam bekam ich es tatsächlich hin, meinen Kopf zu schütteln und mich gleichzeitig dafür zu verfluchen. Hatte ich jetzt echt vor, mit ihm rumzumachen? „Ich hatte nicht vor, dir eine Ohrfeige zu verpassen", antwortete ich ehrlich und war so dankbar dafür, dass meine Stimme nicht zitterte.
Der Weißhaarige ließ meine Haarsträhne wieder fallen und sah mir in die Augen. „Also macht es dir nichts aus…?" Er fuhr sich mit einer abgehackten Geste selbst durch die Haare und versuchte den Satz erfolglos zu Ende zu bringen.
Machte es mir was aus, dass er mich ausziehen wollte? Wenn man mal von der drohenden Herzattacke und dem Schwindelgefühl in meinem Kopf absah und von dem ganzen Adrenalin, das gerade durch meine Adern pulsierte, nö, kein Bisschen.
„Nicht, dass ich es deswegen einfach machen würde, weißt du", versuchte er die Situation zu retten, machte es für mich aber nur noch schlimmer. Ich hatte ihn noch nie unsicher erlebt und das hier war ziemlich nah dran. „Aber, naja, der Gedanke war eben da…", gab er zu.
Ich räusperte mich und versuchte mich an einem kleinen Lächeln. „Du versuchst aber nicht gerade zu bewirken, dass ich vor lauter Herzklopfen ohnmächtig werde oder sowas? Damit ich dir in die Arme falle und du den Retter in glänzender Rüstung spielen kannst? Sowas zieht nämlich bei mir überhaupt nicht" Gelogen. Sowas von gelogen. Ich würde mich von ihm überallhin tragen lassen. Und dabei würde ich wahrscheinlich in seinen Armen schmelzen wie Eis in der Sonne. Es war also amtlich, dass ich bis über beide Ohren in diesen blöden Angeber verknallt war, aber sollte ich ihm das auch einfach so sagen? Und vor allem, wie? Einfach gerade heraus? In dieser Situation vielleicht nicht gerade die beste Idee.
Das altbekannte Grinsen kehrte zurück in Killuas Gesicht. „Verdammt, du hast meinen heimtückischen Plan durchschaut" Er nahm meine Hände in seine und drückte sie. Mein Lächeln wurde breiter und ich war erleichtert, dass er sich nicht mehr so unbehaglich fühlte. Ich drückte zurück.
„Okaaaay…", seufzte der Attentäter schließlich. „Also fangen wir mit dem schwierigen Teil nochmal von vorne an. So hatte ich das eigentlich nicht geplant!"
Um Himmels Willen, Gwen, jetzt sein einmal in deinem Leben mutig! Ich wollte es ihm ja wirklich nicht so schwer machen, also schloss ich kurz die Augen, atmete tief ein und wieder aus und küsste ihn einfach. Dafür musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und mich an seinen breiten Schultern festhalten, aber ich presste meine Lippen fest auf seine und hinderte ihn damit recht erfolgreich daran, weiter zu reden.
Erst gab der Weißhaarige bloß ein überraschtes Geräusch von sich, das sich aber bald in ein wohliges Seufzen und schließlich in ein Stöhnen verwandelte. Er erwiderte meinen Kuss und zog ungeduldig an mir, also schlang ich ihm die Arme um den Hals und schmiegte mich an ihn. Allerdings schien ihm das nicht zu genügen, denn plötzlich verloren meine Füße den Kontakt zum sandigen Untergrund und ein Arm lag um meine Taille, während die andere Hand meinen Rücken hoch wanderte. Es dauerte eine Weile, bis ich durch die ganzen Glückshormone hindurch begriff, dass sich seine Hand tatsächlich unter meinem Oberteil befand.
Ich hatte die Augen geschlossen und mein Herz raste. Ein leises Wimmern stieg in meiner Kehle empor und Killua intensivierte unseren Kuss noch etwas weiter. Er war hungrig und leidenschaftlich und ich spürte tief in mir, wie ein ähnliches Feuer entfacht wurde und immer heißer brannte, je länger dieser Augenblick dauerte.
Als er mich vorsichtig wieder im Sand absetzte und sich mehr als bloß widerwillig von mir löste, drohten meine Knie einzuknicken. Wir atmeten beide viel zu schnell und ich hielt mich tatsächlich lieber an dem Weißhaarigen fest, was ihn prompt dazu veranlasste, wieder einen Arm um meine Hüfte zu legen. Seine blauen Augen leuchteten und waren riesig und sein weißes Haar erschien im Mondlicht silbern. Dieses Mal war sein Lächeln ehrlich und warm und hatte nichts von Selbstgefälligkeit. Obwohl, vielleicht ein kleines bisschen, nachdem ich den ersten Schritt ja getan hatte.
„Gwen?" Seine Stimme klang rau und leicht fremd. Ich begegnete seinem Blick. „Gehörst du zu mir?"
Was gab es da noch groß zu überlegen? Ich schenkte Killua mein schönstes Lächeln. „So lange du möchtest"
„Immer", war seine Antwort.
