Kapitel 2: Iori – Iris & Vergissmeinnicht
Als ich aufgeregt von der Bushaltestelle nach Hause lief, wunderte sich Yusuke darüber, wie aufgekratzt ich schon den ganzen Tag war.
„Sag mal, ist heute irgendwas Besonderes?", fragte er schließlich, weil ich angefangen hatte, auf und ab zu hüpfen.
„Meine Bestellung müsste heute ankommen", antwortete ich wahrheitsgemäß. „Iori hat mich doch gebeten, auf seine Blumen aufzupassen und da alle Beete von ihm schon restlos bepflanzt wurden, habe ich mir zwei große Kästen liefern lassen, in denen ich neue Beete anlegen möchte"
„Ich wusste ja gar nicht, dass du Gartenarbeit so magst", antwortete Yusuke ehrlich überrascht.
„Ich mochte Blumen eigentlich schon immer. Mit Gartenarbeit selbst kenne ich mich leider nicht so gut aus, aber seit Iori mich gebeten hat, habe ich mir viel angelesen. Ich hatte wirklich ganz schön Angst, dass mir seine ganzen Blumen wegsterben, bis er wieder da ist", erklärte ich Yusuke, als wir endlich in unserem Hof ankamen, in dem in der Mitte der wunderschöne große Baum stand.
Masaomi, unser ältester Bruder kam gerade auf uns zu und winkte freundlich. „Ema, hast du wirklich zwei große Blumenkästen bestellt? Ich hatte es für einen Irrtum gehalten"
„Ja, das sind meine. Sind sie etwa schon angeliefert worden?", fragte ich hoffnungsvoll. Masaomi nickte und ich klatschte begeistert in die Hände. „Klasse, dann kann ich gleich losgehen und die Blumen besorgen"
„Soll ich dir beim Tragen helfen?", bot Yusuke mir an, was ich dankend annahm.
„Ihr solltet erstmal rein gehen, euch umziehen und etwas essen, bevor ihr gleich wieder Pläne schmiedet", lachte Masaomi. „Aber schön zu sehen, dass du dich gerne um die Blumen kümmerst. Solltest du bei irgendwas noch Hilfe benötigen, lass es mich wissen"
Und damit verschwand er als Erster im Haus. Yusuke und ich folgten ihm in einigem Abstand und sprachen über ein Thema, das wir heute im Unterricht neu angefangen hatten.
Nach einem recht einsamen Mittagessen, weil irgendwie niemand sonst zu Hause zu sein schien, schleifte ich Yusuke in den nächstgelegenen Blumenladen und erklärte der freundlichen Verkäuferin genau, was ich gerne hätte. Sie nickte ein paarmal, lächelte unentwegt und kam schließlich mit meinen ausgesuchten Blumen zurück.
So vorsichtig wie möglich beförderten wir die zum Schutz eingepackten Pflanzen zurück zu unserer Wohnanlage. Als Yusuke mich fragte, ob er mir noch irgendwas helfen könnte, schüttelte ich nur den Kopf.
„Lieb von dir, aber Erde und Farbe habe ich schon im Voraus besorgt" Ich schenkte ihm ein Lächeln und er wurde rot bis an die Ohren. „Geh mal lieber und versuch rauszufinden, ob du die Matheaufgaben verstehst, die wir morgen besprechen wollen"
Damit schien ich ihn an etwas erinnert zu haben, denn er rannte mit einem „Oh, verdammt" wie der Blitz ins Treppenhaus und war dann nicht mehr zu sehen.
Die Erde in die Kästen zu bekommen war doch eine anstrengendere Aufgabe, als ich angenommen hatte. Ächzend wuchtete ich die Säcke in den Innenhof und beschloss dann, die Erde lieber hinein zu schippen, statt zu versuchen den ganzen Sack auf einmal auszuleeren. Zum Glück funktionierte diese Taktik ganz gut. Trotzdem kam ich ganz schön in Schwitzen und meine Klamotten waren schnell schwarz und braun beschmiert.
Gut, dass ich alte Sportklamotten angezogen hatte, bevor ich mit der Arbeit angefangen hatte. Meine Haare hatte ich zu einem festen Knoten nach oben gebunden, damit sie mich nicht störten.
In einen der Kästen pflanzte ich ein ganzes Beet an Iris. Die Blume hatte mir Iori geschenkt, damit sie mir für meine Abschlussprüfung an der High-School Glück brachte. Ich hatte mir überlegt, dass Iori im Auslandsstudium bestimmt auch schwierige Prüfungen schreiben und sehr viel lernen musste, also wollte ich den Gefallen erwidern.
Der andere Kasten war für Vergissmeinnicht bestimmt. Zum Abschied hatte mir mein Bruder einen kleinen Topf davon gezeigt und anvertraut. Um sie sollte ich mich in seiner Abwesenheit besonders kümmern. Also setzte ich vorsichtig die zarten Blumen aus dem Topf in den Kasten und setzte die neu gekauften Blumen dazu, um ebenfalls ein komplettes Beet anzulegen. Ich würde ihm ganz deutlich zeigen, dass ich ihn bestimmt niemals vergessen würde, egal wie weit und wie lange er weg war.
Irgendwann, als ich schon ziemlich erschöpft auf dem Fußboden saß und mit einem kleinen Pinsel die Holzkästen in allen möglichen fröhlich bunten Farben anstrich, gesellte sich Juli zu mir nach draußen und lobte mich für meine harte Arbeit. Natürlich passte es ihm nicht, dass es für einen meiner Brüder gedacht war, aber immerhin runzelte er bloß die Stirn und dachte sich das nur, statt es laut auszusprechen.
Als ich den zweiten Kasten beinahe fertig bemalt hatte, hörte ich Schritte hinter mir und dann ein Geräusch, das irgendwie überrascht, aber auch leicht amüsiert klang.
„Was machst du denn da unten?"
Sofort sprang ich auf die Füße und drehte mich um. Da stand Natsume vor mir, mit einem braunen Couvert in der Hand und grinste etwas schief. Und ich war mit Erde und Farbklecksen beschmiert, ein paar Strähnen hatten sich aus meiner Frisur gelöst, ich trug alte Sportklamotten und war ziemlich verschwitzt.
„Natsume!", rief ich ganz verlegen, weil es mir irgendwie peinlich war, wie er mich jetzt sah. Natürlich stutzte er. Wir hatten uns lange nicht gesehen und er hatte die Veränderung in meiner Ansprache noch nicht mitbekommen. „Die sind für Iori gedacht", erklärte ich schnell, um ihn abzulenken.
„Schade, dass er sie erstmal gar nicht zu Gesicht bekommen wird. Die sind gut geworden", bemerkte er und kam auf mich zu. Juli fauchte ihn an, aber ihn beachtete der Orangehaarige nicht. „Das hier wollte ich dir bringen" Er hielt mir den Umschlag hin und ich nahm ihn vorsichtig entgegen.
„Ich habe vor ein paar Fotos zu machen und per Mail zu schicken", erklärte ich und Natsume nickte verstehend. „Ist das wieder ein neues Spiel?"
„Eins, von dem ich sehr überzeugt bin. Sag mir, was du davon hältst, wenn du durch bist"
„Vielen Dank, Natsume", sagte ich fröhlich. Es würde mal wieder Zeit werden, eine ganze Nacht durch zu zocken.
Er lächelte mich an und streckte eine Hand aus, um über meine Wange zu streichen, was bei mir wiedermal ein heißes Brennen auf eben diesen auslöste. „Gern geschehen"
Ich sah ihm noch eine Weile hinterher, wie er durch den Hof davonlief. Das durfte doch nicht wahr sein! Irgendwie musste man das doch in den Griff bekommen oder nicht? Gab es denn keine Möglichkeit diese Nervosität und Verlegenheit endlich loszuwerden?
Trotzig schüttelte ich mich und malte den Kasten fertig an. Ich würde eine Lösung finden! Vielleicht hatte Hikaru ja doch Recht. Ich musste mich eventuell einfach daran gewöhnen. Oder meine innere Einstellung gründlich überdenken. Was fühlte ich da eigentlich überhaupt?
Seufzend betrachtete ich mein vollendetes Werk und war richtig stolz. Natsume hatte Recht. Die Kästen waren richtig gut geworden. Ich machte einige Fotos und hob dann Juli und mein neues Spiel auf, um zurück in mein Zimmer zu gehen. Ich brauchte eine Dusche und ich wollte gleich die Mail an Iori fertig machen.
Gesagt, getan. Ich saß vor meinem Laptop, bis Ukyo an meine Tür klopfte, um mich ans Abendessen zu erinnern. Gerade war ich mit meinem kurzen Text fertig geworden und hatte alle Fotos von den Kästen und auch von den übrigen Beeten angehängt. Nach der üblichen Begrüßung und den Fragen, wie es ihm ging und was er so anstellte im Ausland, erzählte ich ihm ein bisschen von meinen neuen Eindrücken im College und ein paar schöne Anekdoten von seinen Geschwistern. Kurz gesagt, uns ging es allen gut und alles lief wie immer. Dann wünschte ich ihm ganz viel Glück für seine Prüfungen und bedankte mich nochmal, dass er dasselbe für mich auch gemacht hatte. Hoffentlich verstand er, dass sich das auf die Iris bezog, wenn er sich die Bilder ansah.
„Ich komme", rief ich nach draußen und klickte auf `senden´, bevor ich mich an den Esstisch gesellte.
Nachdem ich die Mail verschickt hatte, vergingen ein paar Wochen, ohne dass eine Antwort kam. Irgendwann dachte ich schon gar nicht mehr darüber nach. Bestimmt hatte Iori gerade sehr viel Stress. Ich hoffte nur, dass er sich nicht überarbeitete oder sich vielleicht sogar einsam fühlte. Immerhin war er eine Großfamilie gewohnt, auch wenn er sich oft und gerne zurückgezogen hatte.
Als ich allerdings irgendwann vom College mit Yusuke im Schlepptau zurück nach Hause kam, wartete im Wohnzimmer eine wirklich wunderschöne Überraschung auf mich. Auf dem Tisch stand eine schlichte weiße Vase und darin befand sich ein riesiger Strauß verschiedener bunter Blumen, der einen herrlichen Duft verströmte.
Meine Brüder hatten sich darum versammelt und betrachteten ihn eingehend. Masaomi hatte eine hübsch verzierte Karte in der Hand und Tsubaki versuchte gerade, sie ihm zu stibitzen, als wir die Tür herein kamen.
„Boah, ist der riesig!", entfuhr es Yusuke, als er den Strauß entdeckte.
„Ah, da bist du ja", begrüßte mich Masaomi lächelnd und kam zu mir herüber. „Hier, bitte. Die ist für dich" Er überreichte mir die Karte, die er vor Tsubaki in Sicherheit gebracht hatte. „Der Strauß ist heute für dich angekommen. Er wurde von einem japanischen Onlinedienstleister hier abgegeben"
„Für mich?" Ich riss die Augen auf und staunte nicht schlecht. „Aber wer schickt mir denn so einen großen Strauß Blumen?"
„Das würde ich auch mal gerne wissen", brummte Yusuke neben mir und sah recht missmutig aus.
„Wie wär's, wenn du uns die Karte vorliest, damit wir es alle erfahren?", schlug Tsubaki in einem total übertrieben unschuldigen Tonfall vor, was ihm mal wieder eine Kopfnuss von Azusa einbrachte.
„Du benimmst dich unmöglich!", schimpfte der. Ukyo seufzte und nickte dazu nur.
„Ach ja, als wärst du nicht mindestens genauso neugierig, wie ich", protestierte der Weißhaarige.
„Onee-chan, dürfen wir wissen, wer es war?", fragte Wataru mit seinen riesigen leuchtenden Augen.
„Wataru!", tadelte Masaomi sofort und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
Hikaru saß am Tisch mit einem Glas Rotwein und beobachtete wie immer schweigend die ganze Szene. Natürlich hatte er ein Lächeln aufgesetzt und zwinkerte mir zu, als ich ihm einen verstohlenen Blick zuwarf.
„Chii-chan, keine Sorge. Mach sie ruhig auf. Wir werden auch verstehen, wenn du es uns nicht sagen möchtest", versuchte Rui mich zu beruhigen. Auf seiner Schulter saß Juli, der den Strauß anfauchte und schimpfte. Ich versuchte ihn auszublenden, damit ich ihm nicht antwortete, so wie ich es vor anderen Leuten immer tat. Mit ihm zu sprechen hatte mir schon eine Menge merkwürdiger Blicke eingehandelt.
Ich nickte etwas verwirrt und klappte die zartlila Karte auf. Darin stand mit einer sehr schönen Handschrift geschrieben: „Vielen Dank, dass du in Gedanken immer bei mir bist. Ich habe mich sehr über die Glückwünsche gefreut und denke schon jetzt an unser nächstes Wiedersehen"
Da machte es endlich klick und ich kapierte, was das sollte. „Die sind von Iori", rief ich glücklich. Die Mail hatte ihn also erreicht und als Antwort hatte er mir über das Internet Blumen geschickt, weil er natürlich aus dem Ausland keine eigenen schicken konnte. Ich zeigte den anderen die Karte mit dem kurzen, aber wirklich sehr hübsch geschriebenen Gruß. „Als Antwort auf meine E-Mail"
Ausnahmslos alle schienen überrascht zu sein von dieser Aktion. Scheinbar hätte keiner seiner Brüder Iori so etwas zugetraut. Ich für meinen Teil freute mich, noch jemanden glücklich gemacht zu haben. Meine Idee schlug doch ganz gute Wege ein. Lächelnd betrachtete ich den Strauß von allen Seiten und roch daran.
Einstimmig wurde beschlossen, dass die Vase auf unserem Esstisch als Deko stehen bleiben würde. Für mein eigenes Zimmer war das Ganze dann doch etwas zu groß und so hatten alle etwas davon in Ioris Abwesenheit. Lediglich die Karte nahm ich mit in mein Zimmer und stellte sie auf meinen Schreibtisch.
In dieser Nacht schlief ich glücklich und zufrieden mit mir und der Welt tief ein. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass ich das Richtige tat.
